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N° 84, Nerven

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Auf der Flucht

Wenn sich diese jungen Kolumbianer mit bis zu 120 Stundenkilometern auf ihren Rädern die Berge runterstürzen, fliegen ihre Probleme davon. Eine wilde Fahrt durch Medellín

 Text: Katharina Wojczenko; Fotos: Santiago Mesa

Da laufen dir die Tränen herunter.

Du klebst am Rad, ganz dicht, und pfffffff …

Du kannst nicht zittern, keine Angst haben, denn sonst landest du auf dem Boden.

Du drückst dich fest ans Rad.

Du musst nach vorne schauen.

Sonst kannst du sterben.

Er heißt Juan Esteban Oquendo. Aber alle nennen ihn El Rojo, den Roten. Nach der Farbe seines Fußballvereins Deportivo Independiente Medellín. 24 Jahre ist er alt, im rechten Augenwinkel prangt ein Herzchen, bis dorthin wachsen die Tätowierungen seinen Körper empor. Er hat den gleichen Haarschnitt wie seine Kumpels, diesen Medellíner Vokuhila der Straße: vorne Pony, an der Seite ausrasiert, hinten kringelt der Löckchenschwanz unter der Kappe hervor. Wenn er lacht, sind die roten Gummis der Zahnspange zu sehen. Dann sieht er aus wie fünfzehn. Baseballtrikot, falsches Louis-Vuitton-Käppi, auf der Baggyjeans rechts und links Engelsflügel. Als ob seine dünnen Beine ihn direkt in den Himmel tragen könnten.

Bis zu 120 Stundenkilometer wird er schnell auf seinem Rad. Gravity Biking  heißt das, was er und seine Kumpels tun. Mithilfe der Schwerkraft rasen sie steile Berge hinunter. In den USA gilt es als Extremsport, in Kolumbien ist es für viele Jugendliche das Vehikel, um dem Alltag zu entkommen. 

Die Räder sind in Handarbeit zusammengeschraubt, klein, gedrungen, sie haben keine Pedale, keine Kette. Dafür einen langen, breiten Sattel, in der Regel von einem Motorrad. Und sie sind schwer, damit sie gut auf der Straße liegen und das Gewicht sie nach unten zieht. Das von El Rojo hat Bremsen. Und sogar Licht und Reflektoren.

Unten in der Stadt, neben einer Ampelkreuzung, liegt ein Grünstreifen. La Iguaná wird er genannt, nach dem Bach, der sich durch das Barrio schlängelt. Dort sitzen sie, quatschen und rauchen und warten, bis ein Laster an der Ampel hält. Dann laufen sie zum Fahrer und fragen, ob er sie mit auf den Berg nimmt. Wenn er es erlaubt, hängen sie sich hinten dran. Mit einem kleinen Haken und einer Plastikschnur, an deren Ende ein Holzstück zum Festhalten ist. El Rojo, ganz Veteran, nimmt zum Festhalten nur ein paar Finger seiner Rechten und balanciert in der Linken einen Joint. Dann geht es langsam den Berg hoch, Kurve um Kurve. Der Lastwagen keucht. Wenn ein Loch kommt, schwenken sie das Rad geschickt drum herum. Bis zur Mautstation geht es, dann lassen sie los – und sausen wie Pfeile die Serpentinen hinunter.

Medellín liegt in einem Tal, umgeben von den steilen Bergen der Zentralkordillere der Anden. An deren unteren Flanken sind auf der nördlichen Seite die Armenviertel, die nachts wie tausend Glühwürmchen leuchten. Auf der südlichen Seite die reicheren Viertel mit ihren schicken Wohntürmen. Und in der Mitte der Rest der Stadt. Unten gibt es Arbeit. Oben die Freiheit der Gravity Biker.

