Wo die wilden Kerle fahren
Klar will man der Überregulierung ein Schnippchen schlagen. Die Freiheit hochleben lassen, den harten Kerl markieren. Aber was steckt noch hinter dem gefährlichsten Motorradrennen der Welt auf der Isle of Man? Von Oliver Gehrs
Okay, er hat nie gewonnen. Aber er war ziemlich nah dran. Vor ein paar Jahren kam er mit nur drei Sekunden Rückstand als Zweiter ins Ziel, die Jahre davor war er achtmal Dritter, sechsmal auf dem vierten Platz. Okay, manchmal kam er auch gar nicht an. Eigentlich sogar ziemlich oft. Statt einer Platzierung steht dann „DNF“ in der Liste – „did not finish“.
Wie vor fünf Jahren. Nach drei von vier Runden über jeweils 60 Kilometer lag er in Front, der Nächste eine Sekunde dahinter. Die Kommentatoren bekamen sich fast nicht mehr ein: Guy Martin führt! Das ist sein Tag! Endlich gewinnt er die Tourist Trophy! Sensationell, was er für einen Reifen fährt! Aber dann war Martin plötzlich von der Bildfläche verschwunden.
Seine Familie und seine Freunde auf der Tribüne versteinerten. Ein Steward schwenkte die rote Flagge, was so gut wie nie vorkommt. Meist reicht die gelbe. Wenn die ausgepackt wird, ist es schlimm genug. Aber wenigstens können die Fahrer um die Unfallstelle herumfahren, während sich Sanitäter um Verletzte kümmern und Helfer die Trümmer von der Straße räumen. Aber rote Flagge heißt: Abbruch des Rennens. Heißt auch: Da, wo der Unfall war, kommt keiner mehr durch.
Guy Martin ist genau der Typ, den die meisten Engländer lieben. Ein ehrlicher Arbeiter, im Hauptberuf Lkw-Mechaniker. Einer mit Dreck unter den Nägeln, der gern erzählt, wie er sich nachts neben seine Maschine in den Transporter haut und sich vor dem Einschlafen zufrieden einen runterholt. Oder wie er mal eine Silvesterrakete aus dem Hintern starten ließ oder mit dem Mountainbike in die Mechanikergrube fuhr. Dabei sieht er auch noch aus wie ein Rockstar. Gekonnter Out-of-bed-Look, verwuschelte Frisur, buschige Koteletten. Seit 2004 versucht Guy Martin die Tourist Trophy zu gewinnen. Dieses legendärste, gefährlichste aller Straßenrennen, das seit 1907 auf der Isle of Man, einem wildromantischen Steuerparadies mit weiten Stränden, Klippen und gepflegten Golfplätzen zwischen Irland und England, ausgetragen wird.
Die Insel mit rund 86.000 Einwohnern gehört nicht zum United Kingdom oder zur EU. Sie ist als eine Art Kronkolonie so was wie eine Privatangelegenheit der Queen, und als solche gönnt sie sich ein schönes Maß an Anarchie: Die Katzen haben keine Schwänze, die Schafe vier Hörner und die meisten Straßen kein Tempolimit. Als in England Anfang des 20. Jahrhunderts Straßenrennen verboten wurden, zogen die Fahrer auf die Insel. Der ursprüngliche Rennkurs war nur 25 Kilometer lang, 1911 wurde erstmals auf dem Mountain Course gefahren – der bei Straßenrennfahrern bis heute für Adrenalinschübe sorgt und den großen Rest den Kopf schütteln lässt: 60 Kilometer durch pittoreske Örtchen mit Cottages und roten Telefonzellen auf den Bürgersteigen, dann wieder über Landstraßen entlang der Felder, die oft uralte Steinmauern säumen. Mehr als 200 Kurven, manche davon haben 180 Grad – sie heißen dann Hairpin oder Gooseneck. Der Gänsehals, klar, hat schon einige Fahrer verschluckt.
Zu Anfang fuhr man auf Maschinen, die noch Pedale hatten, damit man ordentlich treten konnte, um überhaupt einen Hügel hinaufzukommen, schließlich geht es auf den 600 Meter hohen Inselrücken. Das alles war noch recht gemütlich, doch die Ingenieurskunst sorgte bald für schnellere Zweiräder. Den ersten Toten gab es 1927: Bei einem der Trainingsläufe, die damals im laufenden Verkehr abgehalten wurden, raste Archie Birkin beim Versuch, einem Lieferwagen auszuweichen, in eine Mauer. Die Kurve, wo es ihn erwischte, heißt seitdem Birkin´s Bend.
