Aktuelles Heft

N° 87 Feinde

Zum Heft
Mehr Optionen

Dem Bimmeln so nah

Nachbarn fetzen sich besonders oft: Mal geht’s um hohe Hecken, mal um Grundstücksgrenzen. Bei diesem  jahrelangen Streit waren es Kuhglocken, die manche in den Wahnsinn treiben und andere über alles lieben

Text: Stefanie Witterauf; Bild: Dirk Bruniecki

Wenn Regina Killer auf ihrer Terrasse sitzt, genießt sie den Soundtrack der Alpen – das Bimmeln der Glocken, die sie ihren Milchkühen um den Hals gehängt hat. „Dabei kann ich entspannen“, schwärmt die Bäuerin. Dass sich jemand durch das Geräusch gestört fühlen könnte? Dass daraus ein jahrelanger Gerichtsprozess wird? Dass dieser „endlose Glockenkrieg“, wie die „Bild“-Zeitung schrieb, sie zur lokalen Berühmtheit machen würde? Das hätte sich Regina Killer nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorgestellt. 

Eine knappe Stunde südlich vom Münchner Hauptbahnhof entfernt liegt das oberbayerische Holzkirchen. Am Ortsrand grenzen Felder an Wiesen und Weiden. Auf einer grasen die Kühe von Regina Killer. Auf ihrem Hof, der einen Kilometer von der Weide entfernt ist, stand im Sommer 2015 plötzlich ein ihr unbekanntes Paar. Eine Frau und ein Mann, beide hatte sie noch nie gesehen. Resolut forderte der Mann die Bäuerin auf, ihren Kühen sofort die Glocken vom Hals zu nehmen – wegen ihnen könnten er und seine Ehefrau nicht mehr schlafen 

Killer erfährt später, dass der Mann ein Autohaus besitzt und drei Jahre zuvor mit seiner Frau in ein aufwendig renoviertes Haus gezogen ist. Aus dem Fenster des neuen Schlafzimmers schaute das Ehepaar auf eine schöne grüne Wiese, auf der eines Tages – zwei Jahre nach ihrem Umzug – Kühe mit großen Glocken standen. Bäuerin Killer hatte das Grundstück von der Gemeinde gepachtet.

Der Mann sei gleich sehr unfreundlich gewesen, dennoch habe sie ihm entgegenkommen wollen, erinnert sich Killer heute. „Ich habe den Kühen alle Glocken abgenommen – bis auf einer. Das war mein Kompromiss.“ Gebracht hat er nichts. Es folgten lautstarke Telefonate, später erwirkte der Autohändler eine einstweilige Verfügung: Die Bäuerin musste alle Glocken abnehmen, sonst hätten ihr 250.000 Euro Strafe oder sechs Monate Haft gedroht. 

Regina Killer ist eine kleine Frau mit hellbraunen Haaren und rundem Gesicht. Sie trägt ein hellblaues T-Shirt mit Schmetterlingsmuster und lächelt viel. Doch plötzlich wird die 49-Jährige ernst. „Es geht mir ums Prinzip“, sagt sie. Für Landwirte werde es immer schwerer, viele müssten ihren Betrieb aufgeben. „Was haben wir denn noch, wenn sie uns die Glocke nehmen?“ 

Für Kuhohren sind die Glocken wohl eine ziemliche Marter.  Genauso gut könnte man den Tieren einen Presslufthammer umhängen

Vor ihrem Haus rasiert ein Rasenmäher-Roboter Gras und gelbe Butterblumen. Seit 25 Jahren wohnt die Bäuerin mit ihren zwei mittlerweile erwachsenen Kindern und den Hühnern und Kühen auf dem Hof. Den Hennen hat sie keine Namen gegeben, doch sie kennt jede ihrer 35 Milchkühe. Zweimal am Tag melkt sie, um 5.30 und 16.30 Uhr. Und denen, die sie besonders gernhat, hängt sie eine Glocke um den Hals. 

