To be or not to be
Die Frage, ob es nicht besser wäre, überhaupt nicht zu existieren, ist gar nicht mal so dumm
Von Constantin Wißmann
Dummy: Herr Benatar, wenn es besser ist, nicht zu existieren, warum sind Sie überhaupt noch da?
David Benatar: Weil ich nun schon geboren wurde, obwohl mich niemand gefragt hat, ob ich das auch will. Ich sage auch nicht, dass wir lebenden Menschen verschwinden sollen. Die Menschheit als Ganzes sollte verschwinden. Aber nicht durch Selbstmord und Mord. Wir müssen aufhören, weitere Menschen in die Welt zu bringen.
Dummy: Aber es ginge schneller, wenn wir uns alle umbrächten.
Benatar: Wenn wir schon einmal existieren, gibt es viele Gründe, mit dem Leben weiterzumachen. Man würde auch viele schöne Dinge durch den Tod verlieren. Und dann sind da noch die Angehörigen, deren Leben sich verschlechtern würde durch die Person, die sich selbst getötet hat. Man müsste sich also überlegen, ob die eigene Lebensqualität so schlecht ist, dass man mit seinem Selbstmord andere Menschen belasten dürfte. Das Problem würde natürlich vermieden, wenn alle Menschen gleichzeitig Selbstmord begingen, aber das ist unwahrscheinlich.
Dummy: Was haben Sie gegen die Menschen? Sind es die schrecklichen Taten wie Auschwitz, zu denen der Mensch imstande ist? Danach hat der amerikanische Philosoph Robert Nozick gesagt, die Menschheit hätte ihr Recht auf Existenz verwirkt.
Benatar: Nun, da gibt es nicht nur Auschwitz. Davor und danach sind Tausende ähnliche schreckliche Dinge von Menschen verursacht worden. Aus dieser Sicht ließen sich viele gute Argumente anführen, der Mensch ist ja verantwortlich für vieles Schlechte in der Welt. Misanthropen wie Nozick oder natürlich Arthur Schopenhauer sehen den Menschen deshalb als Unglück. Aber mein Argument ist im Gegenteil philanthropisch.
Dummy: Wie bitte?
Benatar: Ja, denn mir geht es darum, dass die Menschen so wenig leiden wie möglich.
Dummy: Indem sie gar nicht erst geboren werden?
Benatar: Ganz genau. Es ist immer vorzuziehen, nicht geboren worden zu sein. Wenn man auf der Welt ist, mögen einem gute Dinge passieren, auf jeden Fall aber passieren einem schlechte. Jeder Mensch wird leiden. Wenn er aber gar nicht erst geboren wird, wird er auf keinen Fall leiden. Er würde zwar auch die guten Dinge verpassen, aber die würde er nicht vermissen, weil er sie ja nicht kennt. Man muss sich die Gleichung vorstellen: Geburt bedeutet garantiertes Leid, eventuell ein wenig Glück. Nichtgeburt bedeutet garantiert kein Leid. Hört sich für mich nach dem besseren Deal an.
Dummy: Es gibt wenige gute und viele schlechte Bücher. Weil Bücher also potenziell schlecht sind, sollte es gar keine geben?
Benatar: Nein, diese Analogie funktioniert nicht. Wenn es keine Bücher mehr gäbe, würden uns die guten Bücher vorenthalten. Das Nichtvorhandensein von Freude ist nur schlecht, wenn sie jemandem vorenthalten wird. Wenn sie niemandem vorenthalten wird, ist das nicht schlecht. Das Nichtvorhandensein von Schmerzen ist aber immer gut, selbst wenn sie niemandem vorenthalten werden. Menschen, die nicht existieren, wird nichts vorenthalten, gerade weil sie nicht existieren.
Dummy: Und deshalb sollten wir keine Kinder haben?
Benatar: Erst einmal zeigt uns diese Asymmetrie, dass die Existenz immer zu Leid führt. Wäre dieses Leid bescheiden, könnte man immer noch rechtfertigen, Kinder in die Welt zu setzen. Aber das Leiden ist groß. Viel größer, als wir denken.
Dummy: Aber die meisten Menschen sind doch recht zufrieden mit ihrem Leben.
