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N° 84, Nerven

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Bist Du behindert

Ein Bruder schreibt über seinen Bruder, der nicht ganz normal ist

Sascha Lehnartz

Ein Freund bemerkte, dass ich meinen Bruder selten beim Namen nenne, wenn ich von ihm erzähle, sondern meist nur „mein Bruder“ sage. Mir war das nicht aufgefallen, aber es ist wohl so, dass mir sein Name manchmal fremd vorkommt. Ich spreche ihn nicht oft mit Namen an. Er heißt Bastian, aber er hat in den 34 Jahren seines Lebens noch nie „Ich heiße Bastian“ gesagt. Er spricht kein Wort. Es heißt, er könne nicht hören, aber nicht einmal das wissen wir mit Sicherheit. Bastian ist Autist. 
Ich habe in meinem Leben oft erklären dürfen, was Autismus ist, ohne dass ich es je verstanden hätte. Ich habe Bücher über Autismus gelesen, Experten belehrten mich. Aber das Rätsel, das mein Bruder ist, kann ich nicht lösen. 
Als er geboren wurde, vermuteten die Ärzte einen Herzfehler. Sie behielten ihn zwei Wochen zur Beobachtung im Krankenhaus, dann schickten sie ihn nach Hause, „als vollkommen gesundes Kind“, erzählt meine Mutter. 
Als Baby konnte er den Kopf nicht gerade halten. Er bekam Krankengymnastik. Schließlich ging es. Dann lief er nicht. Als er endlich ging, merkten wir, dass er eine Spastik hat. Er geht auf Zehenspitzen. Vielleicht will er die Welt nicht stören. 
Als er nicht zu sprechen begann, sagte meine Oma, er sei ein Spätentwickler, das komme schon noch. Meine Oma ist seit 28 Jahren tot. Es kam nicht. 
Ärzte sahen wir viele. Einer schrieb ein Gutachten, das Kind sei blind. Später fiel uns auf, dass Bastian Staubflusen im Flug verfolgte und sie mit zwei Fingern fing. 
Messergebnisse ergaben, dass er nicht hören kann. Er bekam Hörgeräte. Er wollte sie nicht. Manchen Nachmittag verbrachten wir im Garten und suchten die Hörgeräte, die Bastian in die Blumen geworfen hatte. Irgendwann ahnten wir, dass wir ihm nicht halfen, wenn wir die Welt für ihn auf laut stellten. Für ihn ist draußen eh zu viel los. 
Meine Mutter hat Jahre damit verbracht, herauszufinden, wie man Bastian helfen kann. Dann Jahre damit, sich damit abzufinden, dass man nicht viel tun kann. Dann Jahre damit, einen Ort zu finden, wo er anständig leben kann. 
Bastian läuft viel. Manchmal ist er drei Tage lang durch unser Haus gerannt, ohne zu schlafen. Er hat Blumen gegessen, dem Hund die Haare ausgerissen, sich den kleinen Finger in die Augenhöhle und Bohnen in die Nase geschoben, Waschmittel getrunken und den Kopf vor die Wand geschlagen. Er sieht gern fern, trinkt zu viel Kaffee und mag alles, was vibriert. Wenn er eine Zigarettenkippe findet, hebt er sie auf und isst sie. Er schaut dir fast nie in die Augen, aber er lehrt dich, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.

Voriges Jahr waren wir an der Ostsee, en famille. Wir haben lange Spaziergänge am Wasser gemacht. Er hielt sich an meinem Arm fest. Bastian mag das Meer. Manchmal hat er kurz gelächelt. Er hat ein sehr charmantes Lächeln, findet meine Freundin. Ich glaube, er weiß es. 
Im März hatte Bastian einen Schlaganfall. Er war linksseitig gelähmt, konnte nicht schlucken. Im Krankenhaus hat er meine Mutter und mich mit großen, meerestiefblauen Augen angeschaut. So hat er uns noch nie angeschaut. 
Inzwischen kann er wieder laufen. Sehr wackelig noch, aber es geht. Er ist ziemlich stark. Schlucken muss er noch üben. Wir wären froh, wenn er die Magensonde bald los wäre. 
Manchmal träume ich davon, dass ich mit meinem Bruder ein Bier trinken gehe und er mir erzählt, wie es bei ihm gerade so läuft.

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