„Lieber Gott, lass einen geilen Typen was von mir wollen“
In Tagebüchern steckt die ganze Tragik unserer Jugend – und genau das macht sie lesenswert. Zu Besuch beim Diary Slam in Hamburg
Von Martin Hogger
Die Leute machen sich ja gern mal nackig auf St. Pauli. Und so steht Nadine im Dachboden des „Grünen Jägers“, einer der vielen Kneipen dort, vorn auf der kleinen Bühne aus Sperrholzplatten. Nadine ist vielleicht Mitte dreißig und schmal. Auf dem Stehtisch vor sich hat sie ein abgegriffenes Büchlein liegen. Hundert Leute schauen sie an, gebannt, kein Mucks. Nadine liest aus den Krisen ihrer Jugend. „Ich hasse mich, weil ich zu dumm bin, einen Freund zu finden.“
Gerade geht es um Paul, den sie liebt. Und Deborah, die er liebt. „Die dumme Deborah“, liest sie. „Ich will nicht allein sein“, liest sie. „Ich liebe dich“, liest sie. „Ich hasse dich“, liest sie. „Ich kotze“, liest sie. Nicht mal die Prostituierten drei Straßen weiter würden sich so entblößen. Und doch lachen wir alle. Wir können nicht aufhören. Wir lachen, und Nadine lacht mit, sie zupft ihren Pulli zurecht und blättert zur nächsten Seite.
Der Inhalt eines Tagebuchs bleibt eigentlich zwischen Buchdeckel und Autor. Ein Tagebuch ist ein Bewusstseinsstrom, eine wilde Folge aus Geschehnissen, Gefühlen, Träumereien. Alles muss raus. Vielleicht ist das englische Wort für Tagebuch deshalb phonetisch so nah an Durchfall: Diary. Diarrhea.
Von gleichgültigem Gelaber aus der Schule bis zur existenziellen Krise dauert es manchmal nur einen Satz. „Ach, lieber Gott“, liest Nadine, „lass einen geilen Typen was von mir wollen und mich in drei Jahren das Abi bestehen, und ich will, dass die Welt nicht untergeht.“ Nadine blickt hoch. Den Satz, den ihr jugendliches, übersteuertes Ich 1998 voller Ernst schrieb, kann ihr erwachsenes Ich nur hervorprusten: „Das sind doch nur drei klitzekleine Wünsche.“
Wir alle lachen, fast schon hysterisch. Aber warum? Warum ist das alles so witzig?
Jeden Monat findet in Hamburg der Diary Slam statt, heute zum 105. Mal
Unten am Eingang, anderthalb Stunden zuvor. Es ist zehn Minuten vor acht. Aus der Tür des Grünen Jägers tritt eine junge Frau. Sie hat ihre Arme zur Seite ausgestreckt und winkt wie der vitruvianische Mensch von Leonardo da Vinci. „ES IST VOOOOLL.“ Wie eine Brausetablette löst sich die Schlange vor dem Eingang, man hört ein paarmal „Maaaan“ und ein „Och nee“.
Jeden Monat findet in Hamburg der Diary Slam statt, heute zum 105. Mal. Ella Werner und Nadine Wedel (die mit dem Wunsch nach einem geilen Typen) hatten vor über zehn Jahren die Idee dafür, das war 2011. Damals war es die erste Tagebuch-Lesebühne Deutschlands. Poetry Slam fanden die beiden nicht wirklich spannend, eher aufgesetzt-überdreht. Gemeinsam überlegten sie: Was, das noch blöder ist, können wir auf einer Bühne vorlesen?
Oben. Nicht nur die Bühne, der ganze Dachboden-Veranstaltungsraum-Hybrid ist ausgekleidet mit Pressspanplatten. Vorn sitzen vier Frauen nebeneinander. Außen zwei Julias, dazwischen Ella und Nadine. Das Publikum hat Vibes wie auf einem Jonas-Brothers-Konzert, also jede Menge Frauen in den Zwanzigern mit ihren Boyfriends. Die Leute stehen gebeugt in den Dachschrägen. Der Moderator zeigt neben die Bühne. Da wäre noch ein Quadratmeter frei.