Benatar: Psychologische Untersuchungen zeigen, dass die Menschen generell stark zum Optimismus tendieren. Wenn sie an die alten Zeiten denken, erinnern sie sich an die guten Dinge, die schlechten verdrängen sie. Dasselbe gilt für die Zukunft. Fragen Sie einen Menschen, wo er sich in zehn Jahren sieht, und meistens bekommen Sie zu hören, dass sich das Leben verbessern wird. Auch wenn es überhaupt keine Anzeichen dafür gibt. Die Gegenwart wird ebenfalls überschätzt. Die Mehrheit würde ihre Lebensqualität als überdurchschnittlich gut ansehen. Der Mehrheit kann es aber gar nicht überdurchschnittlich gut gehen.
Dummy: Aber vielleicht wiegen die guten Dinge die schlechten auf?
Benatar: Nein. Die meisten positiven Erfahrungen, guter Sex oder ein gutes Essen, sind nur von kurzer Dauer. Eine Verletzung, in einer Sekunde erlitten, kann das ganze Leben lang Schmerzen bereiten. Chronische Freude gibt es nicht, chronisches Leid sehr wohl.
Dummy: Aber es gibt Dinge wie die Liebe zu anderen Menschen. Oder dieses Gefühl der Genugtuung, wenn man etwas wirklich Wichtiges erreicht hat.
Benatar: Ja, aber die meisten Wünsche werden nicht erfüllt. Und selbst wenn sie erfüllt werden, geschieht das meist erst nach langjähriger harter Arbeit. Ist das Ziel dann erreicht, dauert es nicht lange, bis es das nächsthöhere gibt. Befriedigung hält nur sehr kurz. Manche mögen das Streben nach Wissen oder die ästhetischen Genüsse als lebenswert sehen. Aber tatsächlich können wir nie mehr als einen winzigen Teil von allem Wissen haben. Genauso ist unser Sinn für Farben, Töne und Gerüche sehr limitiert, sodass wir nur sehr wenig davon genießen. Wie gesagt, realistisch betrachtet ist es mit den sogenannten guten Dingen nicht weit her. Stattdessen vergessen die Menschen, wie viel Zeit sie müde, hungrig, durstig , zu warm oder zu kalt, traurig, einsam und frustriert verbringen. Außerdem währen unsere besten Jahre nicht lange, die weitaus längere Zeit geht es schleichend bergab mit uns.
Dummy: Ist das nicht einfach nur gesund, die guten Dinge zu überschätzen und die schlechten Dinge zu unterschätzen? Sonst würden wir ja alle ziemlich traurig herumlaufen.
Benatar: Ich akzeptiere, dass das Leben tatsächlich besser sein kann, als es ist, wenn man nur denkt, dass es besser ist. Aber es bleibt eine Illusion. Nehmen wir die Frage nach dem Tod. Wenn jemand mit 40 Jahren stirbt, gilt das als Tragödie. Aber vor einiger Zeit war es völlig normal, mit 40 Jahren zu sterben. Heute werden die Menschen 90. Aber eigentlich sollten wir furchtbar enttäuscht sein, dass wir nicht eine Million Jahre alt werden bei bester Gesundheit. Wenn mehr Leben besser ist als weniger Leben, sollten wir viel mehr davon haben.
Dummy: Es fällt auf, dass solche Ideen wie Ihre immer nur von Menschen kommen, denen es wie Ihnen materiell relativ gut geht. Die Selbstmordquote in Belgien, einem der reichsten Länder, ist eine der höchsten der Welt. Woran liegt das?
Benatar: In vielen ärmeren Ländern ist Selbstmord kulturell nicht akzeptabel und wird daher verheimlicht. Aber selbst wenn die Statistik stimmt, verstärkt sie nur meine These. Die Einschätzung der Menschen hat nichts zu tun mit ihrer tatsächlichen Lebensqualität. Menschen, denen es materiell gut geht, mögen mehr Zeit zum Reflektieren haben und merken dann, wie schlecht ihr Leben wirklich ist. Selbst in Auschwitz haben sich die Menschen nicht umgebracht und sogar noch Kinder produziert. Für mich ein Beweis dafür, wie unfähig die Menschen sind, ihre Lage realistisch einzuschätzen. Und genau diese in ihrem Urteil absolut danebenliegenden Menschen entscheiden sich dann, Kinder in die Welt zu setzen.