Ende der 20er Jahre betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit auf dem Kurs 120 Stundenkilometer, 50 Jahre später schon 180. Heute fahren die schnellsten Fahrer die Runde in rund 17 Minuten, die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt also bei 220 Stundenkilometern, auf manchen Geraden erreichen die Fahrer an die 330. Häuser, Kirchen, Zuschauer, Schafe, Alleebäume, Telegrafenmasten – alles fliegt vorbei. Dazu ein sirrender Ton wie bei einer Nähmaschine, die durchdreht.
Guy Martin kennt jeden Splint seines Bikes, er weiß, wann er besser die Gabel austauscht, welcher Kolbenring Ärger macht. Er traut nur wenigen Mechanikern, deswegen gibt es immer wieder Streit mit Teams, die ihn anheuern und deren Manager gewohnt sind, das Sagen zu haben. Martin schraubt am liebsten selbst an seinen Motorrädern herum, dazu erzählt er etwas in der Art, dass die Reifen zu ihm sprechen. Dass sie ihm die Beschaffenheit der Straße übermitteln, dass er genau spürt, wie viel Bodenhaftung er noch hat.
Als er sich am 6. Juni 2010 auf seiner 210-PS-Honda bei Ballagerey Corner mit hohem Tempo in die gar nicht mal so scharfe Rechtskurve legte, muss der Reifen wieder zu ihm gesprochen haben –und was er sagte, hörte sich nicht gut an. Er war nämlich kurz davor, den Grip auf der Straße zu verlieren, und dabei blieb es auch, als Martin versuchte, mit sanften Manövern gegenzusteuern. Ein bisschen mit dem Knie ausbalancieren, ein bisschen Gas wegnehmen. Nutzte alles nichts. Das Vorderrad rutschte weg, und die Honda Fire Blade driftete ungebremst auf die Mauer zu.
Auch wenn jedes Jahr für zwei Wochen eine Invasion von Motorradfans aus aller Welt einsetzt, bleibt das Spektakel auf der Isle of Man sehr britisch: ein Fest für Exzentriker mit schwarzem Humor, der angesichts von 240 toten Fahrern (das ist nur die offizielle Zahl) auf keinen Fall schaden kann. So befinden sich Start und Ziellinie direkt am Friedhof, ein kleines Denkmal erinnert dort an all die Verunglückten. Auf kleinen Metallplatten stehen Namen und warme Billetts zum Abschied: „Sein letzter Boxenstopp“, „Er fährt immer noch“ oder: „Ein feiner Mensch, der für seinen Traum starb.“ Für den Traum sterben, das hört man auf der Insel immer wieder. „Wenn ich sterbe, dann sterbe ich wenigstens bei meiner Lieblingsbeschäftigung“: Das sagen im Interview acht von zehn Fahrern – und sieben gucken dabei sehr ernst.
Guy Martin, der bei aller Lkw-Mechaniker-Attitüde ein Vollprofi ist, sagt das natürlich auch, nur eben ein bisschen lässiger: „Andere gehen gern in den Pub, machen mit Frauen rum, ich fahr eben lieber Motorrad.“ Das Wichtige dabei ist, dass Guy Martin so aussieht, als könnte er jede kriegen, aber er setzt sich eben lieber auf seine Maschine, und was er dann so abliefert, spricht schon sehr dafür, dass er niemandem einen Bären aufbindet – mit seinen Sprüchen von wegen Todesverachtung und keine Frauen: Allein beim Ulster Grand Prix, einem Straßenrennen in der Nähe von Belfast, hat er zehnmal gewonnen.
Im Motorradzirkus sind amüsante Typen wie Martin eher die Ausnahme. Bei den Rennen herrscht eine ziemlich bodenständige Atmosphäre, es dominieren die Schweiger und In-sich-Gekehrten. Kein Lewis Hamilton mit Brillie im Ohr und Selfies, kein Zickenkrieg im Fahrerlager, keine Millionengagen. Eher Typen mit kleinem Bierbauch (sie sagen, dass die Stürze dann weniger wehtun) und auch ziemlich kleinen Träumen. Die meisten sind schon froh, wenn sie einen Rennstall finden, der ihnen die oft mehrere hunderttausend Euro teuren Maschinen finanziert – zumal die regelmäßig ersetzt werden müssen. Zu einer erfolgreichen Karriere gehört ein riesiger Schrotthaufen. Das Stürzen gehört dazu, und auf den normalen Rennstrecken haben die Fahrer auch den Raum dafür, sie fliegen in Heuballen oder in Fangzäune. Auch dabei gibt es ab und zu Tote, aber selten. Auf der Isle of Man ist es anders. Es gab nur ein Jahr ohne Tote, das war 2001. Da fand das Rennen nicht statt, weil die Maul- und Klauenseuche wütete. In all den anderen Jahren zerschellten Fahrer an Mauern, flogen wie Gliederpuppen in hohem Bogen in die Landschaft oder rissen Zuschauer, die gern nah am Geschehen sein wollten, mit in den Tod.
