Voll verstrahlt
Zahnpasta mit Thorium, Cremes mit Radium, Heilwasser mit Alphastrahlern: Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vergiftete sich eine Weiße Oberschicht an ihrem eigenen Ideal von Reinheit. Diese Obsession hält bis heute an
Von Helena Piontek
Vor hundert Jahren kostet Reinheit 75 Reichspfennig. Im Regal der Apotheke liegt sie, die beige Tube mit roter Schrift: „Doramad Radioaktive Zahncreme“, steht auf der Verpackung der Berliner Auergesellschaft. Sie soll die Lebensenergie wecken, Abwehrkräfte stärken und verspricht ein Lächeln – weißer als jedes andere. Zähne nicht nur sauber, sondern strahlend rein. Wörtlich. Der Grund: Thorium-X, ein radioaktiver, mit Radium verwandter Alphastrahler, der in der Paste steckt – und der einmal morgens, einmal abends mit der Bürste in Zahn und Zahnfleisch massiert werden soll.
Was heute absurd klingt, war damals das Gütesiegel. Wohlhabende Deutsche kauften Doramad nicht trotz, sondern gerade wegen der Strahlung. Strahlung war ein Versprechen. Auf Fortschritt, Wohlstand und Weiße Reinheit.
Die Entdeckung des 88. Elements durch Marie und Pierre Curie im Jahr 1898 löst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Hype aus. Radium gilt als Wunderstoff. Es leuchtet und gibt Wärme ab – eine fast mystische Erscheinung. Strahlung gleicht damals einer Energie, die alles verspricht: Sie kann Leben verlängern, Krankheiten heilen, Körper verjüngen. Schnell findet Radium seinen Weg aus Wissenschaft und Medizin in den kommerziellen Gebrauch – und damit in den Alltag der Menschen.

Im brandenburgischen Cottbus mischen die Schokoladenfabrikanten Burk & Braun in ihre Tafeln Radium als süßen Jungbrunnen, so die Werbung. Klinghoff & Korte aus Heidelberg vertreiben Radiumpastillen zum Lutschen gegen die Müdigkeit. In Bad Kreuznach und Oberschlema suhlen sich Kurgäste in radiumhaltigem Wasser, das gleichzeitig gegen und für alles helfen soll. Auch in Unterhosen, Büstenhaltern und Kondomen findet sich Radium, verkauft mit dem Versprechen von mehr Potenz, besserer Form und gesteigerter Vitalität. In Paris setzt die Firma Tho-Radia ab 1933 auf eine ganze Produktpalette radiumhaltiger Beautyprodukte: Cremes, Puder, Lippenstift, Rouge. Mit einem Gemisch aus Radiumbromid und Thoriumchlorid versprechen sie Falten zu glätten, Poren zu schließen, Fett abzubauen. Leuchtend weiße Haut ist das Ziel, eine Reinheit, die tiefer gehen soll, als auf den ersten Blick sichtbar ist. Weiße Überlegenheit, die von innen kommt. Auf den Werbeplakaten grüßt das Tho-Radia-Mädchen, blass, blond, unnahbar – von unten angestrahlt, als sei ihr Glanz aus einer anderen Welt. Aus einer besseren, weißeren.
Weiß ist mehr als eine Farbe. Für die einen ist es Verheißung, für die anderen Ideologie. In jedem Fall Mittel der Distinktion. Reinheit und Weißsein verschmelzen damals zu einer neuen elitären Ästhetik. Und Radioaktivität wird zum Mittel Weißer Machtfantasien.
Wer es sich leisten kann, strahlt. Buchstäblich. Und zeigt so die Zugehörigkeit zur Weißen Elite. Radium ist das Attribut einer Gesellschaft, die überzeugt ist, die Natur besiegen zu können. Die mit Wissenschaft alles kontrolliert und verspricht, das Leben stark zu verlängern, ja sogar der eigenen Endlichkeit ein Schnippchen zu schlagen.
Und niemand fragt, was es bedeutet, wenn ein Stoff, der leuchtet, in den Körper gelangt. Und bleibt. Thorium und Radium ähneln chemisch Calcium. Der Körper kann den Unterschied nicht erkennen und lagert die giftigen Metalle dort ab, wo eigentlich Calcium hingehört. In Knochen und Zähnen. Dort bleiben sie, weit länger als ein Leben. Radium-226 hat eine Halbwertszeit von 1.600 Jahren, Thorium-232 von vierzehn Milliarden Jahren. Während die Metalle zerfallen, senden sie Alphastrahlen; winzige, kurzreichende Teilchen, die Zellkerne treffen, DNA zerstören, Knochen von innen zerbröseln lassen. Es kommt zu Kiefernekrosen, Blutkrebs, Organversagen. Damit wurde nicht geworben. Das waren die ungeahnten Folgen.
In den USA sorgt ein Getränk für ein Umdenken. Radithor, mit Radium und Mesothorium versetztes destilliertes Wasser, vermarktet als „Heilung für lebende Tote“, soll nach dem Ersten Weltkrieg von Müdigkeit, Impotenz und allgemeiner Schwäche befreien. Radithor ist teuer und begehrt, dennoch gehen über 400.000 Fläschchen in den USA über die Theke.
