Völkermord, my dear!
Im Großen und Ganzen war der britische Kolonialismus voll in Ordnung. Diese Lebenslüge hat sich Großbritannien bis heute bewahrt. In Kenia drängen jedoch immer mehr Menschen auf eine Aufarbeitung der Kolonialgeschichte
Von Rasna Warah
Irgendwo auf dem weitläufigen Gelände von Kamiti, einem Hochsicherheitsgefängnis am Rande der kenianischen Hauptstadt Nairobi, liegen die sterblichen Überreste von Dedan Kimathi im roten Sand. Der damals 36-Jährige war der Anführer des kenianischen Freiheitskampfes, im Volksmund Mau-Mau genannt. Kimathi wurde am 18. Februar 1957 von den Briten gehängt – wo genau man seine Leiche vergrub, ist bis heute nicht bekannt.
Im Jahr 1920 erklärte das Empire Kenia offiziell zur britischen Kolonie. Davor galt es als „Protektorat“ – ein Begriff, der vorgibt, die Ureinwohner müssten beschützt werden. In Wahrheit lehrten die selbst ernannten europäischen Beschützer die Kenianer jedoch bald das Fürchten; zunächst indem sie ihnen ihr fruchtbares Land raubten und rund sieben Millionen Hektar Land enteigneten. Dafür siedelten die Briten einen Großteil der Bevölkerung in sogenannte Reservate um. Andere mussten auf ihrem eigenen Land – nur für einen Hungerlohn – für weiße Farmer schuften. „Der erzwungene Eintritt Europas in unsere Welt bleibt als Horrorgeschichte von Brutalität, Grausamkeit, Gewalt und Unmenschlichkeit in Erinnerung“, resümiert die kenianische Schriftstellerin Yvonne Odhiambo Owuor.
Der Unmut der Bevölkerung gegen die Kolonialisten wuchs und führte schließlich 1951 zu ersten gewalttätigen Ausschreitungen. Ein Jahr später eröffnete der Geheimbund Mau-Mau, dem vor allem Mitglieder der Kikuyu-Volksgruppe angehörten, den bewaffneten Kampf, den die Briten in den darauffolgenden Jahren gnadenlos niederschlugen.
Die US-amerikanische Historikerin Caroline Elkins dokumentiert in ihrem Buch „Britain’s Gulag: The Brutal End of Empire in Kenya“ zahlreiche Verbrechen, die im Namen des Königreiches begangen wurden. Mau-Mau-Kämpfer und ihre Unterstützer wurden gefoltert, kastriert, ausgepeitscht, mit Elektroschocks und Waterboarding gequält ¬– lange bevor die US-Amerikaner diese Technik im Irak anwandten. Die von Elkins befragten Folteropfer berichteten von unvorstellbaren Demütigungen; eine Frau schilderte, wie man sie mit einer Flasche vergewaltigte, die mit Pfeffer und Wasser gefüllt war.
My dear, ausgerechnet die Briten, die so stolz darauf sind, ihre kultivierte Lebensart in alle Gegenden der Welt getragen zu haben? Galgen statt Gin Tonic, Knochenbrechen statt Cricket? Aber wusste denn die Queen von den Verbrechen? Wahrscheinlich ja. Viele Mau-Mau-Revolutionäre wurden in den 1950er-Jahren im Aberdares-Gebirge in Zentralkenia verhaftet, gequält oder getötet. Also genau dort, wo die junge Königin Elizabeth während eines offiziellen Besuchs im Februar 1952 den Thron bestieg – nach dem Tod ihres Vaters, König Georg VI. Nur acht Monate nachdem sie zur Königin von England ernannt wurde, verhängten die Briten den Ausnahmezustand in Kenia. Dem britischen Kolonialamt wurde seitdem gestattet, Menschen ohne Gerichtsverfahren zu inhaftieren.
