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N° 84, Nerven

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Bitte mach, dass ich reinkomme: In der Schlange vor dem angesagtesten Club der Welt

Von Marc Fischer

Eine Samstagnacht Ende Februar, Wriezener Bahnhof, 2.35 Uhr. Ricardo, Maria, Jose und Angelina, kleine, dunkelhaarige Spanier allesamt; Studenten der Literatur, Geschichte, Linguistik allesamt; in ihren Zwanzigern allesamt; stehen im hinteren Drittel einer sechzig Meter langen Menschenschlange vor einem ehemaligen Heizkraftwerk, das sich wie eine zerlumpte Burg vor ihnen erhebt. 
„Mir ist kalt“, sagt Angelina. 
„Mir auch“, sagt Maria. „Ich hätte doch die Snowboardjacke anziehen sollen.“ 
„Auf keinen Fall“, sagt Ricardo. „Dann hätten wir gar nicht erst zu kommen brauchen. Oder hast du vergessen, was Jaime passiert ist?“ 
„Jaime kam nicht rein?“ 
„Jaime kam nicht rein.“ 
„Weil er eine Snowboardjacke anhatte?“ 
„Weil er aussah wie ein Vollidiot.“

Seit Freitagmittag sind die vier in der Stadt, mit Easy Jet über Schönefeld, 34.99 Euro, Handgepäck only, no drinks, no food. Sie wohnen in einer Pension in Kreuzberg und haben sich ein paar Dinge angesehen in Berlin, Siegessäule, Brandenburger Tor, Galeries Lafayette, das Stelenfeld des Mahnmals für die Juden, aber eigentlich geht’s nur um dieses Gebäude am Wriezener Bahnhof: „El Berghain“, wie sie sagen, das „Berghain“. 
Strenggenommen könnte man es einen Club nennen, also die Art Veranstaltung, bei der ein paar Djs ein paar Platten auflegen und ein paar hundert Menschen glücklich machen – doch wer die Feiern im Berghain so beschreibt, für den ist die Sixtinische Kapelle auch bloß irgendeine Kirche und die Freiheitsstatue nur eine Grünspan-Lady, die mit einer Fackel im Wasser rumsteht und auf einen Haufen Penner wartet. Richtiger wird’s, wenn man’s so sagt: Ägypten hat die Pyramiden, Rom hat den Vatikan, Granada hat die Alhambra, Berlin hat das Berghain. Der Ort ist zu einem Mythos geworden, man spricht von ihm wie von einem Hieronymus-Bosch-Bild: als Paradies des Exzesses, Fotografieren verboten. Jedes Wochenende fliegen Spanier, Franzosen, Italiener, Portugiesen, Holländer zu Tausenden ein und warten mit leuchtenden Augen auf Einlass, stundenlang. Sie erhoffen das Unfassbare hier, lebensverändernde Erfahrungen, die sie kulturell/spirituell/sexuell weiterbringen. 
Falls sie reinkommen.

3:02 Uhr. Die vier gewinnen ein paar Meter. Hinten wächst die Schlange bis zum Taxistand, sie wird immer bunter, überraschend viele tragen Rucksäcke und sehen aus wie Interrailer, ja sind die denn irre? Mindestens die Hälfte von ihnen wird es nicht reinschaffen. Man wird sie auf die Straße zurückstoßen wie unerwünschte Fremde. Alle anderen werden es drinnen umso mehr genießen. 
„Stimmt es, dass sie dort den letzten wahren Techno spielen?“ Maria sieht hin zur Burg, über Hunderte von Köpfen hinweg, die vor ihr anstehen und plappern und zwitschern, leise auf deutsch, laut auf italiano, espanol, portuges, hollandaise. Weiß Wowereit, welche Bedeutung der Club für die Stadt hat? Hoffentlich nicht. Rotes und blaues Licht blitzt aus den Fenstern der weiter oben liegenden Panoramabar, ab und zu wummert es und bummert es und kawummert es. 
„Ist es wahr, dass Berlin da drin noch das alte Berlin ist, das Rave-Berlin der zerfallenen Häuser, der Party-Revolucion, des ewigen Tanzes?“ 
„So erzählt man sich’s“, sagt Ricardo, der es selber erzählt bekommen hat, von einem, der es von einem erzählt bekommen hat, der wirklich dagewesen sein soll und seitdem ein anderer geworden sei, besser, sagen alle. Den Rest hat Ricardo im Internet zusammengegoogelt. 
„Stimmt es, dass die Leute auf den Toiletten Sex haben?“ fragt Maria. 
„Vor allem auf den Gängen, habe ich gehört“ 
„Ist es wahr, dass es einen Bereich gibt, den man nur nackt und mit einer Baulampe auf dem Kopf betreten darf?“ 
„Der soll vor allem für die Schwulen sein und Lab.Oratory heißen oder so“ 
„Stimmt es, dass es drinnen überall Drogen gibt?“ 
„Wie sonst sollte man es aushalten?“ 
„Fast habe ich etwas Angst“, sagt Maria und greift Angelinas Hand.