Dummy: Ist denn das Kinderhaben immer eine ethische Frage?
Benatar: Ja, denn wenn Menschen Kinder haben, spielen sie russisches Roulette mit der Waffe an der Schläfe ihres Kindes. Manche Kinder mögen ein gutes Leben haben, aber die meisten werden doch leiden oder Phasen von großem Leid durchmachen. Und das Kind wird von niemandem gefragt. Sein Erzeuger setzt es dem Risiko aus, dass es solche Phasen durchleiden muss. Man sollte sich also sehr ernsthaft überlegen, ob man tatsächlich Kinder haben möchte. Doch die meisten Menschen machen sich überhaupt keine Gedanken darüber und produzieren Kinder einfach so. Die sind nicht das Resultat einer Überlegung, sondern von Sex. Das ist unverantwortlich.
Dummy: Doch dieses Kind kann das Leben anderer Menschen deutlich verbessern.
Benatar: Ja, unser eigenes Leben mag schlechter sein ohne Kinder. Aber ein Leben beginnen zu lassen, das potenziell furchtbar ist, nur damit wir einen Vorteil davon haben, ist doch sehr egoistisch. Wenn wir keine Menschen produzieren, tun wir den nicht produzierten Menschen aber garantiert nichts Schlechtes.
Dummy: Wenn es keine Kinder mehr gibt, gibt es auch keine Zukunft. Würde das nicht zur Folge haben, dass sich die Menschen nicht mehr um ihre Umwelt kümmern? Eine bessere Welt für unsere Kinder zu erschaffen, ist das nicht die Motivation vieler Menschen?
Benatar: Es gibt viele Menschen, die keine Kinder haben und sich dennoch um das Wohlergehen der Mitmenschen kümmern. Ich selbst habe keine Kinder, mache mir aber sehr wohl Sorgen um die Umwelt. Es werden ja immer noch viele produziert, obwohl sie keine Wahl hatten, und ich möchte mitwirken, ihr Leben so angenehm wie möglich zu machen. Außerdem, ohne falsche Bescheidenheit, denke ich nicht, dass die Mehrheit der Menschen mein Buch lesen wird und sich dann gegen Kinder entscheidet.
Dummy: P. D. James beschreibt in ihrem Buch „Im Land der leeren Häuser“ eine Gesellschaft, in der keine Kinder mehr geboren werden, als Dystopie, in der alles im Chaos versinkt.
Benatar: Ich gebe zu, dass in den letzten Generationen das Leiden sehr wohl noch zunehmen kann. Nicht mehr genug junge Leute, die sich um die Alten kümmern, weniger Essen und so weiter. Es könnte auch sein, dass die Menschen sich solidarisch verhalten. Aber es geht doch vor allem darum: Je früher die Menschen aussterben, desto mehr Leid wird verhindert.
Dummy: Selbst wenn die Welt ohne die Menschen eine bessere wäre, wer würde denn davon profitieren?
Benatar: Sie haben recht, es gäbe dann niemanden, der das bewerten könnte. Aber wenn wir uns so eine Welt vorstellen, sollten wir uns auf die Menschen beziehen, die in einer kontrafaktischen Welt noch leben würden. Und, ja, es ist besser, dass deren Leid dann nicht mehr existieren würde. Viele vergessen, dass unsere Art sowieso aussterben wird. Die meisten Menschen werden das nicht gern hören, weil ihre Beziehung zur Welt sentimental ist. Als ob die Menschheit eine irgendwie höhere Wichtigkeit im Universum hätte. Aber dem Universum ist die Menschheit herzlich egal.
David Benatar (46) leitet die philosophische Fakultät an der Universität Kapstadt. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Ethik, Medizinethik und Metaphysik. Mit seinem Werk Better Never to Have Been. The Harm of Coming Into Existence, erschienen 2006, schrieb er so etwas wie die Bibel der Antinatalisten.
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