Verfickt
Eine offene Beziehung klingt gut. Hier ging es mächtig schief
Von Julius Heinrichs
Sie kommen durch einen Freund darauf. Er schwärmt ihnen vor davon. Sie hören ihm zu, halten Händchen dabei, dann lachen sie. Lächerlich ist das. Nein, das wäre nichts für sie, sagen sie, umarmen sich, küssen sich, Einigkeit.
Nur geht ihnen die Idee danach nicht mehr aus dem Kopf. Rebekka denkt daran, wenn sie in der Straßenbahn andere Männer sieht; Markus, wenn Rebekka ihn langweilt. Beide lesen heimlich Blogs. Er spricht mit seinen Freunden darüber; sie schaut Dokus und liest Bücher, die sie vor ihren Mitbewohnerinnen versteckt.
Sie sind nicht der Typ dafür – das wissen sie. Er will Familie, Haus, Sicherheit; sie will Familie, Reisen, Zweisamkeit. Beide sind angehende Lehrer, Lehrer machen so was nicht.
Trotzdem ist da der Reiz der Erfahrung, der Freiheit, des Verruchten.
Über Monate schweigen sie zu dem Thema. Bis Markus Marion kennenlernt. Sie erinnert ihn an diese Schauspielerin aus der Serie „The Mentalist“. Die, die Grace Van Pelt spielt. Rote Haare, strenges Gesicht, versteckte Zerbrechlichkeit. Markus hat heimlich ein Foto von ihr auf seinem Handy. Manchmal, wenn er erregt ist, schaut er’s an, nur um es kurz danach wieder zu schließen. Manchmal sucht er auch nach Pornos mit Frauen, die ihr ähnlich sehen. Dann also ist da Marion: rote Haare, strenges Gesicht, versteckte Zerbrechlichkeit. Niemanden lässt sie an sich ran, wenn auch viele es versuchten. Sie ist klug, das weiß Markus, und das zieht ihn an. Wenn eine andere, dann sie. Gern würde er mir ihr schlafen.
„Vielleicht sollten wir es doch tun“, sagt Markus, eine Nacht im Sommer, mit den Händen ihre Haare streichelnd, „eine offene Beziehung.“
Sie reden lang an diesem Abend. Vor allem theoretisieren sie. Zum Beispiel wegen des Egoismus. Jemanden für sich haben zu wollen ist doch egoistisch, das sei schon so. Kuss. Ich meine, wenn man den anderen liebt. Kuss. Und das tun wir doch. Wir zwei lieben uns. Kuss. Und keiner kann das je ändern. Kuss. Und es wäre ja nur für den Fall. Kuss. Aber wenn der eine die Eifersucht nicht erträgt? Kuss. Dann brechen wir ab. Absolute Offenheit. Kuss. Aber wenn aus Sex Liebe wird? Kuss. Keine Liebe. Kuss. Kein Sex im Freundeskreis. Kein Sex an Jahrestagen. Kein Sex an Tagen, an denen wir uns sehen. Kuss. Regelmäßige Gespräche. Kuss, Einigkeit. Sie lieben sich.
Rebekka liebt Markus vor allem für seine Verrücktheit. Egal wie groß die Runde: Mit Markus ist sie schöner. Alle lieben seine Geschichten. Wie er wieder irgendwo eingebrochen ist und die Securitys ihn erwischten. Wie er betrunken diesen Mann getroffen hat, mit dem er über Nacht nach Polen gefahren ist. Wie er aus Versehen das Hochbett eines Freundes zerstörte. Du machst Sachen, sagen die Leute, wenn sie Markus’ Geschichten hören.
Rebekka liebt Markus auch, weil er sich die Freiheit nimmt, die sie zu nehmen sich nicht traut. Rebekka und Markus haben einen Freundeskreis, in dem sie alle Projekte haben. In dem sie das System verabscheuen und daran arbeiten, das Unrecht dieser Welt zu beenden. Rebekka macht mit. Aber die Initiative ergreift sie nie, auch wenn sie gerne diejenige wäre, die die Initiative ergreift. Lieber liest sie von Menschen, die sie sein will. Die offene Beziehung wäre ein Schritt in die Freiheit, die sie so gerne hätte.
Markus liebt Rebekka, weil sie ihm Sicherheit gibt. Immer hat er Angst, sein eigenes Leben zu verpassen. Immer hat er Angst, nicht dazuzugehören. Rebekka und sein Freundeskreis sind offener als er, das weiß er. Aber anmerken lässt Markus sich das nicht. Bei Rebekka kommt er runter. Sie ist ruhiger als seine Freunde. Und es gibt ihm Sicherheit, dass vor ihr auch er ruhiger sein kann. Sagen würde er das nie, aber unterbewusst liebt Markus die Sicherheit. Für alles schreibt er Mindmaps. Bevor er Rebekka die offene Beziehung vorschlägt, fasst er in einer Mindmap zusammen, wie es mit ihnen weitergehen könnte. Die Beziehung könnte ihnen guttun. Aber nur, wenn alle Eventualitäten geklärt sind.
