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N° 85, Kindheit

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Vom Himmel hoch

Was passiert, wenn ein Flugzeug mit 2.700 Kilo Marihuana im Yosemite-Nationalpark abstürzt und Tausende Hippies davon Wind bekommen? Genau

Von Greg Nichols; Illus von Jindrich Novotny; aus DUMMY „Drogen“, neu editiert 12/24

Jemand will ihn umbringen – dieser Gedanke war Jon Glisky erstmals gekommen, als er am Motor seines Flugzeugs ein beschädigtes Ölventil entdeckte. Kein normaler Verschleiß, da war er sich sicher. So erzählte er es auch seiner Frau, als er sie von einem Hotel in Las Vegas aus anrief, wo er auf seinen nächsten Einsatz als Kurier wartete. Nach dem Telefonat traf er in einem Steakhaus einen alten Kumpel aus der Army. Sie tranken, lachten und quatschten über ihre Zeit in Vietnam, bis Glisky seine Sorgen vergaß. 

Am nächsten Morgen stieg er mit seinem Co-Piloten Jeff Nelson in das zweimotorige Ungetüm vom Typ Howard 500, einem robusten Mehrzweckflugzeug, für das man Teile alter Militärmaschinen verbaut hatte. Nach dem Start in Vegas drehte Glisky nach Süden ab, Richtung Mexiko. Er überflog die Grenze und landete im Bundesstaat Baja California auf einem unbefestigten Flugplatz. Am Abend wurde die Howard im Schutz der Dunkelheit mit 2.700 Kilo Marihuana beladen. Gliskys Auftraggeber in Washington kaufte das erstklassige Gras in Achtzehn-Kilo-Jutesäcken. 

Am 9. Dezember 1976 hoben Glisky und Nelson noch vor dem Morgengrauen ab. Zurück im US-Luftraum, flogen sie in geringer Distanz zur kalifornischen Küste, wo jeder das Flugzeug für einen Firmenflieger hielt, der Geschäftsleute nach San Francisco oder Seattle brachte. Geisterhaft glitt die Howard 500 unter dem leuchtenden Dreiviertelmond die Gebirgshänge der Sierra Nevada hinauf.

Eine abgebrochene Tragfläche hing zwischen den Tannenbäumen wie eine Brücke

Nach den Weihnachtstagen war es im legendären Ahwahnee Hotel im ­Yosemite-­­Nationalpark ruhiger geworden. Ron Lykins, der als Kellner arbeitete, plante mit drei Freunden im Hinterland des Yosemite eine Schneeschuhtour. Ein bisschen die Einsamkeit genießen in dem 3.000 Quadratkilometer großen Park mit den zahlreichen Granitfelsen.

Lykins und seine Freunde parkten ihr Auto da, wo die Schneepflüge aufgegeben hatten. Mit Schneeschuhen gingen sie den mäandernden Pfad hoch, um möglichst schnell auf den Berghang zu kommen. Lykins, der voranging, erreichte eine leicht abfallende Senke, in deren Mitte er einen glitzernden See sah, den gut zwei Hektar großen Lower Merced Pass Lake, der nur auf wenigen Karten verzeichnet war. Dann erblickte er etwas Ungewöhnliches. Aus der Ferne wirkte es wie eine zwischen zwei Nadelbäumen aufgehängte Brücke. Erst von Nahem erkannte er, dass es sich um die Tragfläche eines abgestürzten Flugzeugs handelte. 

Im Yosemite war es im Winter zwar ruhiger, dennoch waren die Parkranger auch in dieser Jahreszeit vor Ort. Immer wieder mal musste jemand gerettet werden, oder ein paar Hippies rauchten Haschisch oder zelteten außerhalb der erlaubten Plätze. Aber dass ein Kellner aus dem Ahwahnee bei den Rangern auftauchte und von einem abgestürzten Flugzeug berichtete, war schon etwas anderes.

Tim Setnicka, der Leiter des Such- und Rettungsdienstes im Yosemite, war kaum älter als der Kellner. Er gehörte zu den sogenannten Danger Rangers, die im Yosemite, einer Art Staat mitten in der felsigen Wildnis, das Gesetz verkörperten. Als Erstes rief Setnicka bei der Air-Force-Leitstelle an, um zu fragen, ob ein Flugzeug vermisst wurde. 

Noch bevor die Verwaltung des Nationalparks ein Team von Rangern zusammenstellen konnte, bemühten sich vier weitere Bundesstellen um Zugang zur Absturzstelle – darunter die Drogenbehörde DEA. Aus San Diego schickte der Zoll eine vietnamerprobte Huey, die Agenten und Ranger zur Absturzstelle bringen sollte. Das Dröhnen des angejahrten Hubschraubers brach sich an den Hängen des kilometerbreiten Tals.

Spätestens jetzt war jedem im Yosemite klar, dass irgendetwas Großes vorging.

