Der verfaulte Neonazi
Einen schönen Komposthaufen anlegen? Klingt erstmal harmlos. Aber bei unserer Autorin war von Anfang an der Wurm drin
Von Stefanie de Velasco; Illustrationen: Frank Höhne
Der Wurmwunsch kam gefühlt aus dem Nichts. Ähnlich wie der Prozess des Kompostierens bleibt er mir ein Stück weit verborgen. Dass er sich parallel zu den immer heißer werdenden Sommern entwickelte, weiß ich noch, aber wie genau? Wie kam ich auf die Kompostwürmer?, texte ich meinem Freund. Das kam mit deinem restlichen Klimagedöns, antwortet er, Gartenwunsch, Kompostklo, Fliegenschrank, nachhaltige Kreisläufe schaffen in der Stadt. Richtig – auch in meinen Tagebüchern finde ich Hinweise darauf. 2015. Draußen knallte die Sonne in den kahlen Hinterhof und heizte meine Wohnung auf dreißig Grad auf. Oft saß ich mit einem Fächer auf der Fensterbank und schaute in den zubetonierten Hinterhof. Mich überfiel eine Art Klimaapokalypsegefühl, und zum ersten Mal in meinem Leben sehnte ich mich nach einem Garten, in dem ich chillen und, ja – auch in der Erde wühlen konnte, obwohl ich von Gärtnern keine Ahnung hatte.
Ich war ein Kind der Achtziger, groß geworden in einem Wohngebiet mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärten. Regenwürmer, ja – kannte ich. Sie wanden sich auf dem Straßenbelag, wenn es regnete, krochen aus der Unterwelt hinauf, um nicht zu ertrinken – dachte ich als Kind. Kerstin, die neben uns wohnte, klärte mich auf. Sie wusste, woher die Würmer kamen und warum. Anders als meine Eltern, die unseren Garten gleich nach dem Einzug mit Steinen zuschütteten, hatten ihre einen echten Garten. Der Regenwurm könne bei Regen auch oberirdisch nach Nahrung suchen und krieche deshalb aus dem Boden, erklärte Kerstin mir. Seinen Namen habe er nicht vom Regen, sondern vom Verb „sich regen“. Einmal führte sie mich in die dunkelste Ecke ihres Gartens, und plötzlich stand ich vor einer unappetitlichen Holzkiste: Eierschalen und Apfelgriebsche lagen darauf. Es müffelte. Habt ihr keinen Mülleimer im Haus?, fragte ich sie, aber Kerstin blickte mich nur mitleidig an. Daraus entsteht Erde, aus der die Pflanzen im Garten wachsen, sagte sie, weißt du denn gar nichts?
Es mussten weitere 35 Jahre vergehen, bis ich mich wieder für die Ausdünstungen eines Misthaufens interessieren – ja, mir sogar einen nach Hause holen sollte. Es war viel zu heiß, die Wälder brannten, im Mittelmeer ertranken Flüchtlinge, und die AfD erzielte zweistellige Wahlergebnisse. Ich wollte dem Weltverfaulungsprozess da draußen etwas entgegensetzen, indem ich mein Leben, meine Wohnung nicht nur begrünen, sondern in eine Art ökologischen Kreislauf bringen wollte. Ich las alles, was ich über „Selbstversorgung zu Hause“ in die Finger bekam, addete alle möglichen Zero-Waste-Influencer. Wasteland Rebel, Milena Glimbovski, Alicia Silverstone. Ihre Gemeinsamkeit: Sie alle hatten einen Wurmkomposter, also eine Kiste, in der Würmer leben. Die Würmer werden mit Küchenabfällen gefüttert und produzieren so nicht nur kostbaren Humus, sondern auch den sogenannten Wurmtee, eine Flüssigkeit, die sich unter dem Lebensraum der Würmer ansammelt und besten Flüssigdünger ergibt. Ich war angefixt. Gäbe es mehr Kreislauf als das? Bis zu 300 Euro kostet ein fancy Wurmkomposter, der – total getarnt – als Sitzgelegenheit mit Polster in der Küche stehen konnte. Fand ich nicht nur teuer, sondern auch nicht nachhaltig (genug). Auf utopia.de fand ich eine Anleitung für den Bau eines Komposters und bat den Schreiner meines Vertrauens darum. Ich verriet ihm nicht, wofür die Kiste gut war, weil ich die Erfahrung g emacht hatte, dass bei vielen Menschen allein die Vorstellung von Würmern in der Wohnung Ekel erregte. Als der Schreiner das fertige Ding vorbeibrachte, stand ich überglücklich vor der Kiste. In Gedanken sah ich mich schon in der Küche werkeln, die Abfälle gut gelaunt in den Wurmkompost werfen, wo aus meinem Mist der beste Dünger der Welt produziert wurde.
