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N° 84, Nerven

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Germany’s most wanted

30 Jahre lang suchten die Ermittler erfolglos nach drei ehemaligen Mitgliedern der RAF. Anfang 2024 leiteten sie mal wieder mal eine öffentliche Fahndung ein und fanden: Daniela Klette. Nun träumen sie von weiteren Zugriffen

Von Michael Sontheimer; erschienen in DUMMY Nr.71 zum Thema „Luft“ im Juni 2021; neu editiert am 27.02.2024

Wie jeder ordentliche deutsche Verein besitzt die Rote Hilfe, eine linke Hilfsorganisation für politische Gefangene, eine Mitgliederzeitschrift. In der „Roten Hilfe Zeitung“ hieß es im Jahr 2016: „Daniela, Burkhard und Volker: Wir wünschen Euch viel Kraft und Lebensfreude. Lasst es Euch gutgehen … und lasst Euch nicht erwischen.“ 

Es ist nicht klar, ob Daniela Klette, heute 65, Burkhard Garweg, 55, und Volker Straub, 69, die guten Wünsche damals zur Kenntnis genommen haben – oder wie es ihnen geht und wie es um ihre Kraft und Lebensfreude bestellt ist. Klar ist nur: Erwischen lassen haben sie sich noch immer nicht, die drei ehemaligen Mitglieder der Roten Armee Fraktion, RAF. Seit sie Ende der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts in den Untergrund gingen, sind und bleiben sie verschwunden.

Das Bundeskriminalamt ließ das Trio im Mai 2020 auf die Liste der „Europe’s most wanted“ von Europol setzen. Eine „Belohnung bis zu 80.000 Euro“ ist für Hinweise ausgesetzt, die zu ihrer Verhaftung führen. Vorgeworfen wird ihnen „versuchter Mord in Zusammenhang mit Raubüberfällen“. Das Landeskriminalamt Niedersachsen warnt: „Nicht an die Personen herantreten. Diese könnten bewaffnet sein.“ 

Zu irgendwelchen gefährlichen Begegnungen kam es allerdings bisher nicht. Die mit aktuellen Fotos von Überwachungskameras garnierten Fahndungsaufrufe führten zu mehr als hundert Hinweisen, doch eine heiße Spur war nicht dabei. 

Da sich die RAF wegen andauernder Erfolglosigkeit im April 1998 aufgelöst hat, prägten Journalisten für die mutmaßlichen Räuber das launige Wort von den „RAF-Rentnern“. Die ehemaligen Terroristen haben keinen anständigen Beruf erlernt, aber müssen ihren Lebensunterhalt verdienen. Also ziehen diese Terror-Rentner – so die journalistische Erzählung – munter durch Norddeutschland und erbeuten bei bewaffneten Überfällen auf Supermärkte und Geldtransporter Millionen, um sich einen Lebensabend im Luxus zu finanzieren. Bei solchen Überfällen fragten Journalisten stets: Waren es wieder die RAF-Rentner? 

Und wo sind die drei denn? Wie konnte es ihnen gelingen, sich in Luft aufzulösen? Wo halten sie sich versteckt? Wie lässt es sich mehr als drei Jahrzehnte lang phasenweise intensiver Fahndung entkommen? Und wer sind die Verschwundenen überhaupt? 

Volker Staub, 1954 in Hamburg geboren, studierte unter anderem Jura und schloss sich 1983 der RAF an, nachdem Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt von der zweiten RAF-Generation verhaftet worden waren und die Gruppe mal wieder am Ende war. Doch die Aufbaugruppe stellte sich furchtbar dilettantisch an. Nachdem einem von ihnen in einer konspirativen Wohnung in Frankfurt versehentlich eine Pistole losgegangen war, nahm die Polizei sechs RAF-Leute fest, die sich in einer Kammer versteckten und keinen Widerstand leisteten; unter ihnen Staub.

Er wurde 1986 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, unerlaubten Waffenbesitzes und Fälschung eines Reisepasses zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung hielt er sich in Hamburg und Berlin auf, doch im Frühjahr 1990 ging er erneut in den Untergrund. 

Alles sehr unklar: So sah Staub früher mal aus

Daniela Klette, 1958 in Karlsruhe geboren, wurde in den 1970er-Jahren Linksradikale und lernte bei der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe in Wiesbaden Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams kennen, das spätere Führungspaar der dritten RAF-Generation. Ende 1989 ging sie in den Untergrund. Zuvor war sie als RAF-Sympathisantin achtmal erkennungsdienstlich behandelt worden. In einem Auto, das RAF-Mitglieder für einen Anschlag im Februar 1991 auf die US-Botschaft in Bonn einsetzten, fanden sich DNA-Spuren von Klette. 