Aus der Luft betrachtet erstreckten sich die Trümmer der abgestürzten Howard 500 über mehr als einen Kilometer und deuteten wie ein Pfeil auf den Lower Merced Pass Lake. Mit nur einem Flügel und ohne das von den Bäumen abgerissene Heck war der Rumpf über das Eis geschlittert und dann versunken. Der Absturz im Dezember lag mehr als einen Monat zurück, der See war zugefroren und hatte das Flugzeug und jeden an Bord eingeschlossen. Mehrere große Jutesäcke voller Marihuana lagen am Ufer. Zollbeamte und Ranger schwärmten aus, um es einzusammeln. Einige Ballen ragten aus dem Eis wie vermodernde Baumstümpfe.

„Es war eine richtige Sklavenarbeit, weil wir die gefrorenen Marihuanaballen mit Kettensägen zerlegen mussten“, erinnert sich Ranger Setnicka. Anschließend sägten die Ranger für die Tauchmannschaft ein Loch ins Eis, verbogene Metallteile und Drähte hingen in dem flachen See wie bizarre Wasserpflanzen. Unter Wasser stießen die Taucher auf weitere Marihuanaballen und schoben sie durch das ölverschmierte Loch nach oben. Der Versuch, aus dem völlig verzogenen Cockpit die Leichen zu bergen, scheiterte. 

Die schiere Menge der geborgenen Säcke voller Marihuana stellte die Verwaltung vor Probleme. Die Ranger luden die Ballen vor dem Gefängnis von Yosemite ab, das auch die Feuerwache beherbergte. „Wir reservierten eine Zelle für die Marihuanasäcke“, erinnert sich der Polizist Kim Tucker. „Sie sahen aus wie riesige Eiswürfel, diese grüne Blättermasse, alles gefroren. Allmählich tauten die Würfel auf und wurden flüssig, wie eine Packung Spinat, die man aus der Tiefkühltruhe nimmt.“ 

Seit fast einer Woche durchkämmten fünf Teams die Gegend am See, sie untersuchten das Wrack und sammelten alles Marihuana ein, das sie finden konnten. Mitten im Winter konnte der Flugzeugrumpf unmöglich geborgen werden. In der ersten Februarwoche brachte der Hubschrauber die letzten Ranger zurück ins Tal. 

Der Flugzeugrumpf war noch unter dem Eis, ebenso die Leichen und alles, was die Ranger nicht gefunden hatten.

Nachdem Jon Glisky nicht zurückgekehrt war, hatte seine Frau Pam einen seltsamen Traum. Sie sah ihren Mann, den Drogenschmuggler, kopfüber im Cockpit seines Flugzeugs hängen, sein Haar berührte Wasser, sein Körper hing schwerelos im Gurt. Wenig später ging Pam zur Polizei und erzählte alles. Seit Jahren war die DEA hinter Jon Glisky her. Doch trotz ihrer Kooperation bekam Pam von der DEA tagelang keine Informationen, und schließlich machte sie sich mit einem gecharterten Flugzeug selbst auf die Suche. Vergeblich stand sie auf jeder Piste, wo ihr Mann einst gelandet war, und befragte zwielichtige Gestalten. Aber niemand wollte sich an Jon erinnern.

Erst nach Wochen erfuhr Pam, dass im Yosemite ein Flugzeug gefunden worden war. Sie rief daraufhin den einzigen Menschen in Jons Umfeld an, dem sie vertraute, seinen Anwalt Jeffrey Steinborn. Zwar hielt Steinborn seinen Mandanten für einen Mistkerl, doch Pam bedeutete ihm etwas – Jahre zuvor waren sie ein Paar gewesen. Ihr zuliebe reiste er nach Yosemite und hörte sich drei Tage lang in Bars und Restaurants um. Als er einen DEA-Piloten belauschte, der von der Untersuchung im Nationalpark erzählte, kannte er alle Details. Der Flugzeugrumpf war noch unter dem Eis, ebenso die Leichen und alles, was die Ranger nicht gefunden hatten.

An seinem letzten Abend im Yosemite stieß Steinborn schließlich auf etwa ein Dutzend junge Camper, die um ein Feuer herumsaßen. Ohne zu sagen, wer er war, erzählte er ihnen eine fantastische Geschichte über ein Flugzeug voller Dope. „Ich wusste ja, dass Jon Glisky und Jeff Nelson tot waren“, erinnert sich Steinborn, „und wollte einfach, dass jemand das wunderbare Gras raucht, das die beiden aus Mexiko hergebracht hatten.“

Nach diesem Abend verbreiteten sich die Gerüchte wie ein Lauffeuer: Das Flugzeug sei aus Kolumbien gekommen, es gehöre der Mafia und sei Teil eines heimlichen Regierungsprogramms. Es sei randvoll mit Gras, Kokain, Cash. Dann wieder war es eine Falle, ein Mythos, ein Sechser im Lotto. Aber egal, was es war: Ziemlich viele Bewohner des Yosemite begannen, Expeditionen ins Hinterland zu planen. Darunter auch ein paar richtig gute Kletterer wie John Bachar, ein brillanter ­Solist, und Jim Bridwell, der auf mehr als hundert Erstbesteigungen im Yosemite kam. Ein weiterer Bergsteiger war der erst siebzehn Jahre alte Chuck Strader. „Ich war ja zum Klettern da“, sagt er heute, „deshalb achtete ich eigentlich auf nichts anderes, bis mich jemand auf die Grasballen aufmerksam machte.“ Dank ihrer Kondition und Ortskenntnisse waren die Kletterer auf diese einmalige Gelegenheit gut vorbereitet. Mit riesigen Rucksäcken liefen sie den heimtückischen Pfad hinauf, um nach ihrer Rückkehr im Tal ihre Zelte und Lager mit den verbotenen Bündeln vollzupacken.