Beide gehen davon aus, dass die offene Beziehung keine offene Beziehung wird. Sie sind nicht gut darin, andere ins Bett zu kriegen. Sie sind offen, das ja, aber sie haben keine One-Night-Stands. Sie haben das Flirten ausprobiert, und sie sind nicht gut darin.
Sie gehen nicht davon aus, dass es Marion und Lukas geben wird. Marion, die sich in Markus verliebt, und Lukas, der sich in Rebekka verliebt.
Rebekka und Lukas schlafen das erste Mal nach einem Kochen bei Freunden miteinander. Lukas ist neu in der Stadt, Ersti. Und er sucht, was Rebekka noch nie hatte: unverbindlichen Sex.
„Cool“, sagt Markus, als er davon hört. Abends trinkt er mit Freunden. „Schlampe“, sagt er zu ihnen über Rebekka. Später übergibt er sich. Aus Frust fragt er Marion noch in dieser Nacht nach einem Date. Sie schlafen miteinander. Markus ist überrascht davon. Marion hatte Markus schon länger im Blick.
„Ich glaube, wir kriegen das gut hin“, sagt Rebekka, als sie davon hört. Zu Hause weint sie. Aus Frust ruft sie Lukas an, um mit ihm zu schlafen.
Markus erfährt davon von einem Freund. Er fährt zu Rebekka nach Hause, die WG-Mitbewohnerin lässt ihn rein. Als Rebekka abends nicht wiederkommt, ist die Eifersucht so groß, dass er sich über Tage nicht bei Rebekka meldet. An jedem dieser Tage schläft er mit Marion.
Aber Rebekka und Markus halten sich an ihre eigenen Regeln. Immer wieder sprechen sie miteinander über ihre Beziehung.
„Bist du zufrieden, so wie es ist?“
„Ja, sehr.“
„Schläfst du noch mit Lukas?“
„Ja. Du mit Marion?“
„Ja.“
„Es ist gut, dass wir so offen sind.“
„Ja.“
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Sie küssen sich in Einigkeit. Und doch zerfressen von Eifersucht. Sie trauen sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Wie weh es ihnen tut. Freiheit hatten sie gewollt, und alles würde sich schon richten, mit der Zeit. An Tagen, an denen Rebekka und Markus nicht miteinander schlafen, schlafen sie mit den anderen. Irgendwann schlafen sie öfter mit den anderen als miteinander.
Markus stellt Rebekka jetzt nicht mehr in den Mittelpunkt, wenn sie mit Freunden unterwegs sind, fasst nicht mehr heimlich an ihren Po, schreibt kein „Gute Nacht“ mehr. Er findet den Sex mit Marion besser als mit ihr. Marion meint es ernst mit Markus. Rebekka ahnt das, und diese Ahnung macht sie wütend.
Wenn Markus redet, hört sie ihm nicht mehr richtig zu. Zu selbstdarstellerisch sind seine Geschichten. Und sie findet ihn unattraktiv, wenn er raucht. Lukas raucht nicht. Wenn Markus und Rebekka sich treffen, ist Rebekka müde von ihren Treffen mit ihm. Der Sex mit Lukas gefällt ihr besser als der mit Markus. Und Lukas meint es ernst mit ihr. Markus schreibt nicht mal mehr „Gute Nacht“.
„Wir haben zu wenig Sex“, sagt Markus irgendwann, ein Sonntag, Mittagszeit.
„Er ist nur nicht mehr wie früher.“
„Er ist langweilig.“
„Das ist normal, wir müssen nur mehr ausprobieren, das haben wir vergessen.“
Sie versuchen es anal. Rebekka weint, das will sie nicht. Es tut weh. Sie brechen ab und reden nicht mehr darüber.
Dann der erste Weihnachtsfeiertag. Sie sind bei Rebekkas Familie. Rebekkas Vater fragt, wann denn die Kinder kommen. Wie sehr man sich freue, Großeltern zu werden. Da platzt es raus. Markus fragt Rebekka, ob sie kurz mitkomme, rauchen. Er weiß, dass sie Rauchen hasst. Das gefällt ihm.
„Ich kann das nicht. Keine Kinder. Keine offene Beziehung“, sagt er.
„Ich auch nicht.“
„Ich glaube, wir sollten uns trennen. Ich habe mich in Marion verliebt.“
„Ja“, sagt Rebekka.
„Meinst du, es wäre anders gekommen, wären wir immer nur wir zwei gewesen?“
„Vielleicht.“
„Ja, vielleicht.“
Sie küssen sich, einig. Dann trennen sie sich.
Rebekka und Markus leben seither in festen Beziehungen mit Marion und Lukas. Sie sind glücklich, sagen sie, und so wirken sie auch. Sie wollen keine Freiheit mehr, nicht in der Liebe. Da sind sie sich einig.