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N° 86, Müde

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Vom Zauber der totalen Erschöpfung

Statt den Schlaf mit Apps zu optimieren und sich fit zu machen für den Job, sollte man lieber öfter mal tanzen bis zum Umfallen. Der französische Philosoph Florian Gaité über endlose Partys als Akt des Widerstands 

Interview: Florian Kappelsberger; Fotos: Romain Guédé, Nicole Miquel

Dummy: Stress, Beschleunigung, Burn-out. Müdigkeit ist gerade allgegenwärtig. Aber ist sie wirklich spezifisch für unsere Gegenwart oder nicht schon seit Ewigkeiten an unserer Seite? Bereits Nietzsche klagte über die Barbarei der Erschöpfung.

Florian Gaité: Müdigkeit war schon immer Thema, in allen Epochen und Kulturen. Aber mit der industriellen Revolution gewann sie eine völlig neue Bedeutung, plötzlich wurde sie negativ konnotiert. Müdigkeit und deren Minimierung wurden zu einer wirtschaftlichen Frage. Wie lange konnte man jemanden arbeiten lassen, bis er zusammenbrach und nicht mehr einsetzbar war? Wie viel Schlaf brauchte ein Arbeiter, um in der Fabrik effizient zu sein? Unsere Energie wurde Teil einer kapitalistischen Berechnung.

Dennoch hat man das Gefühl, dass das Thema Müdigkeit in der Gegenwart noch präsenter ist.

Natürlich setzt sich diese Logik heute fort. In der Leistungsgesellschaft gibt es keinen Platz für Erschöpfung: Wir optimieren unseren Schlaf mit Apps, trinken Energydrinks und nehmen Medikamente, um weniger müde zu sein. Der kapitalistische Diskurs vom grenzenlosen Wachstum greift auf unsere Körper über – man will uns glauben machen, wir wären unerschöpflich. Dieses Verständnis von Müdigkeit ist pathologisch, es ignoriert unsere Grenzen und unsere Verwundbarkeit als Menschen. Und das bringt wiederum eine ganze Reihe von Krankheiten hervor: Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen und vor allem Burn-out. Wir leben in einem Zeitalter der totalen Erschöpfung.

Sie schlagen vor, Müdigkeit auch als befreiend zu verstehen – die Erschöpfung des Tanzes, die Atemlosigkeit des Techno.

Häufig gilt Müdigkeit als etwas, das man erleidet. Wir sind müde, weil wir arbeiten müssen, weil wir den ganzen Tag über Termine und Verpflichtungen haben. Im Club ist es etwas völlig anderes: Ich entscheide mich dafür, die ganze Nacht zu tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Ab einem gewissen Punkt geht es dann gar nicht mehr darum, die Anspannung der vergangenen Woche abzuschütteln. Man verausgabt sich ohne Sinn und Zweck, tanzt einfach immer weiter. Dadurch wird das Ganze zu einem Akt der Freiheit, des Widerstands.

Widerstand wogegen?

Gegen den Zwang zur Effizienz. In unserer Leistungsgesellschaft musst du Erfolg haben, ständig produktiv sein, zum Wachstum beitragen. So wird selbst unsere Energie zur Ware. Haushalte mit deinen Kräften, verbessere deinen Schlaf, optimiere deinen Biorhythmus. Auf Technopartys kann man dieser Logik entfliehen. Man verschwendet seine Energie, verschleudert sie geradezu. Diese Erschöpfung ist völlig nutzlos – und darum so bereichernd. Man macht sich ein Stück weit frei von den Dispositiven der Macht, um es mit Foucault zu sagen.

Uns wird diktiert, wann wir aufstehen, wann wir schlafen, was wir essen. Und deshalb erfahren wir die Erschöpfung im Tanz als etwas Befreiendes

Moment mal, was hat Foucault mit Techno zu tun?

