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N° 84, Nerven

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Tote Badehose

So tot war Urlaub in der DDR

Von Alexander Kühne

„Was willste denn in Brasilien, da gibt’s doch nur Nutten und Fußballer?“, witzelte ein Nachbar, wenn ich damals zu Hause über unserem Gartenzaun hing, den Kuhstall betrachtete und mal wieder von der großen, weiten Welt träumte. Aber Nutten und Fußballer zumal aus Südamerika hätte ich gern eingetauscht gegen schlecht gelaunte Zeltplatzwarte oder schnauzbärtige Kellner in überfüllten Ferienkaschemmen. Denn viel mehr hatte das Touristik-Land DDR einem jungen Menschen unter 18 mit wenig Geld kaum zu bieten. 
Das galt natürlich nicht für vorbildliche FDJler oder Kandidaten der SED. Diese Spezies durfte über das Reisebüro Jugendtourist, fest eingefügt in einer Gruppe, nach Sotschi am Schwarzen Meer oder Nessebar in Bulgarien fahren, die ganz roten Socken sogar zu Castro nach Kuba. Vorher musste die Schule noch in schriftlicher Form einen Leumund abgeben. Was zählte, war: ein klares Bekenntnis zur DDR, gute Noten, keine Westkontakte. Drei Kriterien, die auf mich in keiner Form zu trafen. 