Über den Tod aber reden sie auf der Insel nicht gern, verständlich. Lieber erzählen sie sich in den mit Fotos legendärer Rennen tapezierten Pubs die schrulligsten Anekdoten. So soll über 50 Jahre lang an einer bestimmten Stelle ein Mann aus Wales gestanden haben, den jeder der Fahrer grüßte, egal wie hoch das Tempo war. Ein Fahrer fällte mit seiner Maschine einen Telefonmast, in dem Kabelknäuel, das anschließend auf der Straße lag, wurde ein anderer Pilot fast geköpft. Und Joey Dunlop, ein irischer Barbesitzer und mit 26 Siegen bis heute der erfolgreichste Fahrer, hatte angeblich ein Bohrloch im Sturzhelm, durch das er eine letzte Zigarette vor dem Start rauchen konnte. Dunlop, der mit seiner Vokuhila aussah wie der kleinere Bruder von Rod Stewart, starb nicht auf der Isle of Man, obwohl es oft knapp war. Auf Videos von seinen Fahrten sieht man ihn nur Zentimeter entfernt von den Steinmauern um die Kurven brettern. Dunlop starb (als er alle Tourist Trophys, die er gewinnen wollte, gewonnen hatte) bei einem unwichtigen Rennen in Estland, als er gegen einen Baum fuhr.
Und dann gibt es noch die Geschichten über die Nazis, die unbedingt zeigen wollten, dass die deutsche Rasse auch beim Motorradfahren überlegen ist, und viele Reichsmark in die Entwicklung grimmiger Kräder investierten. Mit Erfolg: 1938 gewann mit Ewald Kluge auf DKW der erste Deutsche, 1939 zog Georg Meier auf BMW nach. Es spricht für die Engländer, dass man den schnellen Meier Schorsch zum 50. Jubiläum seines Sieges noch mal eine Ehrenrunde drehen ließ.
Als Guy Martin stürzte, hatte er gerade 250 Stundenkilometer drauf. Das Vorderrad drehte durch, das Bike schoss auf die gegenüberliegende Mauer zu. Martin überlegte kurz abzuspringen, dann dachte er: Whatever will be will be.
Es gibt ein Foto von dem Unfall, auf dem sieht man eine vier Meter hohe Feuerwalze. Oben links sieht man ein kleines rotes Oval, das ist der Tank, unten rechts einen kleinen dunklen Fleck, das ist Martins Fuß.
„Es sah aus, als wäre eine Bombe explodiert. Plötzlich sah ich brennende Hecken und das, was vom Motorrad übrig geblieben war. Und dann sah ich ihn da liegen …“, sagte ein Fahrer, der unmittelbar nach dem Crash den Unfallort erreichte.
„Ich sah ihn durch die Luft fliegen, dann diesen riesigen Feuerball, und ich dachte, hoffentlich ist noch etwas zu retten“, sagte ein Sanitäter, der nicht weit entfernt stand und zu Hilfe eilte.
„Ich hatte Glück, vier gebrochene Rückenwirbel, vier gebrochene Rippen, die Lunge angerissen, das geht eigentlich“, sagte Guy Martin, als er am Abend im Nobles-Krankenhaus in der Inselhauptstadt Douglas seine Freunde empfing. Ein Jahr später trat er wieder an.
Man kann, man muss das vielleicht krank finden und darf dennoch staunen, dass es Menschen gibt, die das können: Sich anderthalb Stunden lang jede Sekunde konzentrieren, mit Tempo 300 andere Fahrer überholen, nicht an das denken, was passieren kann, nicht an alle, die sich Sorgen machen. Die völlig bei sich sind, völlig bei der Sache.
Im Jahr nach dem Unfall wurde Guy Martin wieder Zweiter, im vergangenen Jahr wieder. Die Rolle, die ihm abseits der Rennstrecke zugefallen ist, wird immer größer. Er hat eine Autobiografie geschrieben und eine TV-Sendung bekommen, in der er Geschwindigkeitsrekorde aufstellt. Er ist der Motorrad-Rockstar, dessen Fans mit Wuschelperücke und angeklebten Koteletten auf der Isle in den Kurven stehen und ihn siegen sehen wollen. Aber man gewinnt nur, wenn man die Bodenhaftung nicht verliert.