Burkhard Garweg wurde 1968 in Bonn geboren, in dem Jahr, in dem Andreas Baader und Gudrun Ensslin und zwei Genossen mit dem Brandanschlag auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt/Main die Spirale der Gewalt in Gang setzten, die zur RAF und 28 Jahren des terroristischen bewaffneten Kampfes führte. Garweg radikalisierte sich bei der Schülerzeitung „Clinch“ und in den besetzten Häusern in der Hamburger Hafenstraße, wo Ex-RAF-Mitglieder und Unterstützer ein und aus gingen. Hier soll er Daniela Klette und Volker Staub kennengelernt haben. Garweg brach die Schule ab, verschwand vom Radar der Ermittler und schloss sich Ende 1989 der RAF an. 

Die drei waren das letzte Aufgebot der RAF, die mit der Befreiung von Andreas Baader erstmals im Mai 1970 in Erscheinung getreten war. Schon im Deutschen Herbst 1977 hatten Bundeskanzler Helmut Schmidt und seine Regierung die nie wesentlich mehr als dreißig Mitglieder starke Gruppe niedergerungen, doch sie wollte einfach nicht aufgeben und mordete weiter. 

Die dritte Generation begann am 1. Februar 1985 mit Anschlägen auf Repräsentanten des imperialistischen Systems: Ein bis heute unbekanntes RAF-Paar erschoss den Manager Ernst Zimmermann in seinem Haus in Gauting, südlich von München. Zimmermann war Geschäftsführer der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), die etwa die Hälfte ihres Umsatzes mit der Produktion von Waffen machte. 

Neun weitere Tote gehen noch auf das Konto der dritten RAF-Generation, darunter der Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts, der Diplomat Gerold von Braunmühl, der Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen und zuletzt, im April 1991, der Direktor der Treuhandanstalt Detlef Rohwedder. 

Die Ermittler der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts haben nicht aufklären können, an welchen RAF-Aktionen die drei Verschwundenen beteiligt waren. Im Gegensatz zur ersten und zweiten Generation der RAF diente sich von der dritten Generation niemand als Kronzeuge an oder belastete mit Aussagen andere Mitkämpfer. Sie schweigen alle, bis heute. Die Ermittler konnten von zehn Morden der dritten Generation nur zwei einigermaßen aufklären. Eine miserable Bilanz, ja eine Schande.

Auch verfügen die Strafverfolger nur über magere kriminalistische Erkenntnisse zu den drei Verschwundenen. Sie fanden DNA-Spuren von ihnen bei der Suche nach den Mitgliedern des RAF-Kommandos, das Ende März 1993 ein Gefängnis im hessischen Weiterstadt in die Luft gejagt hatte. Es hatte furchtbar gerumst damals, 200 Kilogramm gewerblicher Sprengstoff hatten das als Musteranstalt geplante Gefängnis in eine Ruine verwandelt, fünf Tage vor der Einweihung. Sachschaden: 123 Millionen D-Mark. Der Angriff auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt war die letzte Aktion der RAF, aber es dauerte noch mehr als fünf Jahre, bis sich die Gruppe am 20. April 1998 offiziell auflöste.

Mit der RAF verschwanden auch Klette, Staub und Garweg aus den Medien. In den Zeitungen tauchten ihre Namen 1999 wieder auf, nachdem Unbekannte in Duisburg-Rheinhausen einen Geldtransporter überfallen und mehr als eine halbe Million Euro erbeutet hatten. Waren das Ex-RAF-Leute, denen das Geld auszugehen drohte? Klare Beweise fehlten.

Die drei Fragezeichen erschienen erst sieben Jahre später wieder. Im Sommer 2016 stellten Polizisten bei zwei gescheiterten Überfällen auf Geldtransporter in Niedersachsen DNA-Spuren von ihnen sicher. Und bei einem Überfall auf einen Geldtransporter vor dem „Dänischen Bettenlager“ in Cremlingen bei Braunschweig im Juni 2016, bei dem zwei Männer und eine Frau, mit einer Panzerfaust und Automatikgewehren bewaffnet,mehr als eine Million Euro erbeutet hatten.

