Das verlorene Paradies

Von einem auf den anderen Tag Staatsfeind: Schweden will unbedingt in die NATO und ist dafür bereit, die Kurden, die bei ihnen Zuflucht suchen, zu Terroristen zu erklären

Von Giacomo Zandonini; Fotos: Natalia Alana; aus DUMMY Nr.80, „Brüche“, 9/23, neu editiert 26.1.2024

Es ist ein kalter Morgen, als Celil Turan eine Schwimmhalle in der schwedischen Kleinstadt Sandviken betritt. Wie jeden Sonntag zieht der kurdische Türke hier stundenlang seine Bahnen. „Schwimmen ist meine einzige Flucht – mein Versuch, ein wenig psychologisches Gleichgewicht zurückzugewinnen“, sagt er, nachdem er das Becken verlassen hat.

Turan kam vor acht Jahren nach Sandviken, einen Ort, der bekannt ist für eine der größten Stahlfabriken Schwedens. Für ihn und seine Frau Cheikha war er das Gegenteil von all dem, was sie in der Türkei hinter sich gelassen hatten: Krieg und Verfolgung.

Wie lange Celil Turan jedoch noch im friedlichen Schweden leben kann, ist unklar. Im Jahr 2019 wurde sein Asylantrag zum ersten Mal abgelehnt, obwohl ihm in der Türkei Gefängnis und Folter drohen und Turan auch körperlich eingeschränkt ist – 1993 hatte er durch eine Landmine ein Bein verloren. Die schwedische Migrationsbehörde blieb trotz seines Einspruchs hart. Der Grund für die Ablehnung: Turans Haltung zur PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, die sowohl in der Türkei als auch in Schweden als terroristische Organisation gilt und seit 1993 auch in Deutschland verboten ist.

Schon vor der Gründung der PKK im Jahr 1978 war Schweden zur Wahlheimat vieler kurdischer Arbeiter und Dissidentinnen geworden. Besonders Anfang der Achtzigerjahre, als in der Türkei auf einen Militärputsch eine Welle der Unterdrückung folgte, kamen prominente kurdische Unabhängigkeitskämpfer nach Schweden. Als ein vermeintlicher Überläufer 1984 von der PKK ermordet wurde, beschloss der damalige sozialdemokratische Premierminister Olof Palme als erste Regierung in Europa, die PKK zu verbieten.

Als Palme 1986 selbst Opfer eines Mordanschlags wurde, sprach ein Polizeikommissar davon, dass PKK-Mitglieder in das Attentat verwickelt sein könnten. Bis heute gibt es dafür keine Beweise, doch allein der Verdacht brachte die immer größer werdende kurdische Gemeinschaft in Verruf. Auf der Flucht vor bewaffneten Konflikten und Verfolgungen in Syrien, dem Irak, Iran und der Türkei kamen immer mehr kurdische Menschen nach Schweden. „In den späten Achtzigerjahren gab es etwa vierzig kurdische Buchverlage, eine Bibliothek und einen Radiosender. Viele prominente kurdische Intellektuelle und politisch einflussreiche Menschen hielten sich in Schweden auf, deutlich mehr als in jedem anderen Land in Europa“, sagt Paul Levin, der das Institut für Türkeistudien der Universität Stockholm leitet. Das PKK-Verbot von 1984, so Levin, sei nie besonders streng durchgesetzt worden, stattdessen hätten gerade Politiker aus der linken Mitte viel Sympathie für kurdische Anliegen gezeigt. Nun gäbe es jedoch „einen Paradigmenwechsel“ in Schweden.