Schreiend sprang ich auf mein Sofa, der scheinbar einzige Ort ohne Würmer
Ich füllte etwas Sand ein und Küchenabfälle. Bei Superwurm hatte ich parallel schon die Würmer bestellt, sie lagen in einer luftdurchlässigen Verpackung bereit für ihren Einsatz, ein Pfund Eisenia fetida: Passen sich den verschiedensten Kompostmaterialien an, vermehren sich sehr schnell und sind so die perfekte Kompost-Starter-Population und produzieren Wurmhumus geruchlos, natürlich und effektiv, hieß es auf der Packung.
Am Anfang ging alles seinen Gang. Die Würmer sah ich so gut wie nie, sie versteckten sich unter dem Berg Küchenabfälle, die ich ihnen täglich vorsetzte. Die Kiste füllte sich, doch nach einer Woche stank das Ding. Ich füllte etwas Kokossubstrat nach, das, so hatte ich gelesen, sollte helfen, tat es aber nicht. Inzwischen kamen mir auch noch Schwärme von Fruchtfliegen entgegen, wenn ich die Kiste öffnete. Nachts träumte ich von stinkenden Müllhalden oder lag wach und grübelte: Wieso wollte mir der Kompost nicht gelingen? Im Baumarkt kaufte ich eine Hanfmatte, das sollte die Fliegen eindämmen. Bevor ich eine Woche an die Ostsee fuhr, fütterte ich die Würmer noch einmal kräftig und hoffte, nun würde sich alles einpendeln. Manchmal bräuchten die Würmer ein wenig, um sich einzugewöhnen, hatte ich auf Instagram gelesen.
Zurück aus meinem Urlaub, bemerkte ich das Grauen nicht sofort. Denn ich verschwand erstmal unter der Dusche und ging erst, während ich mir die Haare trocken rubbelte, in meinem Bademantel ins Wohnzimmer. Schon an der Tür sah ich auf dem Boden etwas, das wie ein sehr schmales Stück Beef Jerky aussah. Auf dem Weg in die Küche bemerkte ich dann, dass überall in der Wohnung Würmer klebten. Auf dem Dielenboden, an den Wänden, selbst an der Decke waren welche, die meisten schon halb tot, vertrocknet. Schreiend sprang ich auf mein Sofa, der scheinbar einzige Ort ohne Würmer. Aus dem Komposter schwärmten Fliegen, dicke Maden klebten am Holz. Ich rannte ins Bad und übergab mich. Von dort aus rief ich meinen Freund an, der mit zwei weißen Einwegoveralls, Schutzmasken und Handschuhen anrückte, während ich immer noch heulend im Bad saß und nicht rauswollte. Reiß dich zusammen, sagte er, ich schaff das nicht allein. Also pulten wir die Würmer von Wänden, Decken und Böden und verstauten die verseuchte Wurmkiste in einem Müllsack. Sie stank und war so schwer, als wäre eine Leiche darin. Ich heulte – vor Ekel und vor Scham, aber mein Freund tröstete mich mit guten Nachrichten.
Bekannte von ihm hatten gefragt, ob wir Lust hätten, ihren Schrebergarten zu übernehmen, solange sie im Ausland seien.