Angelina, kleinste der vier, lächelt unsicher, sie hat die ganze Zeit kaum etwas gesagt. Sie ist hier, weil Jose herwollte, den sie liebt, und ob Jose sie gerade wirklich gern dabei hat, ist schwer zu sagen. Sie könnte sich später als hinderlich erweisen, falls sich in den Gängen oder Toiletten etwas ergibt. „Das mit der Angst ist doch gut“, sagt Jose. „Wo sonst auf der Welt gibt es das noch – einen Club, vor dem man Angst hat? Ein Club, bei dem es um etwas geht? Ein Club, der ein kleiner Test ist?“ In Spanien gehen sie den Jakobsweg, er führt ins Licht, hier gehen sie den Berghainweg, er führt ins Dunkle. Und über Sven Marquardt, den Türsteher. El Gorila, sagt Ricardo.

3:35 Uhr. 
Marquardt hat ein Gesichtstattoo und viele Ringe im Gesicht, auch in den Lippen, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass es nicht ganz einfach ist, herauszufinden, wer ihm gefällt und wer nicht. In anderen Clubs gibt es meist ein klar erkennbares System: Turnschuhe gehen oder Turnschuhe gehen nicht; Krawatte ist der Tod oder toll; nett abnicken läuft oder läuft nicht. Auch Marquardt hat ein System, aber mit ihm ist es ein bisschen wie mit dem Türhüter in Kafkas Geschichte „Vor dem Gesetz“: Irgendeinen Schlüssel gibt es, aber welchen und wer hat ihn gerade? Ist mein rasierter Schädel okay, oder hast du, Gott der Nacht, vielleicht gerade überhaupt keinen Bock darauf? Gucke ich zu betont lässig oder nicht lässig genug? Wie gucke ich überhaupt, und was hat das zu bedeuten, dass ich jetzt darüber nachdenke, wie ich gucke? Und was für ein Mensch bin ich eigentlich, ein sicherer, ein unsicherer, irgendwas dazwischen? 
Ein Club ist wohl dann gut, wenn er es schafft, solche Fragen in den Schlangestehenden hervorzurufen, existenzielle Fragen, Grundsätzliches. Marquardt kriegt es hin, dass man sich solche Fragen stellt. Und wie der Ruf des Berghain selbst ist auch der von Marquardt inzwischen zu mythischer Größe gewachsen.

„Ein Freund von mir meinte neulich, er sei gar kein Mensch, sondern ein Reptil“, sagt Ricardo. „Eine Echse oder sowas.“ 
„Wer meinte das – der Volltrottel Jaime, der noch kein einziges Mal drin war?“ fragt Maria. 
„Nein, Antonio sagte das“, sagt Ricardo, als Marquardt und seine zwei Vasallen, Typ SS-Kickboxer, gerade vier Italiener nachhause schicken. 
„Was war jetzt falsch an denen?“ fragt Jose. 
„Der eine hatte ziemlich schlimme Turnschuhe an; so Angeber-Dolce&Gabbanas in rotweißgrün. Außerdem waren sie ziemlich laut“, sagt Ricardo. Er selber trägt Nikes, aber Ricardo beginnt langsam zu verstehen, dass sowas hier gar nichts bedeutet. Dass solche Codes von vorgestern sind, die vielleicht in Barcelona, Mailand und New York noch gelten, aber nicht hier. Hier meinen sie’s irgendwie ernster. Kein Ausgehen auf der Welt hat so etwas Sakrales wie das Berghainsche. Die Geschichten, die man sich davon erzählt, handeln nicht von irgendwelchen Top-Models, die mal nicht reingekommen sind oder von Fernsehstarlets, die mit Drogen auf der Toilette erwischt wurden. Sie handeln von Menschen, die sich oft tagelang in den Katakomben des Clubs herumgetrieben haben, in allen möglichen Aggregatzuständen. Sie handeln von Zombies, Wirren, Irren. Einige gingen heterosexuell rein und kamen schwul wieder heraus, bei anderen war es umgekehrt. Es sind Fegefeuergeschichten, die das Berghain erzählt. Und weil die Hitze des Fegefeuers so stark ist, kommen soviele Menschen von überall aus der Welt her – weil sie spüren, dass keine weltliche Institution aufpasst und man hier verlorengehen kann. Falsch: verlorengehen will. Darum machen sich die vielen kleinen Europäer und Europäerinnen auf den Berghainweg: um sich in Schwärze aufzulösen. Um zusammen mit anderen kleinen Seelen verschluckt zu werden im verrotteten Körper eines Wracks von Kraftwerk. 

4.12 Uhr. Ricardo, Maria, Jose und Angelina, kleine, dunkelhaarige Spanier allesamt; junge Studenten des Lebens allesamt; unsicher allesamt; stehen vor einem kräftigen Echsenmann mit Tätowierung und Ringen im Gesicht. 
Maria denkt: Zum Glück keine Snowboardjacke. 
Ricardo denkt: Bitte, Echse, por favor. 
Jose denkt: Ja, ich will. 
Angelina denkt: Vater unser im Himmel. 
Der Echsenmann schaut sie schweigend an. Dann nickt er, wie nur der Echsenmann es kann.

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