Es war der Sommer 1981, ich hatte die zehnte Klasse mit Ach und Krach beendet und wollte noch mal frei sein, bevor meine Lehre in einem sozialistischen Großbetrieb begann. Für uns normale Jugendliche gab es nur zwei Möglichkeiten der Entspannung: Elend oder Sorge, Harz oder Ostsee. Meist entschied ich mich für Letztere. Denn wenn ich schon nicht weit reisen konnte, wollte ich wenigstens weit gucken. Allerdings waren die Zeltplätze zwischen Darß und Usedom schon Monate vorher ausgebucht und nicht auf Spontan-Touristen wie uns eingestellt. Wer dort nicht im sogenannten „Meldebuch“ vermerkt war, wurde eiskalt aussortiert. So begann der „Summer of Frust“. 
Wir zelteten schwarz in Lobbe auf Rügen und hatten gleich die Zeltplatz-Stasi, flankiert von „freiwilligen Helfern“, auf dem Hals. Ausweiskontrolle und die Aufforderung, das „Ferienobjekt“ sofort zu verlassen, waren die Folge. Und das alles nur, weil wir zwischen ein paar Krüppelkiefern, Schwärmen von Mücken und nervenden Sachsenkindern („Muddi, Muddi, wo sinn denn meine Badeschlüppor?“) unbequeme Nächte verbringen wollten. Frustriert traten wir die Rückreise an und wollten das tun, womit viele ihren Urlaub verbrachten: uns besaufen. Aber so einfach ging das nicht. Denn vor den Feriengaststätten bildeten sich lange Schlangen. Mangels Alternativen war die ganze Ostseeküste von Urlaubern überlaufen. Viele fanden keine Bleibe und schliefen sogar in Garagen von Privatleuten – zu horrenden Preisen. 
Wir enterten schließlich einen fast leer gekauften HO-Laden in Gager. Dort gab es noch rote Brause und ein paar Flaschen Juwel-Klaren. Bier war alle. „Lebensmittel sind auch aus“, murmelte die verschlafene Verkäuferin. Sogar „Tennisbälle“ gab es nicht mehr, so nannten wir die wirklich ungenießbaren Konsum-Brötchen. In den verstaubten Regalen fanden wir hinter einer Kiste Zwiebeln noch zwei Gläser mit undefinierbarem Inhalt. Weiße Bohnen in Rauchfleisch. Die klauten wir vorsichtshalber, denn der Hunger war größer als die Vernunft. Am Straßenrand erträumten wir uns ein paar Mädels, die nicht da waren und auch nie kommen würden. Dann schliefen wir noch eine Nacht im Straßengraben, weil wir von dem Klaren schon zu besoffen waren, um unser Zelt aufzubauen. Eigentlich waren wir ziemlich glücklich, den mit Tausenden Verboten und Regeln versehenen Campingplätzen entkommen zu sein. 
Am nächsten Morgen wurden die weißen Bohnen verputzt, die dick und aufgedunsen wie Würmer in der Fleischbrühe schwammen. Ich dachte an unerreichbare kleine Inseln im offenen Meer. Wir aßen sie kalt, denn unser Spirituskocher war kaputt. Der fröhliche Zynismus, mit dem wir das alles ertrugen, prägt bis heute meine Erinnerungen an die DDR. Im Ekel scheitern und dieses Provisorium von System als temporär betrachten. Daran konnte ich mich irgendwie festhalten. 
Bei unserer Rückreise via Reichsbahn stoppten wir noch in Waren (Müritz) und betranken uns im „Fritz Reuter“, einer ziemlich üblen Pinte. Als wir dort hinaustorkelten, entdeckte ich ein selbstgemachtes Plakat: „Disco im Jugendclub – Urlauber willkommen“. „Endlich Weiber“, lallte Fränkie, einer meiner Freunde. In Vorfreude auf die Bräute der Mecklenburgischen Seenplatte enterten wir das Kulturhaus, aus dem uns schon lautstark Roland Kaiser mit „Santa Maria“ entgegenschallte, dem Sommerhit von 81. Drinnen dann die Ernüchterung. Mit eisigen Blicken wurden wir vom größtenteils männlichen Publikum empfangen. Sechs Mädchen drehten sich im Paartanz, während etwa 30 baumlange Bauernburschen darauf warteten, sie abzuschleppen. Doch das beeindruckte uns nicht. Fränkie und ich klatschten zwei der Mädels ab und tanzten mit ihnen. Als ich kurz danach ein Tablett Bier vom Tresen holte, rammte mir ein „Eingeborener“ seinen Ellenbogen in die Seite, und das Bier ging zu Boden. Danach bekam ich noch eins auf die Nase. „Wir ficken unsere Hühner selber“, zischte mir ein Primat ins Ohr. 
Den Rest der Ferien verbrachten wir zu Hause im Bezirk Cottbus am Baggersee, und ich schwor mir, der Urlaub 1982 muss anders werden. Ich wollte ein internationaler Tourist werden. 
Nach Polen durfte man da schon nicht mehr, weil dort die Solidarnosc ihr Unwesen trieb. Viele ältere Hippies schwärmten von Ungarn. Eine Art Ersatz-Westen, wo es angeblich Hamburger gab, bedruckte T-Shirts, West-Schallplatten und schönes Wetter am Balaton. Dort durfte man auch ohne Jugendtourist hin – aber auf eigene Kosten. Als erstes brauchte ich ein Visum, das ich bei der Volkspolizei zwei Wochen vor Reisebeginn beantragte. Das händigten mir die Genossen auch ohne Weiteres aus. Mit 17 war ich ja noch ein unbeschriebenes Blatt. Damit ging ich dann zur Staatsbank und durfte knapp über 400 Ostmark in 2500 Forint umtauschen, das musste für zwei Wochen reichen. Mit den paar Kröten konnte man sich natürlich weder eine Unterkunft leisten noch etwas zu essen. Deshalb hamsterten alle vorher Unmengen Dosenwurst. Die Renner waren Schweinskopfsülze in Aspik und Scomber-Mix, ein klumpiger Gemüse-Fisch-Brei. Zum Runterspülen kauften wir noch jede Menge Schnaps. Derart ausgestattet setzten wir uns in einen Interzonenzug; über Prag und Bratislava ging es in Richtung ungarische Hauptstadt. Da wir keine Platzkarten hatten, mussten wir im Gang kampieren. Pisse lief aus den verdreckten Klos, es war das pure Abenteuer, und in der Mitropa gab es sogar Pepsi-Cola, ein Vorgeschmack auf die neue Freiheit. 