Wenn ihr Sohn mit dem Rad Richtung Berg loszieht, wird seine Mutter ganz unruhig. Sie weiß, dass viele gestorben sind

El Rojo wohnt im Stadtteil La Aurora, den man mit dem Bus über die Serpentinen erreicht – oder mit der Seilbahn. Dann geht es noch mal fünfzehn Minuten steil bergauf über Treppen und Rampen, rechts und links stehen sechsstöckige Sozialbauten. Hier oben kennt El Rojo fast jeden, er grüßt nach rechts und links. Seit acht Jahren wohnt er hier „Guten Tag, Señora, wie geht es Ihren Hündchen?“, fragt er eine alte Frau. Vorbei an Graffiti, trocknender Wäsche, Spielplätzen, Sitzbänken, im Zickzack höher und höher, sein Rad schiebt er mit einer Hand. Wo die Sonne hinknallt, riecht es nach Hundescheiße. Dann noch zwei Treppen den sechsstöckigen Wohnturm hoch, das schwere Rad unterm Arm. El Mono geht mit seiner Neuerwerbung nebenher. „Hier ist es wie im Gefängnis“, sagt El Rojo. Die langen grauen Gänge mit den Wohnungen sind aus nacktem B eton, Licht fällt nur an den Enden hinein. Seine Kumpels wohnen in Nachbartürmen oder in ähnlichen Siedlungen in der Gegend. Früher hat El Rojo mit seiner Familie in einem selbst gebauten Haus aus Holzlatten gewohnt. Das gefiel ihm besser. Sie träumen davon, wieder in eines zu ziehen.

Die Stadt hat die Sozialwohnungen gebaut und dabei ignoriert, wie groß die Familien gewöhnlich sind. Sie wohnen zu fünft in ehemals zwei Zimmern, aus denen sie mittlerweile vier gemacht haben: die Mutter, El Rojo, sein kleiner Bruder Johan (20), wenn er nicht auf der Straße ist, seine Schwester Paula (18) und die Jüngste (14). Sie kam als Samuel auf die Welt, aber sie nennen sie Susana, weil sie das will. Die Küche trennt ein Vorhang vom Rest. In El Rojos Zimmer passt gerade so ein schmales Bett. Überm Bett lächelt Drogenboss Pablo Escobar von einem Poncho, in einer Ecke ist eben noch Platz für El Rojos Schatz: das Fahrrad.

Wenn ihr Sohn mit dem Rad Richtung Berg loszieht, wird seine Mutter ganz unruhig. Sie weiß, dass viele gestorben sind, sie weiß aber auch, wie sehr es ihn fasziniert. „Er hatte einen Unfall und macht einfach weiter“, sagt sie. Also gibt sie ihm ihren Segen, bekreuzigt sich bei jedem Abschied. Vor einem Jahr hat sie es sogar mal selbst probiert und ist hinten bei ihrem Sohn mitgefahren. Langsam, nicht 120 Stundenkilometer. „Es hat mir gefallen, das Adrenalin“, sagt sie. 

Jetzt holt El Rojo das Werkzeug unterm Bett hervor, trägt es in den Gang. Man kann gar nicht so schnell gucken, wie die Jungs das gekaufte Rad zerlegt haben. JD ist da, seine Freundin Mariana – und noch ein paar Jungs aus dem Viertel, die nach und nach mit ihren Rädern den Gang vor der Wohnung bevölkern. Wer nicht schraubt, redet. Es gibt Kekse, Chips und Limo. Irgendwann stellen sie den Lautsprecher im Wohnzimmer an. Rap aus Medellín, über das Leben und Überleben in den Armenvierteln, Drogen, Banden, Frauen. Durch die Musik dringen ihre Gesprächsfetzen. Es geht gerade darum, dass eine Woche Drogen genauso viel kostet wie eine Woche Windeln – und wie viel besser das Geld in Windeln angelegt sei. JD und Mariana sind gerade Eltern geworden. El Rojo ist schon Vater.

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Als es an die ölige Fahrradkette geht, zieht eine Freundin El Rojo das Baseballtrikot über den Kopf. Bloß keine Sauerei an die Klamotten. Mit nacktem Oberkörper schraubt er weiter. Dieser Körper, der das alles aushält. Eine Landkarte aus Tätowierungen und Narben. Darunter zweimal der Name der Großmutter, die Mama, das Wappen des Fußballvereins, ein AK-47-Gewehr am Hals. Ein Spruch am Arm, der verspricht, die Mutter noch im Jenseits zu ehren. Narben von Unfällen mit dem Rad. Linke Hand gebrochen, Ellenbogen gebrochen, Schlüsselbein gebrochen. Schürfwunden an Rücken und Po waren nichts dagegen. Er lacht. Der Hieb im Nacken ist von einer Machete, da habe ihm jemand den Kopf abhauen wollen.