Foucault hat das Konzept der Biomacht geprägt: In der modernen Gesellschaft wird Macht nicht mehr von außen und durch Zwang ausgeübt, sondern sie wird zu einer normativen Kraft im Inneren, in unseren Körpern. Diese Biomacht kontrolliert uns, sie lenkt unsere Bewegungen – man fühlt sich fremdbestimmt, entfremdet vom eigenen Körper. Es ist eine Entfremdung im marxistischen Sinn. Denn der Arbeiter hatte nach Karl Marx keinen Einfluss auf die Umstände und das Produkt seiner Tätigkeit. Für mich gilt heute dasselbe für unsere Körper. Wir fühlen uns ohnmächtig, wenn es um unseren körperlichen Rhythmus geht. Uns wird diktiert, wann wir aufstehen, wann wir schlafen, was wir essen. Und deshalb erfahren wir die Erschöpfung im Tanz als etwas Befreiendes: Wir gewinnen die Entscheidung darüber zurück, wie wir uns bewegen, wie wir unsere Energie verbrauchen.

Aber warum sollte das nur für Techno gelten? Meine Energie kann ich in meiner Freizeit auch beim Joggen oder im Gym verschleudern, das macht mitunter ebenso müde und euphorisch.

Stimmt, es gibt unzählige Arten, sich zu erschöpfen. Aber die meisten Hobbys sind mit einem unmittelbaren Zweck verbunden. Oft geht es um Wettkampf, Leistung, technische Perfektion. Beim Feiern, vor allem in der Afterhour, gilt nichts davon. Ich habe lange nach etwas gesucht, aber nichts Vergleichbares gefunden, bei dem man sich so zweckfrei verausgabt. Außer vielleicht beim Masturbieren.

Sie machen den Technoclub zum Ort des Widerstands gegen diesen Zeitgeist. Obwohl doch gerade diese Szene als weitgehend unpolitisch gilt …

Klar, der Club ist kein Ort des politischen Kampfes, man arbeitet dort nicht an der sozialistischen Neuordnung der Welt. Und trotzdem kann man das Feiern, wenn es sich der Marktlogik entzieht, im theoretischen Sinne auch als passiven Widerstand verstehen. Weil man sich verweigert, unangepasst ist und dies in seiner Nutzlosigkeit nicht der Logik unserer Leistungsgesellschaft entspricht.

Ist der Technoclub nicht ebenfalls eine ganz eigene Hochleistungsgesellschaft, in der die Müdigkeit mit Kokain, Speed und MDMA auf Abstand gehalten wird?

Ganz und gar nicht. Ich verstehe diese Stimulanzien als Techniken, die uns erlauben, uns zu verausgaben. Um eine befreiende Erschöpfung zu erreichen, brauche ich Energie. Je mehr Energie ich habe, desto weiter kann ich gehen. Diese künstlichen Mittel haben also weniger den Zweck, vom Schlafen abzuhalten, als dabei zu helfen, sich maximal zu erschöpfen.

Das ist ein ziemlich romantischer Blick auf den Drogenkonsum. Denn wie frei ist man wirklich, wenn man sich die Fähigkeit zur Erschöpfung und Ekstase mit Drogen erkauft?

Die Grenzerfahrung im Techno – Alkohol, Drogen, laute Musik – hat etwas Zerstörerisches, ja, auch ein wenig Todessehnsucht. Aber darin liegt ein emanzipatorisches Potenzial: Man bringt seinen Körper ans Limit, macht ihn funktionsunfähig. Wer bis zum Umfallen tanzt, wer am Ende auf einem Sofa strandet und sich nicht mehr rühren kann, löst sich aus der Logik der Produktivität. Er existiert nicht mehr, um etwas zu leisten. Er existiert einfach nur noch.

Besinnungslosigkeit als Utopie?

Es ist wie mit der Poesie: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sagt, Poesie entsteht, wenn Funktion und Zweck wegfallen. Genau das passiert beim Feiern. Man verliert seine soziale Funktion, die Kontrolle über seinen Körper, man wird nutzlos. In diesem Zustand verschwinden alle Möglichkeiten zu handeln. Ich bin leer, ich fühle die gesamte Schwere der Existenz, das Gewicht meines Körpers, die Schmerzen in meinen Gliedern. Es ist das nackte Leben.

Tempo, Beschleunigung, absolute Verausgabung: Ihre Philosophie liegt ein bisschen quer zum Diskurs der Gegenwart, der gerade von Achtsamkeit und Degrowth geprägt ist.

Einerseits stimme ich Philosophen wie Byung-Chul Han zu: Wir müssen der Erschöpfung unserer Gesellschaft damit begegnen, dass wir entschleunigen, Auszeiten nehmen, weniger produzieren und konsumieren. Andererseits denke ich, es muss trotzdem weiterhin Orte geben, an denen man beschleunigt. Auch das ist eine Antwort auf die Erschöpfung: Mich komplett zu verausgaben, erlaubt mir, mir meine Müdigkeit anzueignen, die Kontrolle zurückzuerobern.