Celil Turan kam vor acht Jahren in die Kleinstadt Sandviken. Obwohl ihm in der Türkei Gefängnis und Folter drohen,
wurde sein Asylantrag abgelehnt

Auch Celil Turan sympathisiert damit, dass sich die PKK für kurdische Rechte einsetzt, er habe aber nie an bewaffneten Aktionen teilgenommen, sagt er. Wegen seiner kurdischen Herkunft sei er bereits als Teenager in der Türkei gefoltert und geschlagen worden, manchmal nur, weil er „ein kurdisches Lied gesungen hatte“. Immer wieder war er deswegen vor Repressionen über die Grenze geflohen – in den Irak oder nach Syrien, wo er sich schließlich als freiwilliger Sanitäter der syrisch-kurdischen Miliz „Yekîneyên Parastina Gel“ (YPG) anschloss. Als deren Kämpfer und Kämpferinnen Ende 2014 die syrische Stadt Kobane vom Islamischen Staat befreiten, feierte man die kurdische YPG dafür in der westlichen Welt.

Doch nur wenige Jahre später ist sowohl die Begeisterung als auch die politische und militärische Unterstützung für die kurdische Bewegung vergessen. Auch in Schweden, dem Land, in das einst zahlreiche kurdische Menschen aus Angst vor dem Regime Erdoğans flohen. „Erst waren wir die Helden des Westens, nun müssen wir im Exil fürchten, ausgewiesen zu werden“, sagt Turan, der im April 2023 einen weiteren Asylantrag stellte.

Wie er fühlen sich auch viele andere in Schweden nicht mehr sicher. Schon länger mehrten sich die Anzeichen, dass schwedische und türkische Behörden in der Terrorismusbekämpfung intensiver zusammenarbeiten. Die Situation für Menschen wie Turan verschärfte sich noch mal, seit Schweden im Mai 2022 die Aufnahme in die NATO beantragte. Da alle NATO-Partner dem schwedischen Beitritt zustimmen müssen, witterte der türkische Premier Erdoğan seine Chance. Er bezichtigte Schweden, kurdische Terroristen zu schützen, und forderte, Personen auszuliefern, die Verbindungen haben zur PKK oder zur Gülen-Bewegung, die er für einen gescheiterten Putsch in der Türkei 2016 verantwortlich macht. Aber dabei beließ es Erdoğan nicht: Schweden und Finnland, der andere neue NATO-Beitrittskandidat, sollen ihre innenpolitischen Antiterrormaßnahmen verstärken, die Beziehungen zur kurdischen YPG abbrechen, die Zusammenarbeit mit türkischen Geheimdiensten ausbauen und Beschränkungen von Waffenlieferungen in die Türkei aufheben. 

Tatsächlich bemühen sich die schwedischen Behörden seitdem, den türkischen Forderungen nachzukommen – auf Kosten der kurdischen Menschen in ihrem Land. Bereits kurz nachdem Schweden den NATO-Antrag stellte, tauchte in türkischen Medien eine geleakte Liste mit Namen von Personen auf, die in Schweden angeblich mit der PKK oder Gülen-Bewegung in Verbindung stehen. Als sieben Monate später, im Januar 2023, eine Erdoğan-Puppe auf einer Demonstration im Zentrum Stockholms aufgehängt wurde, forderte die Türkei, statt 33 „Terroristen“ nun 130 Personen auszuliefern.

Von der schwedischen Regierung, die normalerweise für ihre transparente Arbeit bekannt ist, gibt es bisher keine Informationen, wie viele Menschen tatsächlich abgeschoben wurden. Nur eine Auslieferung ist bekannt: Im August 2022 wurde ein türkischer Kreditkartenbetrüger, der in Schweden zu vierzehn Jahren Haft verurteilt worden war, in die Türkei überführt. 

Im selben Monat entging auch der 26-jährige Znar Bozkurt nur ganz knapp seiner Ausweisung. Am frühen Morgen umstellten Polizisten einen Wohnblock am Rande der westschwedischen Industriestadt Borås und drangen in Bozkurts Wohnung ein, in der er neben seinem Ehemann Tage Carlsson schlief.