Im Zug lernte ich Franzi aus Berlin kennen, ein sehr schönes Poppermädchen. Im Gegensatz zu uns hatte sie kein Gepäck dabei, nur einen Tennisschläger, der farblich auf ihren rosafarbenen Fruit-Of-The-Loom-Pullunder abgestimmt war. Ich war sofort verliebt und bat ihr einen Schluck Pfefferminzlikör an, den wir schon morgens reichlich konsumierten. Sie lehnte dankend ab und erzählte mir, dass ihr Westfreund sie in einem Hotel in Budapest erwarten würde. Für den wäre das kein Problem, denn Ungarn sei schließlich Billig-Urlaub. Ich kam mir gleich ganz klein vor mit meinem Schnaps-Atem, den ungewaschenen Füßen und den Römerlatschen, an denen man im Ausland immer den Ossi erkennen konnte. 
Dann kamen wir im Bahnhof Budapest-Keleti an. Eine irre morbide Welt tat sich auf. Keleti war ein alter Bahnhof aus der Monarchie, Zeitungsverkäufer liefen herum und priesen ihre Blätter an. Überall Werbung. Alles war anders, aufregender, internationaler als in der DDR. Überall in der City zwischen der Rakoczi- und der Lenin-Straße gab es Klamotten- und Plattenläden. Wir gaben jede Menge Geld aus, dabei wollten wir doch noch zum Balaton trampen. Am Abend waren es schon über 1000 Forint, dafür hatten wir jetzt zwei Platten im Gepäck und ein T-Shirt mit der Aufschrift „UCLA“. Was das hieß, wusste keiner. 
In den Cafés und Restaurants saßen schöne Frauen und ihre Verehrer, wir waren nur Zuschauer, lümmelten auf dem Rand eines Springbrunnens und aßen Schweinskopfsülze. Dabei inspizierten wir unsere Einkäufe. Ich dachte an den Urlaub im letzten Jahr und kam mir wieder ein bisschen verloren und wie 2. Klasse vor. Aber diesmal mit Bonbon-Geschmack. 
Langsam wurde es Nacht, und wir wussten nicht, wo wir pennen sollten. Schließlich folgten wir den anderen Römerlatschen auf die Margareteninsel, die mitten in der Donau zwischen den beiden Stadtteilen Buda und Pest liegt. Dort packten wir unsere Schlafsäcke aus und mischten uns unter die mindestens 200 Ossis, die dort schon lagen. Am frühen Morgen spürte ich einen Schlag auf meinem Oberarm und schreckte auf. Ungarische Bullen gingen mit Gummiknüppeln umher und weckten alle. Wir mussten aufstehen und lungerten irgendwie blöd in der Gegend herum. Es war demütigend. Nur schnell weg hier, dachte ich. Wir teilten uns auf, fuhren mit der Bahn aus der Stadt heraus und trampten Richtung Balaton. Die Sonne brannte, und wir waren nicht die einzigen Anhalter. Plötzlich hielt ein ziemlich unfreundlicher Ungar. Ich war erst skeptisch, ob ich einsteigen sollte. Als er uns am Balaton kurz vor Siofok absetzte, wollte er Geld haben. Nach langer Diskussion und der Drohung, die Polizei zu holen, zahlten wir schließlich. Jetzt waren die Forint fast alle. Aber wir waren am Balaton. 
Der Plattensee sah wie eine riesige Wanne aus, mit dem Wellenschlag eines Baggersees. Wir stürzten uns in das Wasser, es war pisswarm, aber herrlich. Am Abend zog Sturm auf, wir verkrochen uns in zwei großen Betonröhren, die dort am Ufer herumlagen, und schliefen ein. Ziemlich durchnässt, von einem diffusen unguten Gefühl beschlichen, wachte ich auf. Ich kroch aus meiner Röhre, Fränkie stand schon am Ufer und schaute über die „Wanne“, in die durch den Sturm ein wenig Bewegung gekommen war. Dunkle Wolken stapelten sich über uns, und ein Hubschrauber kreiste in einiger Entfernung. Plötzlich entdeckten wir etwas Dunkles, das langsam auf das Ufer zutrieb. Wir schauten uns an und wussten gleich, dass es ein menschlicher Körper war. Kurz danach schwappte ein ziemlich aufgedunsener Toter vor unsere Füße an das Ufer. Er war kurz vorher noch ein gut aussehender Mann gewesen – mit welligem dunklen Haar, etwa Mitte Zwanzig. Sein Brustkorb war jetzt schon aufgedunsen, und die vorher attraktive Bräune ging langsam ins Schwarz-Gelbliche über. Die Nässe hatte seinem einst klassischen Gesicht einen grauen Schimmer gegeben. Am auffälligsten war jedoch seine leuchtend rote Lacoste-Badehose, die scheinbar unversehrt an ihm klebte. Das eingewebte Krokodil tanzte fröhlich mit den kleinen Wellen. 
Kurz darauf tauchte ein Polizeiauto auf, dem zwei Bullen entsprangen. Sie hatten die Hälfte eines billigen Sarges im Schlepptau. Ziemlich rigoros versuchten die beiden Männer, den Toten aus dem Wasser zu holen, was ihnen nicht gelang. Der eine brachte schließlich seine Handschellen zum Vorschein und kettete unseren toten Freund, den wir inzwischen Lazlo getauft hatten, an eine kleine Leiter, von der aus man ins Wasser steigen konnte. Dann verschwanden sie. Jetzt waren wir nur noch zu dritt: Frankie, Lazlo und ich. Während Lazlo im seichten Wasser trieb, malte ich mir aus, wie es gewesen wäre, wenn ich ihm am Abend zuvor beim Schwimmen begegnet wäre. 
Ich wollte wieder nach Budapest, mein letztes Geld in Schallplatten anlegen. Meine Laune war irgendwie im Keller. Zufällig begegneten wir noch zwei Potsdamern, die mich mit ihrem Trabbi zurück nach Budapest nahmen. Frankie und Lazlo ließ ich zurück. Zwei Tage später war ich komplett abgebrannt. Wie furchtbar kann einem eine Stadt vorkommen, wenn man mittellos in ihr herumirrt. Ich fuhr mit dem Zug zurück, und als ich durch die Abteile trottete, sah ich sie plötzlich: Franzi, das Poppermädchen aus Berlin. Sie war total verheult und beichtete mir, dass ihr Westfreund nicht gekommen war. Was hätte ich dafür gegeben, sie ein paar Tage vorher in Budapest getroffen zu haben. Wir tauschten Adressen aus, doch ich hab nie wieder was von ihr gehört. 

Ein paar Tage nach meiner Rückkehr lag ich mal wieder in der Badeanstalt und grübelte über die verpassten Chancen und den Sinn des Lebens. Es gab dort einen Zehnmeterturm, auf dem plötzlich mein Freund Frankie auftauchte. Ich sah ihn aus der Ferne da oben stehen, wie schon so oft. Aber irgendetwas stimmte nicht an dem Bild. Blutrot und selbstbewusst leuchtete seine Badehose zwischen den ganzen ausgeblichenen Dreiecksbüxen der anderen hervor. Da wusste ich: Er würde wieder keinen Salto machen, aber er würde mit einem Krokodil hinunterspringen.

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