Es werden hier nicht nur Tagebücher vorgelesen, auch Songs. „Wenn die Texte catchy sind, singen alle mit“, erklärt der Moderator. Freunde-Bücher, Briefe, egal. Fünf Jahre müssten die Texte mindestens alt sein, am lustigsten aber seien Texte aus der Jugend. „Da gehört Mut dazu.“
Dann hält er einen Haufen Tagebücher in die Luft. Eins, mit einer rosahaarigen Barbie darauf, eins mit Alpakas. Es gibt auch Diddl-Briefpapier. Getriggerte Kindheitserinnerungen überall. Als er die Mäuse hochhält, geht ein Raunen durch das Publikum.
Die beiden Julias, Ella und Nadine werden gleich Einträge aus ihrer Kindheit und Jugend vorlesen, zwei Zuschauer werden die Jury sein und bestimmen, wer ins Finale kommt. Die besten zwei werden noch einmal lesen, dann entscheidet der Applaus über den Gewinner. „Kennt ihr jemanden von den Lesenden?“, fragt der Moderator die Jury sicherheitshalber. Der eine antwortet, grinsend: „Noch nicht.“
Ella beginnt. Sie hat als Kind alles Papier beschrieben, was sie in die Finger kriegen konnte. Das Büchlein, das sie aus ihrem bunten Stapel zieht, ist eins mit ihren Gedichten. „Wenn alle Menschen Blumen wären“ heißt das erste. Etwas Umweltkritisches von 1991. Damals sei sie elf gewesen, sagt Ella und fragt ins Publikum, wer da schon gelebt habe. „Ah, nicht mal die Hälfte.“
Das zweite Gedicht handelt vom Tod des Hundes ihrer Oma. Sie hat es „Geister des Hasses“ genannt. Nach dem Gedichtbüchlein zückt sie ihr Tagebuch. Fünfzehn war sie da. Ihr einziger wilder Sommer, sagt sie und schlägt das Buch auf.
Erster Eintrag.
„Oh Mann, René Kübel, ich hab dich so lieb.“
Ein paar Tage später.
„Das mit dem Kübel ist so heftig. Kübelchen klingt ja voll süß.“
Ein paar Tage später.
„Geht er zu schnell ran? Ja. Geil.“
Ein paar Tage später.
„Ich will am liebsten Schluss machen.“
Ella liest weiter vor, von ihrer Reise nach Frankreich, von Blitzverliebtheiten in andere Jungs. Die Jugend, das war eine Zeit, in der der nächste Sommer noch wie das nächste Leben schien. Alles passierte schnell, alles war möglich auf der Suche nach dem wahren Ich in der eigenen, pubertär überzeichneten Gefühlswelt. Wo kann man die eigene Entwicklung besser nachlesen als in einem Tagebuch? Manchmal bedeutet ein Tagebuch aber auch nur Kritik – zum Beispiel an Martin: „Die Küsse waren so super, obwohl die in Dortmund noch zu schnell waren und nicht abgetaktet.“
„Ich würde Bernd auf 46 schätzen. Sein Kleidungsstil ist gerade noch an der Geschmacksgrenze.“
Julia ist die nächste. Mit sechs Jahren hat sie begonnen, Tagebuch zu führen. Zwanzig Tagebücher habe sie in den folgenden Jahren vollgeschrieben. „Zu der Zeit habe ich gemerkt, dass sich alles verändert“, sagt sie. Da sei dieser Drang gewesen, das Erlebte festzuhalten und eine eigene Sprache dafür zu finden.