Wir lernen, in Ketten zu tanzen, wie Nietzsche es ausdrückte. Selbst wenn man danach mit einem Kater aufwacht

Die Befreiung am Wochenende ist allerdings teuer erkauft. Am Montagmorgen muss man wieder im kapitalistischen System funktionieren, dann aber mit einem gehörigen Kater.

Wir werden den Montagmorgen nicht los, wir werden die gesellschaftlichen Zwänge nicht los, solange wir Gefangene des Produktivismus sind. Das ist die Realität. Aber genau deshalb braucht es Räume, in denen man alldem ein Stück weit entfliehen kann, wenn auch nur ein Mal in der Woche. Lernen, in Ketten zu tanzen, wie Nietzsche es ausdrückte. Selbst wenn man danach mit einem Kater aufwacht.

Aber wie frei ist man wirklich, wenn man die Woche über nur darauf wartet, dass es wieder Freitagabend wird? Darin liegt doch eine gewisse Tragik.

Meine Philosophie der Erschöpfung ist kein politisches Programm: Ich spreche nicht davon, wie unser Lebensentwurf außerhalb des Feierns aussehen sollte. Die Party schafft einen Raum mit völlig eigenen Regeln. Das Feiern befreit uns, eben weil es mit dem Rhythmus und den Formen des Alltags bricht. Das ist die Conditio sine qua non, ob tragisch oder nicht. Trotzdem sehe ich die Dinge nicht schwarz-weiß: Es ist nicht so, als ob allein das Feiern die Rettung wäre. Und als ob Arbeit und Alltag nichts als Leid und Langeweile bereithalten. Ganz und gar nicht.

Welche Rolle haben Ihre eigenen Erfahrungen dabei gespielt, diese Gedanken zu entwickeln?

Ich erinnere mich an ein prägendes Erlebnis, das erste Mal in Berlin mit meinem Freund vor etwa fünfzehn Jahren. Wir gingen feiern, in verschiedene Bars, ins Berghain. So tanzten wir quasi das ganze Wochenende durch – etwas, das ich aus Frankreich vorher nicht kannte. Am Ende konnte ich kaum mehr laufen. Meine Knöchel taten weh, der Rausch ebbte ab, und ich war todmüde. Und in diesem Moment fing ich an, vor Freude zu weinen. Damals begriff ich, dass Erschöpfung auch glücklich, sogar euphorisch machen kann, wenn man sie frei wählt.

Und heute? Sind Partys quasi Teil Ihrer Feldforschung?

Partys sind ein zentraler Teil meines Lebens geworden, politisch und philosophisch. Ich kann mir kaum ein Wochenende vorstellen, ohne auszugehen. Mittlerweile bin ich über vierzig, irgendwann werde ich wohl runterschalten müssen. Aber im Moment ist es so: Je mehr ich über das Feiern nachdenke, desto mehr Lust zu feiern bekomme ich.

Wer wie Sie im Büro arbeitet und sich eine gute Work-Life-Balance leistet, kann am Wochenende bis zum Umfallen tanzen. Jemand, der auf der Baustelle arbeitet und körperlich erschöpft ist, hat darauf vielleicht weniger Lust. Funktioniert Ihre Theorie nur für Privilegierte?

Während meiner Recherchen bin ich auf etwas historisch Interessantes gestoßen: Sklaven haben ganze Nächte damit verbracht, zu tanzen – mit Absicht machten sie sich weniger effizient für die Arbeit auf dem Feld am nächsten Tag. Ich will uns nicht mit ihnen vergleichen, aber die Geschichte zeigt: Je größer die Entfremdung, desto wichtiger wird die heitere Leistungsverweigerung als Überlebensstrategie. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und habe nie erlebt, dass meine Eltern sich schonten beim Feiern – auch wenn sie eher in Kneipen oder auf Dorffesten unterwegs waren als auf Raves. 

Florian Gaité ist Professor für Philosophie an der École Supérieure  d’Art d’Aix-en-­Provence und beschäftigt sich unter anderem damit, wie sich der Kapitalismus auf unseren Alltag und auf die Kulturwelt auswirkt.

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