Eben Byers, reicher Industrieller und Amateurgolfmeister, ist damals so etwas wie die Werbefigur des Heilwassers. Jahrelang trinkt er nach einer Sportverletzung bis zu drei Fläschchen Radithor täglich, so überzeugt ist er von dessen Wirkung. Mehr als 1.400 Fläschchen sollen es insgesamt gewesen sein. Heute liegt der Grenzwert für Radium in Trinkwasser bei 0,1 Becquerel pro Liter. Ein einziges kleines Fläschchen Radithor besaß eine Konzentration von 37.000 Becquerel.
Als Byers schließlich nach zweieinhalb Jahren intensiven Konsums an Krebs erkrankt, ihm Zähne ausfallen, sich Teile seines Kiefers auflösen und er unter Qualen 1932 stirbt, ordnen die Behörden an, seinen Leichnam in einem Bleisarg zu beerdigen. Aus Sicherheitsgründen. Das radioaktive Wässerchen wird verboten.

Auch das Schicksal der sogenannten Radium Girls bewegt über viele Jahre die US-amerikanische Öffentlichkeit. Radium Girls – so nennt man eine Gruppe von Fabrikarbeiterinnen, die jahrzehntelang mit radiumhaltiger Farbe Ziffernblätter für Uhren und Messgeräte bemalen.
Besonders ist das für die Kriegswirtschaft interessant, da die Instrumente durch die leuchtende Farbe im Dunkeln lesbar bleiben. Jeder Strich von Hand gemalt; für präzise Linien bringen die Arbeiterinnen ihre Pinsel immer wieder mit ihren Lippen in Form. Durch jeden Kontakt gelangen winzige Mengen Radium in ihre Körper. Die Folge, ebenso wie bei Byers: Kiefer, die durch die konstante Strahlenbelastung dermaßen porös werden, dass leichte Berührungen die Knochen zerbröseln lassen. Ärzte diagnostizieren bei den Frauen Syphilis und behandeln sie mit Quecksilber und Arsen. Viele sterben. Erst 1924 beschreibt der New Yorker Zahnarzt Theodor Blum in einem Fachmagazin die damalige Berufskrankheit als „Radium Jaw“.
Ein Jahr später publiziert die „New York Times“ eine Geschichte über die Radium Girls. Es dauert noch einmal zwei Jahre, bis ein erster Gerichtsprozess gegen den Arbeitgeber United States Radium Corporation beginnt. Der bestreitet öffentlichkeitswirksam jeglichen Zusammenhang, streut Fehlinformationen und versucht, die überlebenden Frauen zu diskreditieren. Erst als es 1938 der Arbeiterin Catherine Wolfe Donohue gelingt, erfolgreich gegen die Firma zu klagen, stellt diese die Produktion ein und zahlt den Frauen Entschädigungen. Es ist das erste Mal in der US-Geschichte, dass ein Arbeitgeber für die Sicherheit und Gesundheit seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Rechenschaft gezogen wird.
Es sind die fatalen Erfahrungen der Radium Girls, die nach und nach Skepsis säen. Studien klären über den vermeintlichen Wunderstoff auf, erste Strahlenschutzgesetze werden erlassen. 1934 sorgt der Tod der Entdeckerin Marie Curie für Aufsehen, die aufgrund der jahrelangen Strahlenbelastung schließlich an Leukämie stirbt. Spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hat sich die kommerzielle Nutzung von radiumhaltigen Produkten nahezu erledigt. 1945 folgen Hiroshima und Nagasaki – und der Welt wird die alles auslöschende Kraft radioaktiver Stoffe bewusst. Gesetze werden erlassen, Schutzvorschriften eingeführt. Der Glanz des Radiums erlischt. Strahlung steht jetzt für Tod, nicht für Schönheit.
Radium und Thorium verschwinden aus den Regalen, aus den Apotheken, aus den Bädern. Doch das Streben nach Weißer Reinheit bleibt, und ein anderer Stoff wird allgegenwärtig. Stiller und viel alltäglicher als Thorium und Radium: Chlor. Keine funkelnde Werbung, kein Wunderstoff. Ein Geruch, der in der Nase brennt, im Rachen kratzt und die Augen reizt. Chlor war nie elitär, nie umworben und begehrt. Seine Unschuld hat der Stoff spätestens im Ersten Weltkrieg verloren, als mit Chlorgas Zehntausende getötet wurden. Aber Chlor blieb. Machte weiterhin Trinkwasser sauber, Schwimmbäder hygienisch, Oberflächen klinisch rein. Chlor war nie Luxus und versprach keine ewige Jugend. Doch Chlor ist immer noch allgegenwärtig. Während Radium die Oberschicht strahlen ließ, macht Chlor das Wasser der Massen keimfrei. Und nicht nur das. Heute nutzen wir Wasserstoffperoxid für Analbleaching, Carbamidperoxid, um die Zähne aufzuhellen, hemmen mit Hydrochinon die Pigmentbildung, injizieren Toxine, um jünger auszusehen.
Die alten Gifte sind weg, die Logik ist geblieben. Weißer ist besser. Reinheit bleibt ein Ideal. Nur die chemischen Verbindungen haben sich verändert.
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