Bertolt Hunger, Dokumentar beim „Spiegel“, hat mehr als ein Dutzend Überfälle analysiert, die dem Trio von der Polizei angelastet wurden. Mindestens drei wurden den Verschwundenen zu Unrecht zugeschrieben, fand er heraus. Bei anderen hingegen lassen sich ähnliche Tatmuster erkennen. So stahlen die Verschwundenen ihre Fluchtfahrzeuge nicht mehr, wie es bei der RAF lange üblich war, sondern kauften Gebrauchtwagen. Diese Fahrzeuge versuchten sie nach den Überfällen schnell zu verbrennen, um keine Spuren zu hinterlassen – was nicht immer funktionierte. Alle Überfälle verübten sie in Niedersachsen oder in Schleswig-Holstein. 

Gegen Daniela Klette ermittelte das Bundeskriminalamt schon zu ihrer aktiven Zeit bei der RAF – wegen versuchten Mordes und wegen eines Anschlags, den die RAF drei Monate nach der Ermordung des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen beging. Ziel war erneut die Deutsche Bank, diesmal ihr Rechenzentrum in Eschborn. Unbekannte RAF-Mitglieder parkten einen VW Golf davor, vollgepackt mit Sprengstoff. Da der Zeitzünder versagte, blieben Haarspuren im Auto erhalten, die analysiert werden konnten. Sie stammten von Klette.

Wegen der bewaffneten Raubüberfälle wird auch den beiden verschwundenen Ex-RAF-Männern inzwischen versuchter Mord vorgeworfen. Das kann lebenslängliche Haft nach sich ziehen, mindestens fünfzehn Jahre hinter Gittern. 

Was nicht zu dem Bild der eiskalten Killer passt: Mehrere RAF-Mitglieder der dritten Generation pflegten ein inniges Verhältnis zu ihren Eltern, die wiederum ihre Kinder mit der Gruppe „Angehörige der politischen Gefangenen in der BRD“ unterstützten. Spätestens seit dem Frühjahr 1992 hatten Burkhard Garwegs Mutter Maria und seine Schwester Mechthild Kontakt mit der Mutter von Birgit Hogefeld. Sie trafen sich klandestin. 

Marianne Hogefeld, von der die Ermittler Briefe an ihre Tochter beschlagnahmen konnten, nannte darin die Hamburgerin Maria Garweg „die Mutter aus dem Norden“. Mitte Mai 1992 schrieb Marianne Hogefeld einen Brief an ihre Tochter, in dem es heißt: Die „Schwester vom Norden“ habe ein „Bild geschickt, wie die Wand in der Hafenstraße neu bemalt werden soll und eine Broschüre vom Hafen/Hafenrand, an der die Eltern mit Leuten vom Hafen zusammengearbeitet haben.“

Die Eltern von Burkhard Garweg wiederum setzten sich für die Kurden und die PKK ein. Sein Vater, ein Medizinprofessor und Arzt, organisierte als Vorsitzender der Kurdistan-Hilfe humanitäre und materielle Hilfe für kurdische Kämpfer. Die Kurdenorganisation, die seit mehr als vier Jahrzehnten gegen das türkische Militär kämpft, wurde bei den Anhängern des bewaffneten Kampfs in Deutschland zum Ersatz für die vietnamesischen Kommunisten, antizionistischen Palästinenser und die Sandinisten in Nicaragua – die Vorbilder und Partner der ersten beiden RAF-Generationen. 

Im März vergangenen Jahres durchsuchte das LKA Wohnungen von Garwegs Geschwistern und Eltern und fand dabei Hinweise – sprich Briefe – , dass die Familie zum untergetauchten Burkhard Garweg Kontakt gehalten hat. Neuere Erkenntnisse sollen zudem darauf hinweisen, dass sich das RAF-Trio von 1999 bis 2016 in Deutschland aufhielt – für die Ermittler eine weitere niederschmetternde Erkenntnis. Anscheinend sahen sich die RAFler nicht mal bemüßigt, im Ausland unterzutauchen, wie bislang vermutet wurde.

Bei der Verfolgung der dritten Generation der RAF, daran kann kein Zweifel bestehen, sind die Ermittler umfassend gescheitert. Zuletzt fanden sie im September 1985 eine konspirative RAF-Wohnung in Tübingen, dreizehn Jahre vor der Auflösung der Gruppe. 

Gibt es ein Leben nach der RAF? Auf jeden Fall, wie die Verschwundenen zeigen. Aber solange noch Ermittlungsverfahren offen sind, ist es nicht wirklich geruhsam. Das Leben in der Illegalität kostet Nerven und ist teuer. 

Zumindest müssen die Verschwundenen nicht so bald wieder das hohe Risiko eines bewaffneten Überfalls auf sich nehmen. Bei ihrem geglückten Coup Ende 2015 in Cremlingen haben sie mehr als eine Million Euro erbeutet. Das dürfte für eine Weile reichen. 

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