Beim ersten Eintrag, glaubt sie, sei sie fünfzehn gewesen. Sie liest: „Er hat mich entdeckt.“ Es geht um Uli, ihren Englischlehrer. Sie schmachtet ihn an wegen seines „schmelzenden Lächelns“. Die letzte Arbeit sei eine Eins plus gewesen, und Uli habe gesagt: „Du bist auf einem guten Weg in die Oberstufe.“ Alle Äußerungen des Lehrers versteht ihr junges Ich als Liebesbekundung. „PS: Eine bedeutende Gemeinsamkeit: Er hasst Freizeitparks.“
Der nächste Eintrag. „Bernd ist da. Der Ältere (Uli) ist dem Jüngeren gewichen. Ich würde Bernd auf 46 schätzen. Sein Kleidungsstil ist gerade noch an der Geschmacksgrenze.“
Warum liest sie das alles vor? Dazu hat sich Julia lange Gedanken gemacht. Als der Dachboden später schon wieder leer ist, sagt sie: „Psychologisch finde ich es einfach superspannend. Die Überheblichkeit, die Dummheit, auch die viele Zeit, die ich damals allein gewesen sein muss, sonst hätte ich nicht so viel schreiben können.“ Sie muss lachen. „Wenn ich das jetzt, mit Abstand, vorlese, hat es sich wenigstens gelohnt, dieses Leid aufzuschreiben.“
Die zweite Julia muss ihre Lesebrille aufsetzen. Auf ihrem alten Tagebuch ist Donald Duck abgebildet. Sie sei vierzehn gewesen damals, im Kopf nur Jungs, ihre Familie sehr christlich. Heute sei ihre Tochter im Publikum, sagt Julia. Die halte nichts von Mädchen, die nur ans Knutschen denken.
Dann liest sie vor, wie sie sich vornimmt, sich in Eike zu verlieben, einfach weil es praktisch ist. Da ist aber noch Tom, sie muss sich entscheiden – und küsst beide. Ihr vierzehnjähriges Ich schreibt: „Ich bin doch völlig pervers.“ Sie muss lachen dabei.
Aus dem Publikum meldet sich Charlotte. Auch sie hat ihr Tagebuch mitgebracht, eins mit Bärchen drauf. Sie liest einige kurze Passagen und sagt grinsend: „Ich hab es geliebt, mich in anderer Leute Dramen einzumischen.“
Kurz vor der Pause noch eine Umfrage. Wer hat früher auch Tagebuch geschrieben? Fast alle im Raum melden sich – unter ihnen nur zwei Männer, was dann auch auf der Männertoilette Thema ist. Mädchen seien immer gefühliger gewesen, Jungs hätten sich stattdessen die Kniescheiben beim Fußball weggebolzt. War es die Sozialisierung? Näher kommen wir der Antwort nicht.
Als Nadine nach der Pause von ihrer unbeantworteten Liebe liest, fragt man sich zwangsläufig: Was sehen die Mädchen in pubertierenden Jungs? Nadine bringt ihre Gefühle zu Paul auf den Punkt: „The boy is sowieso never mine.“
Alle waren so jung, alle waren so dumm, alle waren so verwirrt
Warum ist das so witzig, wenn Menschen ihre privatesten Gedanken teilen? Zuerst ist da sicher das kollektive Gedächtnis, man verbündet sich mit den Vorlesenden, weil man Ähnliches erlebt hat. Aber natürlich verbergen sich auch niedere Instinkte hinter dem Lachen, ein neugieriges Interesse an der Dummheit der anderen. Trotzdem fühlt sich das Lachen nicht dreckig an. Empfinden sich hier doch alle als eine Art Leidensgemeinschaft. Alle waren so jung, alle waren so dumm, alle waren so verwirrt, und für einen Moment fühlt es sich so an, als hätten wir es gemeinsam aus den emotionalen Wirren der Jugend geschafft. Diary Slam als kollektive Katharsis.
Wenige Minuten zuvor waren Ella und die erste der beiden Julias ins Finale gekommen. Ella gewann mit einer Selbstbeschreibung ihres elfjährigen Ichs: „Meine Nase ist kartoffelförmig und hat einen leichten, süßen Knick.“ Und: „Ich habe einen langen, modernen Hals.“ Als Gewinn schnappte sich Ella das Barbie-Tagebuch – für ihre Kinder.
Zum Heft