Innerhalb weniger Stunden fand sich Bozkurt in einem Abschiebezentrum der Landeshauptstadt Göteborg wieder. Noch am selben Tag frohlockten türkische Medien, die Abschiebung eines „mutmaßlichen PKK-Terroristen“ stehe kurz bevor. Doch nach zwei Monaten im Polizeigewahrsam kam Bozkurt wieder frei ­– er hatte Einspruch gegen seine Abschiebung eingelegt, während zahlreiche Menschen in Schweden für seine Freilassung demonstriert hatten.

Gemeinsam mit seinen Eltern war Bozkurt mit siebzehn Jahren nach Schweden gekommen. Als Schüler hatte er sich in der Türkei für die Rechte von Minderheiten eingesetzt, weshalb er befürchten musste, verhaftet zu werden. In Schweden bekam er ein Arbeitsvisum, und als das auslief, beantragte er Asyl. In seiner neuen Heimat Schweden fühlte er sich frei: Hier musste er seine Homosexualität nicht verstecken, konnte seinen Freund heiraten, zum Christentum konvertieren und seine politisch linken Überzeugungen in der Öffentlichkeit äußern. Bozkurt sympathisiert mit der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die sich in der Türkei für Minderheitenrechte starkmacht und deren demokratisch gewählter Vorsitzender Selahattin Demirtaş seit 2016 im Gefängnis sitzt. 

Doch Bozkurts Asylantrag wurde wegen eines Vermerks des schwedischen Geheimdienstes Säkerhetspolisen, kurz Säpo genannt, abgelehnt. Weil alle Einsprüche Bozkurts erfolglos blieben, lief sein Aufenthaltsstatus im Januar 2022 ab. Während des Verfahrens hatte der Geheimdienst Bozkurt zum Interview bestellt. Dort konfrontierte man ihn mit Instagram-Fotos, die ihn bei einer Demonstration mit PKK-Fahnen im Hintergrund zeigen. Was für den Geheimdienst Grund für die Abschiebung bedeutet, bezeichnet Bozkurts Anwalt als „legale, verfassungsrechtlich geschützte politische Aktivität“.

„Mein Mann ist seit neun Jahren hier, es gab nie ein Problem, und jetzt hält ihn die Regierung für einen Terroristen?“, sagte Tage Carlsson kurz nach Bozkurts Verhaftung 2022. Bozkurt selbst bestreitet jegliche Verbindung zur PKK. Er sei aber durchaus der Überzeugung, dass die Rechte kurdischer Menschen gestärkt und respektiert werden sollten und dass die autoritäre Herrschaft Erdoğans der türkischen Gesellschaft schade. 

Mittlerweile wurde Bozkurts Abschiebung ausgesetzt, weil ihm in der Türkei Gefängnis und Folter drohen. Und doch hat er lediglich eine einjährige befristete Aufenthaltserlaubnis bekommen. Die Einschätzung der Säpo, dass er ein Risiko für die nationale Sicherheit sei, bestehe laut seinem Anwalt weiterhin. 

Anna Lindblad, die stellvertretende Leiterin der Rechtsabteilung in der schwedischen Migrationsbehörde, bestätigt, dass man seit 2016 gut mit dem schwedischen Geheimdienst zusammenarbeite. „Wir überprüfen routinemäßig alle Asylfälle“, sagt sie am Telefon. Bei den Befragungen entscheide man anhand eines Profils, ob die Person ein Sicherheitsrisiko darstelle. Welche Anhaltspunkte dafür relevant sind, sagt Lindblad nicht. Klar ist aber, dass die Zahl dieser Personen stark gestiegen ist. Von 179 im Jahr 2020 auf 650 im vergangenen Jahr.

Ein politischer Schwenk, der auch das Leben von Nashan Keser von einem Tag auf den anderen veränderte. Er wurde am 2. Dezember 2022 aufgefordert, Schweden innerhalb eines Monats zu verlassen, und darf das Land zehn Jahre lang nicht betreten. Und das, obwohl er mit einer Schwedin kurdisch-türkischer Abstammung verheiratet ist. Seine Frau Mizgin Bingol berichtete als Journalistin sowohl für kurdischsprachige Medien als auch für schwedische Lokalzeitungen über türkische Politik und den Krieg in Nordsyrien. Heute unterrichtet sie Geschichte an einer Schule in der südlichen Provinz Småland, Nahsan eröffnete dort eine Pizzeria, gemeinsam haben sie einen Sohn. 

