Beruhigt euch mal!
Unser Editorial zum neuen Heft
Von Natascha Roshani und Oliver Gehrs; Foto: Felicia Marcelli
Neulich sind einem DUMMY-Leser die Nerven durchgegangen. Offensichtlich haben wir ihn so in Rage gebracht, dass er ein Paket mit Scheiße füllte und es an unsere Redaktion schickte. Da lag es dann eine Weile, bis wir es öffneten. Und beim Anblick des braunen Inhalts dachten wir, dass unser aktuelles Thema ganz gut in die Zeit passt.
Im Moment scheinen bei vielen Menschen die Nerven blank zu liegen. Man sieht es an den aufgeregten Kommentaren in den sozialen Medien, am aufgejuckelten Miteinander im Alltag, an den gegenseitigen Vorhaltungen und Unterstellungen. Erst Corona, dazu die andauern-den Kriege in der Ukraine und in Gaza, permanent globale Unsicherheiten wie der Klimawandel, zudem Inflation und Preiserhöhungen. Die Psychotherapiepraxen sind voll, die Gewaltbereitschaft laut Kriminalstatistik erhöht.
Dass sich Menschen in großer Zahl von den gesellschaftlichen Entwicklungen überfordert fühlen, ist nichts Neues. Was jetzt Burnout genannt wird, hieß früher Neurasthenie. Ein Erschöpfungszustand, der die Gesellschaft schon um 1900 befiel – angesichts der allum-fassenden Beschleunigung. So wie heute das Internet viele kirre macht, so sorgte damals der zivilisatorische Fortschritt in Form von Dampfmaschinen, Elektrizität, Eisenbahn und Telefon nicht nur für
ein Staunen unter den Menschen, sondern ebenfalls für Ohnmachtsgefühle, Reizüberflutung und Zukunftsangst. Die Katastrophe der zwei Weltkriege hat ihre Ursache auch darin, dass überspannte Gemüter grundsätzlich anfälliger für Demagogie und radikale Ideen sind.
Damals wie heute gilt: In aufreibenden gesellschaftlichen Zeiten werden Menschen verführbar. Wer einfache Lösungen zur Bewälti-gung vielschichtiger Probleme bietet, erhält Zuspruch. In linken wie rechten politischen Lagern herrscht oft ein erschreckend simples Schwarz-Weiß-Denken, bei dem noch so komplexe Dinge in Gut und Böse eingeteilt werden. Und während die einen so tun, als würde Deutschland von kriminellen Migranten überrannt, sorgt der moralische Impetus der anderen dafür, dass sich ganze Milieus von politisch wichtigen Fragen abwenden.
Not täte mehr Versöhnlichkeit und Langmut, anstatt den anderen immer zu unterstellen, das Schlimmste im Sinn zu haben. So könnte man den „Free Palestine“-Rufern auch mal zugestehen, dass sie vor allem Empathie mit einem unterdrückten Volk empfinden, und nicht gleich, dass sie einen Völkermord an den Juden befürworten. Ande-rerseits ist nicht jeder Mensch, der nicht „Refugees welcome“ ruft, gleich ein Nazi.
Und nicht jedes Magazin, das eine andere Meinung abbildet, muss ein Paket mit Scheiße bekommen.
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