Die Historikerin Elkins schätzt, dass auf dem Höhepunkt des Aufstandes zwischen 160.000 und 320.000 Menschen gefoltert wurden – Menschen, die vor allem aus den Volksgruppen der Kikuyu, Meru und Embu stammten. Mehr als 20.000 Kämpfer starben, mehr als eine Million Menschen kasernierte man in Gefängnissen, die an Konzentrationslager erinnerten. Dort verloren noch einmal Zehntausende ihr Leben aufgrund von Hunger oder Krankheiten. Um ihre Gräueltaten zu rechtfertigen, erklärten britische Beamte die Mau-Mau kurzerhand zu „Terroristen“.
Heute würde man die Verbrechen in Kenia als Völkermord oder ethnische Säuberung bezeichnen. Damals wurden die Briten jedoch weder von anderen Staaten verurteilt, noch wurden die Verbrecher vor Gericht gestellt. Und das, obwohl Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet und sich dadurch verpflichtet hatte, die Würde und Rechte aller Menschen zu schützen. In der UN waren sie da in guter Gesellschaft: Auch andere Unterzeichner der Gründungscharta, wie beispielsweise Frankreich, besaßen damals noch afrikanische Kolonien, in denen die Charta routinemäßig verletzt wurde.
Selbst im Jahr 2005, als Elkins’ Buch veröffentlicht wurde, hielt man noch viele Verbrechen geheim, verbarg Dokumente in Archiven oder vernichtete sie. Erst 2011, während eines aufsehenerregenden Gerichtsverfahrens, das Mau-Mau-Veteranen initiierten, gab die britische Regierung zu, dass wichtige Dokumente in einer Hochsicherheitseinrichtung lagerten. Darunter auch Akten aus 36 anderen ehemaligen britischen Kolonien. Und ein Dokument aus Kenia, das beschrieb, wie britische Kolonialbeamte Gefangene bei lebendigem Leibe rösteten. Trotz dieser Beweise gewährte das Gericht allen angeklagten Offizieren Amnestie.
Über Jahrzehnte wurde die britische Kolonialpolitik in der Öffentlichkeit verteidigt. Immer hieß es, dass die Briten die Abschaffung der Sklaverei vorangetrieben hatten, also eher „wohlwollende Kolonisatoren“ waren – im Gegensatz zu den Franzosen und Belgiern, die ihre afrikanischen Kolonien plünderten und ausraubten. Übersehen wurde dabei, dass die Sklaverei nur substituiert wurde. Die Länder, aus denen die Sklaven stammten, annektierten die Briten einfach kurzerhand. Die Kolonisierung war die einzige Möglichkeit, an billige Arbeitskräfte und profitable Ressourcen zu gelangen, da die Sklaverei in den Industrienationen seit 1865 nicht mehr legal war. Das führte dazu, dass die europäischen Nationen, einschließlich Großbritannien, auf der Berliner Konferenz von 1884/1885 den afrikanischen Kontinent aufteilten.
Im Gegensatz zum Nachkriegsdeutschland, wo sich die Behörden bei allen Versäumnissen darum bemühten, die Verbrechen der Nazis aufzuarbeiten, sah sich die britische Regierung nie zu etwas Ähnlichem bemüßigt. An die Stelle der Aufarbeitung traten eine offizielle Amnesie und zahlreiche Desinformationskampagnen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Noch heute ist die Mehrheit der Briten davon überzeugt, dass der Kolonialismus des Königreichs unterm Strich eine gute Sache war. Und noch immer lernen britische Schulkinder, dass das Empire einer „zivilisierenden Mission“ folgte, die neben dem Christentum auch Bildung und Infrastruktur in Regionen brachte, die von Unwissenheit und Rückständigkeit geprägt waren.
Doch ohne das Zutun von kenianischer Seite hätte dieser kollektive Selbstbetrug wohl nicht lange gewährt: Nach der Unabhängigkeit aber stellte die kenianische Elite keine Fragen zur Vergangenheit – und profitierte im Gegenzug von einer erneuten Umverteilung von Macht und Land. Es soll sogar ein Geheimpakt zwischen dem ersten Präsidenten des Landes, Jomo Kenyatta, und der britischen Regierung geschlossen worden sein, der die Interessen der weißen Siedler im Land wahrte und für „Vergeben und Vergessen“ warb. „Reiche Geschäftsleute und mächtige Politiker, die der Kolonialverwaltung gegenüber loyal waren, konnten auf Kosten der Armen und Landlosen Tausende von Hektar Land erwerben“, heißt es dazu im Bericht der kenianischen Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung aus dem Jahr 2013.