Eine Zeit lang verdrängte die Familie, dass Nahsan immer noch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung besaß. Das gelang, bis Nahsan 2020 plötzlich eine Vorladung des Geheimdienstes Säpo bekam. Im Gespräch zeigte sich jedoch, dass man sich vor allem für die Aktivitäten seiner Frau interessierte: Mizgin ist seit Jahrzehnten ein aktiver Teil der kurdischen Diaspora. 2014 und 2015 schrieb sie über die Belagerung von Kobanî durch den Islamischen Staat. Bei ihrem letzten Besuch in der Türkei im Jahr 2019 sei sie von Agenten des türkischen Geheimdienstes verfolgt und bedroht worden, erzählt sie.

Kurz nach der Vernehmung wurde Nahsans Aufenthaltserlaubnis ausgesetzt und sein Asylantrag abgelehnt. Der Geheimdienst hatte eine Stellungnahme an die schwedische Migrationsbehörde geschickt, in der behauptet wurde, Nahsan stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, da er die sicherheitsgefährdenden Aktivitäten seiner Frau indirekt unterstützen könnte. Der Fall, so Nahsans Anwalt, erinnere an Franz Kafkas Roman „Der Prozess“, in dem ein Mann vergeblich versucht herauszufinden, für welches Verbrechen er angeklagt wird.

„Sie sagen uns nicht mal, was meiner Frau vorgeworfen wird, und ruinieren unser Leben aufgrund einer vagen Anschuldigung“, sagt Nahsan. Erst nachdem sich der UN-Menschenrechtskommissar einschaltete, setzte die schwedische Migrationsbehörde die Anordnung zur Abschiebung aus. Aber wie auch im Fall Znar Bozkurt steht die Einschätzung des Geheimdienstes weiterhin in den Akten.

„Ich unterrichte Jugendliche zu Themen wie Menschenrechte und demokratische Werte, aber jetzt habe ich Angst um Schweden, weil hier die Meinungsfreiheit immer stärker unter Druck gerät“, sagt Mizgin Bingol. Sie sieht klare Anzeichen dafür, „wie sehr die schwedische Demokratie bereits vor der autoritären Türkei eingeknickt ist“. 

Tatsächlich hatte das schwedische Parlament im Frühsommer 2023 ein neues Gesetz zur Terrorismusbekämpfung verabschiedet, mit dem selbst Personen unter Verdacht geraten, die lediglich an Veranstaltungen teilnehmen, die vermeintlich mit der PKK oder anderen kurdischen Gruppen in Verbindung stehen. Zwei Monate später gab der türkische Präsident Erdoğan seinen Widerstand gegen Schwedens NATO-Beitritt auf. Beim NATO-Gipfel in Litauen erklärte er, dass seine Regierung „so schnell wie möglich“ auf die Aufnahme Schwedens hinarbeiten werde. Mitte Januar war es dann soweit: Die Türkei schloss die Ratifizierung des NATO-Beitritts Schwedens ab. Nun muss nur noch Ungarns Potentat Victor Urban zustimmen, der wie Erdoğan keine Hemmung kennt, sich solche Gesten teuer abkaufen zu lassen.. 

Dass sich die Lage für die Kurden nach einem NATO-Beitritt entspannt, ist unwahrscheinlich. In einer Erklärung bei der Eröffnung des Gipfels hieß es: „Schweden und die Türkei sind sich einig, dass die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung eine langfristige Aufgabe ist, die auch nach dem Beitritt Schwedens zur NATO fortgesetzt wird.“

Die Recherche für diesen Artikel wurde von der Evens-Stiftung unterstützt

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