Sein letzter Unfall passierte in der Stadt, nicht auf dem Berg. Da legte ein Taxifahrer eine Vollbremsung hin. El Rojo hatte ein Loch im Bein. Siebzehn Stiche und noch drei unterm Fuß. Die Narbe ist noch frisch. Einen Monat krankgeschrieben und Krücken. Der Chef der Malerfirma warf ihn raus. Um die 250 Euro pro Monat verdiente er umgerechnet mit der Arbeit. Jetzt ist es knapp. „Ich mache alles. Laster beladen, malern, schreinern, Lieferdienste.“ Auch dafür braucht er sein Rad. „Ich wohne so weit oben und muss nach unten ins Zentrum.“ Das kostet mit den öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens ein Zehntel seines Tageslohns – und dauert deutlich länger als mit dem Bike. Die Nachbarin steckt den Kopf zur Tür heraus. Ihr Mann sucht jemanden auf dem Bau. Morgen um fünf Uhr geht’s los. „Passt, mach ich“, sagt El Rojo und schraubt weiter.

Als er mit Gravity Biking anfing, war er zwölf. Da schenkte ihm sein Vater ein Rad, ein ganz einfaches, normales. Doch er hatte die Jungs im Viertel gesehen und in den Sozialen Medien davon gehört und schraubte den Lenker tiefer. Es hat lange gedauert, bis er sein Bike zusammenhatte. Alles Handarbeit. Die Einzelteile können gebraucht ein Monatseinkommen kosten. Nun ist das Rad wie sein Körper, voller Spuren. Da die Tätowierungen und Narben, dort die Sticker:

„Don’t follow me. I do stupid things“, steht auf einem. „Dein Hintern“ (Tus nalgas), steht hinten.

El Rojo hat schon Freunde verloren, die mit dem Rad tödlich verunglückt sind. Gefahren gibt es genug. Abwasserrinnen, Löcher, Laternenpfähle, ein Felsen. Die Bikes werden zu schnell, und du fliegst aus der Kurve. Trotzdem kann er nicht aufhören. „Gravity holt dich raus aus den Problemen. Du bist mit dem Kopf woanders. Wenn du runterfährst, vergisst du alles. Die Probleme daheim, die Probleme auf der Straße.“

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Früher hatte er davon viele. „Ich habe mich mit vielen geprügelt. Sie haben nur etwas gesagt, und ich ging schon in die Luft.“ Er gehörte zu den Hooligans, verteidigte seinen Fußballverein buchstäblich bis aufs Blut. Damals liefen er und seine Freunde mit Macheten herum, wie alle. Auch auf dem Rad hatten sie die Machete dabei, falls ihnen jemand blöd kam oder es ihnen stehlen wollte. „Ich war neben der Spur“, sagt er. 

Von vierzehn bis siebzehn sei seine verrückte Zeit, seine vida loca gewesen. Dann zog er mit der Familie in die Siedlung und begann eine Beziehung mit einem Mädchen, die sechs Jahre dauerte. „Sie ließ mich die Welt mit anderen Augen sehen.“ Er fuhr noch Rad, aber er ging nicht mehr ins Fußballstadion. Ein weiteres Mal veränderte sich sein Leben, als er Vater wurde. Das Bild auf seinem Telefon zeigt ein lächelndes Baby mit rosa Mützchen, sie ist jetzt sieben Monate alt. „Meine Prinzessin.“ Sein zweites Kind, ein Sohn, wird in drei Monaten auf die Welt kommen. Mit keiner der Mütter ist er zusammen, aber: „Ich will Verantwortung für meine Kinder übernehmen.“

Er rast also nicht mehr täglich zum Spaß die Berge hinab, sondern nur ein-, zweimal die Woche. Hat mittlerweile auch einen Helm, Knieschützer und einen Brustschutz. Zieht er nicht immer an, aber hat er.

„Gravity macht mich glücklich. Wenn ich da oben auf dem Berg ankomme und um mich herum sind lauter Freunde, wir begrüßen uns – und dann stürzen wir uns alle hinunter.“ Manchmal hat er Angst, nicht mehr nach Hause zu kommen. „Wegen meiner Mama“, sagt er, nicht seinetwegen. „Ich hab ja dann für immer Ruhe.“

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