Der Schaum der Tage

In einem Duisburger Heim für Demenzkranke gibt es eine Kneipe, in der die Welt stehen geblieben ist. Aus dem Glücksspielautomaten fallen noch D-Mark-Stücke, und aus dem Lautsprecher perlt Peter Alexander. Ein Ort der Erinnerung für die, die kaum mehr eine haben

Von Madeleine Londene

„Herr Mühlenberg, das Glas auch mal absetzen“, warnt eine Stimme. Die Barfrau hebt den Zeigefinger. Ihr rundes Gesicht spiegelt sich in den leeren Biergläsern, die vor ihr auf dem Tresen stehen. Der Mann lacht sie an. „Frau Ebru, ich verrate Ihnen …“, seine Worte kommen ins Stocken, er kneift die Augen zusammen. „… ein Geheimnis … Sie sind mir die liebste Wirtin.“ 

An der Decke dreht sich die Discokugel, die Wände sind dekoriert mit Schallplattencovern von Vicky Leandros und Peter Alexander. Auf den Tischen liegen Zeitungen mit dem Titel „Wembley: Ein Tor macht Geschichte. Das Jahr 1966“ und „Kennedy: Ich bin ein Berliner!“. Im Hintergrund die sonore Stimme von Rudy Horn: Gehst du abends mal spazieren, frische Luft zu inhalieren, weil du selten draußen bist … Willkommen in der Kneipe „Zum Rheintörchen“. 

Ob sie gut geschlafen habe, fragt der Mann nun, seine Worte klingen verwischt. Die Barfrau nickt. „Ebru Vural, Alltagsbegleiterin“, steht auf dem Ausweis, der ihr um den Hals hängt. Ab jetzt wolle er wieder öfter kommen, sagt der Mann. „Herr Mühlenberg, Sie waren doch erst gestern hier“, sagt die Lieblingsbarfrau und räumt einen gläsernen Bierstiefel ins Regal. „Wirklich – war ich das?“ Wieder Nicken. „Was habe ich denn hier gemacht?“ Currywurst gegessen, getrunken und gesungen. Ob er auf dem Tresen getanzt habe? Nein, nein, er habe sich gut benommen. „Früher, da habe ich da oben getanzt“, sagt er langsam, als wäre jedes Wort ein Puzzlestück, und nimmt wieder einen Schluck von seinem Pils. Ob denn Herr Römer mal wieder vorbeigeschaut habe? Nein, sagt die Barfrau, er käme doch schon seit vielen Jahren nicht mehr. „Wie schade“, murmelt der Mann. Herr Römer sei der Einzige gewesen, der ohne Mühe den Zwei-Liter-Bierstiefel geleert habe. Lacher erfüllen den Raum. 

Das Rheintörchen ist keine gewöhnliche Kneipe irgendwo im Hafenviertel von Duisburg, sondern ein kleines, abgedunkeltes Zimmer im Altenheim Malteserstift St. Nikolaus. Insgesamt 28 Menschen mit Demenz wohnen hier. Zusammen besitzen sie einen Erinnerungsfundus von mehr als 2.000 Jahren, doch ihre Vergangenheit verblasst immer mehr. An einem Tag kennen sie noch den eigenen Namen oder den Geburtstag der Tochter, am anderen ist alles verschwunden. Allein in Deutschland sind rund 1,8 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Bis 2050 wird sich die Zahl voraussichtlich verdoppeln. Einen Umgang damit hat unsere Gesellschaft noch nicht gefunden. Vielleicht hat das Altenheim in Duisburg einen Lösungsansatz. 

„Tür auf, Musik an und mal gucken, was passiert. Das ist unser Prinzip hier“, erklärt die Heimleiterin Heike Petzold in ihrem Büro. Das Konzept des Rheintörchens stammt aus dem Jahr 2007. Damals berichtete ihr eine Mitarbeiterin von dem „psychobiografischen Pflegemodell“, das in den Siebzigern vom österreichischen Wissenschaftler Erwin Böhm entwickelt wurde. Demente Menschen solle man laut Böhm so lange wie möglich für sich selbst entscheiden lassen und nicht zwangsweise an den Ablauf in Pflegeeinrichtungen anpassen. Dabei müsse das Pflegepersonal unterstützend wirken. „Das geht natürlich nur, wenn man die Menschen gut kennt“, sagt Petzold. Nach 33 Jahren Berufserfahrung weiß sie: Alter und Nachname reichen nicht. Man muss wissen, was den Menschen ausgemacht hat, was ihm wichtig war, den Lebensmotor kennen. 