So wurde Yosemite spätestens im April 1977 von Gras überschwemmt. Die Leute nannten das neue Zeug „Flugzeug“ oder „Trümmergras“. Wegen der Spuren von Flugbenzin sprühte es beim Rauchen manchmal Funken und knisterte, und es gab einen scharfen Kick. Um Ostern herum hatte sich die Geschichte schließlich auch außerhalb des Parks herumgesprochen, und die Kiffer kamen in VW-Bussen aus Fresno, San José und Berkeley. Ron Lykins, der Kellner im Ahwahnee, der das Wrack entdeckt hatte, bekam plötzlich üppige Trinkgelder von den Kletterern. „Als der Frühling kam, sagte ich mir: Ich muss da rauf. Also bin ich nach der Arbeit mit einem Rucksack losgezogen, nur mit einem Schlafsack, ein wenig Essen, einer Axt und ein paar Plastiktüten. Mitten in der Nacht bin ich hochgestiegen.“

Auf dem Höhepunkt dieses Goldrauschs tummelten sich mehr als zwanzig Leute am See. Der Fotograf und Kletterer Vern Clevenger, der den Winter im nahe gelegenen Mammoth verbracht hatte, kam mit vier Freunden. „Wir hatten gehört, dass nicht mehr viel Dope im See war“, sagt er. „Der Vater meiner Freundin war Chef der Straßenbaukolonne. Wir klauten seine Kettensäge und schleppten sie nach oben. Abwechselnd sägten wir an dem Eis. So konnten wir noch eine Menge Marihuana rausholen.“ Aber mit so vielen Leuten von außerhalb war die Stimmung angespannt. „Inzwischen waren viele beschissene Kerle da“, erzählt Clevenger. „Drogenhändler, unangenehme Gestalten aus dem Central Valley. Einer kam zu uns und wollte unser Zeug, aber einer meiner Freunde hielt ihm die Säge an den Hals und sagte: ‚Ich mach dich platt, wenn du näher kommst.‘ Damit war das erledigt. Ehrlich gesagt hatten wir so viel, dass wir gar nicht alles wegtragen konnten.“ 

Einige Kletterer warfen jetzt im Dorf mit Geld um sich, kauften Gebrauchtwagen und neue Rucksäcke. Andere legten ihre Einnahmen auf die hohe Kante. Der Kellner Lykins verwendete seinen unverhofften Gewinn für seine Collegegebühren. Vern Clevenger kaufte mit dem Drogengeld seine erste Nikon und ist heute ein gefeierter Naturfotograf.

Natürlich erfuhren auch die Ranger von dem Massenansturm. Die Straßenarbeiter berichteten von ungewöhnlich viel Verkehr in der Nähe des Mono Lake Trail, die Berufstaucher von einem wahren Ansturm auf Tauchausrüstungen. All diese jungen Leute, die noch nie getaucht waren, wollten es unbedingt im Yosemite lernen.

Am 13. April, der später als Big Wednesday bekannt wurde, stiegen sechs bewaffnete Ranger aus dem Hubschrauber und stürmten den Pass. Einige wurden an den Pfaden postiert, die vom See wegführten, damit niemand fliehen konnte. „Die Leute hatten sich eine richtige Infrastruktur aufgebaut wie die Vietcong in Vietnam: Behelfshütten und Zelte, Feuerstellen, alle Arten von Planen. Wann immer möglich, nahmen sie Geräte zum Graben mit“, erinnert sich Ranger Setnicka. „Wir schnappten ungefähr sechs Gruppen, die zum See aufstiegen“, berichtet sein Kollege Jim Tucker. „Wir verhörten sie einzeln. Die meisten waren keine Kletterer, da sich die Sache inzwischen herumgesprochen hatte.“ Tatsächlich kamen auch die nächsten zwei Monate noch Spätankömmlinge – mit der Vision eines Sees voller Dope im Kopf. 

Erst Mitte Juni war das Eis so weit geschmolzen, dass die Bergung gestartet werden konnte. Am 16. Juni zog eine örtliche Bergungsfirma den Rumpf der Unglücksmaschine aus dem Wasser. Dabei trieb die Leiche von Jeff Nelson an die Oberfläche. Jon Glisky war immer noch im Cockpit angeschnallt, wie im Traum seiner Frau. 

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