Wie aber konnte der Streit um diese Kuhglocken so eskalieren? Die Stimmung sei von Anfang an aggressiv gewesen, sagt Killer und berichtet von zerschnittenen Zäunen, von Nächten, in denen sie ein Auto, laut hupend vor ihrem Haus, aus dem Schlaf riss. „Es war Psychoterror.“ Irgendwann habe die Ehefrau des Autohändlers angerufen und ihr Geld angeboten, wenn sie die Weide nicht mehr nutzen würde. „Aber ich lasse mich doch nicht bestechen.“

Als der Streit vor zehn Jahren losging, bekam Regina Killer viel Unterstützung von Dorfbewohnern. Sie ist in der Gemeinde gut verwurzelt; sonntags geht sie in den Gottesdienst, im Trachtenverein trägt sie Dirndl. Man sammelte für sie Unterschriften im Geschenke- und Handarbeitsstüberl und beim Raiffeisen-Warenlager. Bei der Verhandlung saßen einige Dorfbewohner auf der Zuschauerbank, einer schickte dem Autohändler einen anonymen Brief und drohte, ihm eine Ladung Gülle in den Garten zu kippen. 

Bäuerin Killer mag nicht völlig auf die Tradition verzichten

Dabei gäbe es sogar gute Gründe, die gegen die Glocken sprechen: Die Agrarwissenschaftlerin Julia Johns hat in ihrer Doktorarbeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) herausgefunden, dass die Glocken dem Tierwohl schaden. Eine normale Glocke ist – gemessen zwischen Kuhohr und Glocke – zwischen 100 und 110 Dezibel laut. Das entspricht etwa der Lautstärke von Laubbläsern oder Presslufthämmern und kann die Kuh langfristig schwerhörig machen. Aber nicht nur das Bimmeln, auch das Gewicht der Glocke setzt der Kuh zu: Die Kühe fressen und wiederkäuen ein bis zwei Stunden weniger als Tiere ohne Glocke. 

Und doch sind Kuhglocken ein Symbol für die Alpenregion, für die heile Welt, für grüne Wiesen mit würzigem Klee – und für glückliche Kühe. Auf vielen Käsepackungen, Schokoladentafeln und Milchkartons schauen Kühe einem friedlich malmend mit Glocke um den Hals entgegen. Aber vielleicht stehen sie auch noch für etwas, was über dieses Klischee hinausgeht. Etwas, was im Bundestag verhandelt wird, die Demokratie bedroht, Fronten verhärtet: ein Kulturkampf, bei dem Weltanschauungen aufeinanderprallen. Stadt gegen Land, links gegen rechts, Fortschritt gegen Tradition. Ein Kampf, der die Gesellschaft spaltet und nicht nur aus Nachbarn Feinde macht. 

Auch in Holzkirchen scheinen die Rollen klar verteilt: Ein vor Jahren Zugezogener steht den alteingesessenen Dorfbewohnern gegenüber. Wie vermittelt man in einer so aufgeheizten Stimmung? Einer, der schlichten wollte, ist der damalige Bürgermeister Olaf von Löwis of Menar. „Ich wollte gleich zu Beginn alle Beteiligten an einen Tisch bringen. Aber die Fronten waren schon zu verhärtet, also wollte ich mit jedem einzeln sprechen“, erzählt von Löwis, heute Landrat des Landkreises Miesbach. Ohne Erfolg, der Schlichtungsversuch scheiterte. 

Ob von Löwis, der als Bürgermeister auch Vermieter der Weide war, als Mediator geeignet war, bezweifelt Volker Linneweber, emeritierter Professor für Sozialpsychologie. Schon Ende der Achtzigerjahre forschte er zu Nachbarschaftskonflikten. „Anders als kurzfristige Konflikte, wie etwa im Straßenverkehr, können sich Streitigkeiten von Nachbarn über eine unglaublich lange Zeit hinziehen“, sagt er. Wohl auch, weil sich die Seiten schwertun, Kompromisse zu finden, und im Verlauf des Streits oft sturer werden. So hatte der Autohändler sogar angeboten, für die Kühe GPS-Tracker zu kaufen, doch das lehnte die Bäuerin ab. Sie habe die Folgekosten befürchtet, sagt Killer und schiebt hinterher: „Mir geht es um etwas Größeres, um die Identität der Region, um die Tradition und den Erhalt der Idylle.“ Das sei doch genau der Grund, warum viele Leute von der Stadt aufs Land ziehen wollten. 