Petzold und ihr Team wissen um all die 28 Lebensgeschichten im Malteserstift. Dafür haben sie Gespräche mit Angehörigen geführt und etliche Schulungen besucht. Selbst die Empfangsmitarbeiterin und der Haustechniker kennen die Besonderheiten der Bewohner. Es erfordere große Geduld, um zu erkennen, was der einzelne wirklich braucht, erklärt Petzold. Und weil viele sich kaum noch erinnern oder auch nicht mehr sprechen können, dauere das oft Monate, manchmal Jahre. 

Was die alten Menschen hier in Duisburg brauchen, das scheint ein Waschsalon, eine Schminkecke und eine Kneipe zu sein. Sogenannte Erinnerungsräume, wie Petzold sie nennt, also Orte, an denen sie in ihrer Jugend viel Zeit verbracht haben. „Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind zwischen sechzig und fünfundachtzig. Vor allem die Fünfziger- und Sechzigerjahre waren eine prägende Zeit für sie.“ Eine Zeit, in der sich das Leben auch viel in Kneipen abgespielt habe. Allein im Duisburger Hafenviertel gab es über hundert. Dort wurde getrunken, gefeiert und der Alltag vergessen. 

2019 wurde das Rheintörchen dann Realität. Dafür hat das Altenheim Möbel und Dekorationsstücke aus den Sechzigern aufgekauft. Die Theke ist aus einem Blumenladen, der Spielautomat ersteigert. 

Herr Mühlenberg sitzt an einem alten Tisch, vor ihm ein Glas Bier. Seit über sechs Jahren wohnt der 84-Jährige im Malteserstift. Obwohl er früher jede Ecke im Duisburger Stadtteil Ruhrort kannte, fällt ihm heute oft seine Zimmernummer nicht mehr ein. „Das wievielte ist das jetzt?“, fragt er und zeigt auf sein Glas, sein Mund steht offen. „Ist doch egal, Hauptsache, es schmeckt“, antwortet eine Raucherstimme vom anderen Ende des Tisches. Herr Volkmer schüttelt den Kopf. Er sitzt im Rollstuhl, in seiner Brusttasche eine Packung Giants-Zigaretten. 

Erst dieses Jahr, erzählt er nach einer Weile, sei seine Frau gestorben. 64 Jahre hätten sie sich gekannt. Dann der Schlaganfall seiner Tochter im April. Seit Corona habe er sie kaum gesehen. Und nun könne er nicht mehr laufen, wieso, wisse er nicht. Er nimmt einen Schluck Bier. Ob er denn gern hierherkomme. „Mir bleibt ja nichts anderes“, sagt Volkmer. Noch ein Schluck, lange Stille. 

„Sie waren doch oft ‚Im blutigen Teppich‘“, sagt Leiterin Heike Petzold. „‚Teppich‘? Nee, kenn ich nicht“, antwortet Volkmer. In anderen Kneipen sei er aber gewesen. „Gefeiert bis zum Morgen“, raunt er und lacht. Aber heutzutage, die hohen Mieten, sagt er und hustet. Jetzt sei alles kaputt. Er blickt zu Boden. Wenn es doch nur wie früher wäre. 

Eine Stunde später. Klirren, bunte Lichter, zwei kleine Rädchen drehen sich. Dann ein Ruckeln, das Geräusch verstummt. „Das Ding ist schon wieder randvoll“, murmelt Petzold, während sie auf den Knöpfen des Spielomaten rumdrückt. Hinter ihr drei Augenpaare: Mühlenberg, Vural und Volkmer. Plötzlich fallen Münzen in das Auffangbecken: Hunderte Deutsche-Mark-Stücke. 