Ab da fuhren wir jedes Wochenende Richtung Potsdam in „unseren“ Garten. Ein Blauregen umrankte malerisch die Hütte, davor eine Hollywoodschaukel – schon wieder hätte ich heulen können, diesmal vor Glück. Einen Komposthaufen gab es auch. Kritisch beäugte ich ihn. Der Kompost rottete in großen Kunststoffboxen vor sich hin. Mein Freund ging mutig voran, öffnete eine kleine Klappe dicht über dem Boden und stocherte mit einer Schaufel darin herum. Frische Erde brach hervor, sie roch nussig und nach Waldboden. Wir schauten uns an, glücklich. Gemeinsam trugen wir die Erde auf die Beete, lachten über das Wort Humus, weil es genauso ausgesprochen wird wie Hummus, und witzelten, ob es vielleicht Stadtdeppen gab, die Kichererbsenpaste auf ihre Beete schmierten. Unsere Nachbarn waren nett. Die eine Kreuzberger Hausbesetzerin, der andere ein lieber, schweigsamer Stiernacken. Ich verbrachte immer mehr Zeit im Garten, ich säte, jätete, erntete. Ich kochte, machte und legte ein – und warf die Küchenabfälle brav auf unseren Komposthaufen. Dazu musste ich nur die obere Klappe öffnen. Jeden Abend badete ich im See. Wenn ich danach unter unsere Dusche stieg, hörte ich manchmal ein zartes Kratzen über mir. Nicht, dass das Ratten sind, meinte mein Freund, ich fand das maßlos übertrieben. Er mochte es nicht hier draußen, hielt den Stiernacken für einen Nazi, sagte, er hätte eine riesige Deutschlandflagge in seiner Hütte hängen, ich solle mal genau hinschauen. Und tatsächlich: Die leisen, lauschigen Abende im Garten begannen lauter zu werden. Das Bierflaschengeklirre vom Nachbargrundstück des Stiernackens mischte sich immer öfter mit bierseligen Nazisprüchen. Ausgerechnet die Kreuzberger Hausbesetzerin winkte ab. Ich solle mich nicht so anstellen. So sei das hier in Brandenburg halt. Die laufen frei herum, sagte sie. Nachts lag ich wach und dachte nach, lauschte – auf den Nazi und auf das leise Scharren, das sich inzwischen in der ganzen Laube ausgebreitet hatte. Mein Freund hatte sich mittlerweile unauffällig aus dem Gartenprojekt zurückgezogen, und auch ich begann, mich unwohl zu fühlen. Was ging hier vor? War ich gerade dabei, selbst zum Kompost zu werden, langsam, aber sicher in dieser Hütte zu verfaulen? Irgendwas lief hier nicht rund.
Der Nazi war tot. Vorm Fernseher auf der Couch gestorben, nicht mal umgekippt ist er, meinte meine Nachbarin
Als ich nach einem Stadtausflug in den Garten zurückkam, erkannte ich schon von Weitem, dass vor meinem Gartentor eine Menschenmenge stand. Sie schauten abwechselnd zu mir und zur Hütte des Nazis, kopfschüttelnd – und in den Gesichtern eine Mischung aus Empörung und Mitleid. Der Nazi war tot. Vorm Fernseher auf der Couch gestorben, nicht mal umgekippt ist er, meinte meine Nachbarin. Wann das passiert ist, wollte ich wissen, aber die Kreuzberger Hausbesetzerin zuckte nur mit den Schultern. Es roch halt, da hat jemand die Polizei gerufen. Als sei das sein Stichwort, drängte sich der Vorsitzende des Kleingartenvereins bis zu mir durch. Sein Mund nur ein schmaler Strich, dünn wie ein Grashalm. Ohne zu fragen, betrat er meinen Garten, ging schnurstracks zum Komposthaufen und zeigte mit dem Finger auf die grauen Kisten. Sie haben übrigens ein ähnliches Problem, meinte er. Die müssen weg, da wohnen Ratten drin. Mein Herz klopfte. Das Scharren, das Kratzen. Ich sah kleine Füße mit Krallen über der Dusche, dem Bett. Wenn die nicht Ende der Woche entsorgt sind, fliegen Sie aus dem Verein.
Ich kehrte nicht mehr in den Garten zurück. Nicht mal meine Sachen holte ich dort raus – meinen Plattenspieler, Klamotten, ein altes Fahrrad. Stattdessen rückte wieder mein Freund an. Packte den Einwegoverall ein und entsorgte gemeinsam mit den Gartenbesitzern die Kompostkisten. Voller Rattennester sind sie gewesen, schrie er, weil ich mir die Ohren zuhielt, als er mir in der Stadt davon erzählte. Was mir einfiele, alles, was auch nur ansatzweise verrotten könne, auf den Kompost zu werfen. Ob ich denn gar nichts dazugelernt hätte seit dem Wurmkomposter und mich je damit beschäftigt hätte, wie so ein Kompost funktioniere? Dass das ein Kreislauf sei, der Pflege bräuchte und nicht einfach nur Mist.