Schon vor hundert Jahren zog man in Garmisch-Partenkirchen wegen ihnen vor Gericht

„Der ursprüngliche Anlass gerät im Laufe des Konflikts in den Hintergrund“, sagt Sozialpsychologe Linneweber. „Die Vergangenheit zu rekon-struieren und so zu einem Konsens zu kommen, führt nur ganz selten zum Erfolg.“ Daher sollte sich für eine Lösung der Blick nach vorn richten. 

Das klappte in Holzkirchen nicht. Verhandelt wurde schließlich über drei Instanzen: zunächst vor dem Amtsgericht in Miesbach, dann vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht in München. Erst klagte der Unternehmer, danach seine Ehefrau. Irgendwann ging es nicht mehr nur um den Lärm, sondern auch um die Kuhscheiße. Irgendwann stand ein Richter auf der Kuhweide und kontrollierte die Lautstärke der Kuhglocken. Irgendwann, mehrere Gerichtsverfahren später – die Kosten lagen mittlerweile im fünfstelligen Bereich –, kam es doch noch zu einem Vergleich: Maximal drei Kühe dürfen Glocken mit einem Durchmesser von zwölf Zentimetern tragen. Und wenn sie die um den Hals haben, dürfen sie nur in einem hinteren Teil der Weide grasen. 

Fünf Jahre nach dem Gerichtsentscheid ist also endlich Ruhe eingekehrt. An einem Montagnachmittag im Mai zwitschern Vögel, summen Bienen, sonst ist es auf der Weide still. Das Gras ist gerade frisch gemäht, am blauen Himmel die Sonne und in der Ferne am Horizont das Alpenpanorama. Mitten in diesem Idyll grasen Sabrina, Helene, Hermine und Alexa, vier trächtige glockenlose Milchkühe von Regina Killer – auf dem hinteren Teil der Weide neben dem Haus des Ehepaars.

Ein trügerisches Bild: Eigentlich hat der Autohändler noch eine Menge zu sagen, aber öffentlich will er sich nicht mehr äußern. Es gibt keinen Kontakt zwischen ihm und der Bäuerin. Eine Versöhnung ist undenkbar, immer noch. Wohl auch, weil Regina Killer nicht von ihren Kuhglocken lassen will.

In Deutschland landen Nachbarschaftskonflikte oft vor Gericht. Das liege einerseits an den Rechtsschutzversicherungen, die viele Menschen abgeschlossen hätten, sagt Sozialpsychologe Linneweber. Andererseits sind die hohen Wohnkosten schuld. „Bei allem, was uns teuer ist, haben wir eine ausgeprägte Tendenz, dass wir unnachgiebig in unseren Erwartungen sind.“ Daher gebe es Nachbarschaftsstreits, die sich über Jahrzehnte hinzögen. „Manche übertragen sich auf die nächsten Generationen. Sie werden regelrecht vererbt.“ 

In Bayern sind die Kuhglocken ein Evergreen. In Bad Reichenhall gab es einen Fall, der sieben Jahre dauerte. Nach Protesten, Demos, Drohbriefen, Schlichtungsversuchen und Gerichtsterminen einigten sich die Parteien dort auf eine kleinere Glocke. Und in Garmisch-Partenkirchen zog man schon vor mehr als hundert Jahren wegen einer Kuhglocke vor Gericht. 1918 bekam ein Bauer eine „massive Ordnungsstrafe“, weil er die Tiere auf einer Wiese mit voluminösen Glocken behängte. 

In Holzkirchen steht nun Regina Killer mit ihrem 25-jährigen Sohn Georg, Schorsch genannt, auf der Weide. Sie blickt von den Kühen zum Schlafzimmerfenster des Unternehmerehepaars. Das Grundstück hat eine Art Schutzmauer aus Bäumen und hohen Büschen, die akkurat in Form geschnitten sind.

Schorsch will den Hof seiner Mutter später übernehmen. „Ich könnte den Vergleich ja noch einmal anzweifeln“, sagt er. Bei der Vorstellung, im Kuhglockenstreit die nächste Runde einzuläuten, muss er grinsen. Vorsichtig streicht er über die Habichtfedern in seiner Hand, die er auf der Weide gesammelt hat. Solche Federn schmücken auch die Hüte im Trachtenverein. Tradition ist ihm wichtig – wie seiner Mutter. Also noch mal vors Gericht? „Das habe ich nicht vor. Was soll das bringen?“ Aber eins ist klar: Die Kuhglocke bleibt – aus Prinzip.

Zum Heft