Eine Frau mit weißen Haaren und Rollator bleibt vor der offenen Eingangstür stehen und linst in den Raum. „Das kenne ich noch von früher!“, sagt sie und zeigt mit zittriger Hand auf den Spielomaten. Während sie in den Raum trippelt, drehen sich vier Köpfe zu ihr um. „Frau Krämpken – schnell, Sie dürfen als Nächstes“, sagt Vural und hakt sich bei ihr unter. „Ich, ja? Aber ich habe doch noch nie gewonnen.“ 

„Wenn ich verliere, gehe ich nach Hause“, sagt Krämpken mit brüchiger Stimme. Die Zahlen auf der Anzeige beginnen sich immer schneller zu drehen ¬– bis sie alle dasselbe Motiv zeigen. Blinken, Klimpern, Jubelrufe. „Frau Krämpken, Sie haben es geschafft!“, Mühlenberg klatscht in die Hände, Petzold drückt sie fest an sich. „Ich bin ein Glückskind“, sagt Krämpken, nun mit festerer Stimme, und fischt ein Zweimarkstück aus der Schale. 

„So, jetzt gehe ich aufschreiben, wer wie viel Geld verzockt hat“, ruft Petzold in die Runde. Die anderen lachen. „Dann kommen wir nicht wieder“, antwortet Krämpken, einen Arm in die Hüfte gestützt. Doch alle wissen, sie werden wiederkommen. So lange, bis es nicht mehr geht. 

Im Rheintörchen sind Vergangenheit und Zukunft egal. Es zählt nur die Gegenwart. „Für manche Bewohner bleibt ihr Besuch immer das erste Mal“, sagt Petzold. Es gehe nicht darum, dass sie morgen noch davon erzählen können, sondern dass sie sich für einen kurzen Augenblick an Bruchstücke aus ihrem Leben erinnern können – und glücklich sind. „Unser Ziel ist es nicht, die Leute zu pflegen, bis sie irgendwann sterben“, erklärt Vural. Man wolle den Alltag der Menschen bereichern, ganz gleich wie krank oder vergesslich sie sind. Gespräche, Berührungen, das Leben miteinander teilen – „das ist der Grund, warum ich jeden Tag gern zur Arbeit komme“, sagt sie.

In den letzten Jahren habe sich gezeigt, dass die alten Menschen nach dem Verlassen der Erinnerungsräume ruhiger sind, insgesamt weniger Medikamente brauchen. Ein Erfolg. Achtzehn der Einrichtungen in Malteser-Trägerschaft arbeiten bereits nach dem Böhm-Modell, nun wollen die Malteser das Modell nach und nach in all ihren 34 Häusern etablieren. „ 

Sonnenstrahlen fallen durch die farbigen Bleiglasfenster des Rheintörchens – es könnte morgens, mittags oder früher Abend sein. Mittlerweile sind die Gläser leer und der Spielomat satt, nur die Ruhrpott-Schlager laufen noch in Dauerschleife. Denn noch bist du nicht allright. Nach der Nacht tief im Schacht brauchst du auch innendrin ein bisschen Helligkeit … Und Mühlenberg und Vural, Arm in Arm. Mühlenbergs Beine tänzeln im Takt, sie scheinen die Schritte zu kennen. Er legt seinen Kopf auf ihre Schulter und schließt die Augen. Mit einer Hand fährt Vural seinen Rücken entlang, während Mühlenberg einzelne Liedstellen von Steh’n die Sterne über Herne mitsummt. 

Früher habe er Tanzstunden genommen, im Paulerberg, erzählt er. Da wäre er auch gewesen, ruft Volkmer dazwischen, die beste Tanzschule in ganz Duisburg. Die letzten Takte, dann beugt sich Mühlenberg nach vorn, gibt Vural einen Kuss auf die Wange und verbeugt sich. Volkmer verdreht die Augen. 

Langsam verstummen Musik und Gläserklirren im Rheintörchen. Einer nach dem anderen verlassen Krämpken, Volkmer und zuletzt Mühlenberg die Kneipe – raus, in den nach Desinfektion riechenden Flur. „Zeit für ein Nickerchen“, sagt Krämpken und kichert. Mühlenberg hakt sich bei Vural ein, winkt mit der freien Hand und verteilt Luftküsse. „Das war heute mal was anderes“, sagt Mühlenberg, als er in den Aufzug steigt. „Ich wusste ja gar nicht, dass hier eine Kneipe ist“, sagt er, als die Türen langsam schließen. 

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