Ich dachte daran, dass der Nazi vielleicht wegen mir verschimmelt war, denn in einem Gärtnerbuch hatte ich gelesen: Nur wenn der Misthaufen gelingt, stimmt auch die Gruppendynamik in der Gartengemeinschaft. Auch wenn ich im echten Leben nichts mehr damit zu tun haben wollte, hatte ich inzwischen viel über die Dynamik von Komposthaufen gelesen. Ich konnte Heißrotte von Kaltrotte unterscheiden, den Regenwurm vom Mistwurm, wusste, dass sie beide blind sind, aber ihre Körper komplett aus Ringmuskeln bestehen und ihre Haut mit Fotorezeptoren bedeckt ist, die sie anders sehen, hören, fühlen, riechen lassen.
Nur, wenn der Misthaufen gelingt, stimmt auch die Gruppendynamik in der Gartengemeinschaft
Dass ich je wieder Kompost in mein Leben lassen würde, hielt ich trotzdem für ausgeschlossen. Ausgerechnet mein Schreiner verhalf mir zu einem Neustart. Als ich 2020 umzog, baute er mir ein Hochbett für meine neue Wohnung. Wo denn die komische Kiste von damals geblieben ist, fragte er in einer Zigarettenpause auf dem Balkon. Kleinlaut erzählte ich ihm die ganze Geschichte, aber auch, wie faszinierend so ein Kompost sei, wenn man sich die Zeit nimmt, zu verstehen, wie er funktioniert. Ich erzählte ihm von den Würmern und von den noch viel interessanteren Springschwänzen, von den Wurmartigen und den Insektenartigen, von deren besonderer Begattungsform, bei der das Männchen einen Spermatropfen auf einem Stielchen absetzt und das Weibchen diesen aufnimmt, und dass Erde, Wasser, Luft und Wärme so angeordnet sein müssen, dass sie ein Organ bilden können, welches sich selbst im stabilen Kreislauf versorgen kann. Sonst wird es nämlich totaler Mist.
Der Schreiner baute mir keine neue Kiste, er empfahl mir einen PVC-Wurmkomposter einer tschechischen Firma. Er steht auf meinem Balkon. Genau genommen sind es zwei Kisten, die übereinandergestapelt werden, darunter eine Art Auffangbecken mit Ausgussrinne für den Wurmtee. Jeden Morgen nach dem Frühstück schaue ich in die Kiste. Sobald ich den Deckel anhebe, schmatzt es – das sind meine Kompostwürmer, die durch das Licht verschreckt tiefer in den Kompost kriechen. Ich schaue, was der Kompost braucht. Flüssigkeit oder Papierschnitzel oder Futter.
Und jeden Morgen starre ich wieder fasziniert in diese kleine feuchte Kiste und frage mich: Wie geht es dir – und meine damit den Kompost, aber auch mich und die Welt, denn Kompost funktioniert wie Gesellschaft. Nicht nur Pflanzen, Tiere und Menschen sind Organismen, sondern auch Gemeinschaften, die von einer Vielzahl von Einzelwesen gebildet sind. Auch Kompost gerät schnell aus dem Gleichgewicht. Zu viel Stickstoff und er fängt an zu faulen, zu wenig Flüssigkeit und er wird träge und kann die Rotte nicht fortsetzen, das heißt sich nicht weiterentwickeln. Genau wie auf unsere Welt können wir nie richtig in einen Kompost „hineinschauen“, sondern sind immer auf indirekte Beobachtungen angewiesen, von denen wir Erkenntnisse ableiten, so, als existiere etwas getrennt von unseren Sinnen, was nur im Verborgenen wirklich ist. Meinen Kompost beobachten ist für mich inzwischen eine Anthropologie der Beziehungen und der Sinne.
Die wichtigste Lektion, die der Kompost mich gelehrt hat: die Fähigkeit, mir vorzustellen, dass Dinge wieder gut werden können, dass wir alle auf derselben Erde wandeln, die auf demselben Mist gebaut ist, und dass auch wir nur eine Art Mikroorganismen sind – verantwortlich dafür, dass Zusammenleben gelingt.
Nur noch ganz selten finde ich mal einen Wurm in der Wohnung.
Zum Heft