Am 12. Dezember 1963 wurde Kenia in die Unabhängigkeit entlassen, im Jahr darauf die Republik ausgerufen. Der erste Präsident Jomo Kenyatta bot den ehemaligen Mau-Mau-Kämpfern eine Amnestie an, die jedoch viele ablehnten, weil ihr geraubtes Land nicht rückübertragen wurde. Kenyatta schickte kurzerhand Sicherheitskräfte in die Gebiete, in denen die Mau-Mau protestierten, und ließ mehrere Freiheitskämpfer töten. Der damalige Verteidigungsminister bediente sich daraufhin der Sprache der einstigen Kolonialmacht und bezeichnete die Mau-Mau als Gesetzlose, „die auch in den Köpfen aller Menschen in Kenia geächtet werden“ müssten.
So blieben die Mau-Mau auch nach dem Ende des Kolonialismus über vier Jahrzehnte hinweg eine verbotene Organisation. Als Nelson Mandela 1990 Kenia besuchte, war er überrascht, dass die Witwe von Dedan Kimathi zum feierlichen Empfang nicht eingeladen worden war. Als er den damaligen Präsident Daniel arap Moi fragte, ob er das Grab des Freiheitskämpfers besuchen dürfe, herrschte betretenes Schweigen.
Erst im Jahr 2003, als Mwai Kibaki Präsident wurde, würdigte man die Rolle der Mau-Mau-Mitglieder im kenianischen Unabhängigkeitskampf. 2013 erhielten 5.228 Veteranen von einem britischen Gericht zwanzig Millionen Pfund Entschädigung zugesprochen, etwa 3.000 Pfund pro Opfer. Die meisten Mau-Mau-Mitglieder leben aber auch heute noch in Armut, während die Kenianer, die auf der Seite der Kolonialisten standen, mittlerweile zu den Reichen des Landes gehören.
So wirkt das traumatische Erbe des britischen Kolonialismus in Kenia bis heute nach. Der berühmteste Schriftsteller des Landes, Ngugi wa Thiong’o, ist überzeugt, dass der Kolonialismus weiterlebt. Die meisten Kenianer würden den Westen imitieren und sich die Kultur und Sprache des ehemaligen Kolonialregimes zu eigen machen. Der Kolonialismus habe sich nicht nur durch militärische Eroberung und die anschließende politische Diktatur durchgesetzt, so Thiong’o, sondern – noch wichtiger: durch „die Eroberung des mentalen Universums der Kolonisierten“. Und die wäre nicht gelungen ohne eine Auslöschung von Erinnerungen und die Verächtlichmachung der Ursprungskultur.
Mittlerweile werden die Stimmen, die nach Aufarbeitung und Reparationszahlungen rufen, lauter. Zum Tod von Königin Elizabeth im September 2022 gab es zahlreiche Unmutsbekundungen, auch wenn sich die Regierungsvertreter brav verbeugten. Viele Kenianer nehmen der Queen übel, dass sie es zeitlebens versäumte, das Leid, das Großbritannien über seine Kolonien gebracht hat, anzuerkennen und sich dafür zu entschuldigen.
Auch Dedan Kimathi ist nicht vergessen in Kenia, 2007 wurde im Geschäftsviertel von Nairobi eine Statue von ihm errichtet. Seine Witwe Mukami Kimathi starb am 4. Mai dieses Jahres, ohne dass ihr lebenslanger Wunsch erfüllt wurde. Sie wollte erfahren, wo ihr Mann begraben liegt. Dafür hatte sie sogar den designierten König Charles gebeten, ihre Nachforschungen zu unterstützen. Der reagierte in guter britischer Tradition: mit Schweigen.