So ein Mampf

Völlerei ist der neue Boom-Sport in den USA

Von Fabian Dietrich

Diese Geschichte beginnt natürlich nicht in einer mittelmäßigen amerikanischen Hot-Dog-Bude auf Coney Island, deren Besitzer auf der Suche nach günstiger Werbung ist. Sie beginnt in der Frühzeit der menschlichen Zivilisation. Schon für den Urmenschen war es nämlich überlebenswichtig, schnell zu sein. Er musste sein Futter hastig und in großen Mengen hinunterschlingen, er durfte sich keine Zeit beim Essen lassen, denn irgendwo lauerte immer ein Raubtier und machte sich über die Langsamen her. Die Gourmets wurden gefressen, die Klugen fraßen lieber selber und pflanzten sich fort. So erzählen sich Fans des Competitive Eating die Ursprünge ihres Sports, der unglücklicherweise jahrtausendelang in Vergessenheit geraten war. 
Auch Richard Shea, der Begründer des modernen Wettessens, eröffnet seine Turniere gerne mit hochgestochenen Exkursen über den Kampf zwischen Gott und Luzifer oder das Überleben der Arten, doch es geht ihm weder um Evolutionstheorie noch um Religion, seine Motive sind rein geschäftlicher Natur. Gemeinsam mit seinem Bruder George übernahm er in den 1990er Jahren die Öffentlichkeitsarbeit der Hot-Dog-Kette Nathan’s, baute deren jährlichen Fresswettbewerb zur „Major League Eating“ aus und behauptete prompt in jedem Fernsehinterview (ohne das näher zu belegen), Essen sei die am schnellsten wachsende Sportart Amerikas, er habe sie bereits dem Olympischen Komitee vorgeschlagen, das ziere sich noch, aber man werde schon sehen. 
Verglichen mit dem Spektakel, das heute geboten wird, waren die Wettkämpfe in der Anfangszeit ein Witz. Da saß ein verträumtes Häufchen Allerweltsamerikaner mit Namen wie Mike, Jay, Don oder Fred und drückte sich mal 17, mal 19, mal 25 Hot Dogs innerhalb von zwölf Minuten in den Mund. Versteckt vor dem Publikum standen zwischen ihren Beinen Kotzeimer, die so genannte Römische Methode führt bis heute zur Disqualifikation. 
Alles änderte sich mit einem Schlag, als im Jahr 2001 ein schmächtiger Japaner namens Takeru Kobayashi aus Nagano die Bühne betrat und den Sport des Wettessens aus seinem Dornröschenschlaf wachküsste. Für ihn war das kein origineller Freizeitspaß, sondern die tollste Sache der Welt. Kobayashi hatte trainiert und eine völlig eigene, revolutionäre Technik mitgebracht, er nahm das Wettessen verdammt noch mal ernst. Der Japaner feuchtete die Brötchen mit Wasser an, bevor er sie hinunterschlang, und beschleunigte den Transport durch die Speiseröhre, indem er seinen Oberkörper rhythmisch hin und her schüttelte. Bei seinem ersten Auftritt errang er einen Erdrutschsieg. Er verdoppelte den bisherigen Rekord auf 50 Hot Dogs und verteidigte den Titel fünf Jahre in Folge. „Es war irre und auch ein bisschen unheimlich, wie etwas aus einer anderen Dimension“, erinnert sich George Shea. 
Als der erste Star geboren war, begann der Aufstieg des Wettessens in Amerika. Bis zu 40.000 Zuschauer kommen zum jährlichen Hot-Dog-Wettessen auf Coney Island, das Fernsehen berichtet live von diesem Turnier. Sponsoren kaufen sich ein, allen voran eine Firma, die ein Mittel zur Verdauungshilfe herstellt. Corned Beef, Kuchen, Steaks, Pizza, Chilis, Hühnchenflügel, Tacos – alles wird zur sportlichen Disziplin. Mittlerweile trifft man sich zu etwa 90 Turnieren im Jahr. Die Brüder Shea organisierten sogar einmal einen Wettkampf, bei dem drei Elefanten vor einem Zirkus gegen drei Menschen im Hot-Dog-Essen antraten (und gewannen). 
Manche Teilnehmer fasten tagelang vor einem Auftritt. Andere studieren die Verdauungsbewegungen von Schlangen oder experimentieren mit Ölen, die ihre Speiseröhren geschmeidig machen sollen. Immer wieder zeigt sich, dass entgegen aller Klischees die Schlanken einen Vorteil gegenüber den Dicken haben und die größten Mengen in sich hineinstopfen können. Der aktuelle König der Liga ist ein Mann namens Joey „der Kiefer“ Chestnut, der seinen Durchbruch mit frittiertem Spargel feierte und später in der Königsdisziplin „Hot Dogs“ 68 Stück in zehn Minuten killte, wofür er den senfgelben Gürtel erhielt. Takeru Kobayashi wird zwar noch mit seinem legendären Kuhhirn-Rekord (57 in 15 Minuten) in den offiziellen Statistiken geführt, doch er darf nicht mehr bei den Veranstaltungen der „Major League Eating“ auftreten. Seit er sich öffentlich über die Knebelverträge der Shea-Brüder beklagt hat, fristet er ein eher trauriges Dasein in der Welt des Wettessens. 2010 wurde er von der Polizei verhaftet, als er den Wettbewerb in Cony Island zu stürmen versuchte. Reportern ließ er danach mitteilen, er habe großen Hunger und hoffe, es gebe Hot Dogs im Gefängnis.  
Angeblich verdient der gegenwärtige Champion Joey Chestnut mehrere hunderttausend Dollar im Jahr, doch der Rest der Teilnehmer kann kaum von seinen Auftritten leben. Die Preisgelder bewegen sich zwischen 1500 und maximal 10.000 Dollar pro Sieg, wer Glück hat, bekommt einen Werbevertrag, bei den meisten geht es nur um die Ehre und ein paar Minuten Ruhm. 
An Nachwuchs scheint es trotzdem nicht zu mangeln. In den letzten Jahren formten die Shea-Brüder eine Armee von Essern, die wirken, als habe man sie direkt beim American Wrestling rekrutiert. Da ist zum Beispiel Dale Boone, der geistesgestörte Trapper mit der Waschbärenmütze, ein Verlierer in Sachen Hot Dogs, der aber 274 Pelmeni in sechs Minuten schafft. Oder Eric Booker, der rappende Fleischberg, stark in Sachen Donuts, Burritos und Kürbiskuchen. Sogar zwei Rentner trieben sie irgendwo auf: Rich „die Heuschrecke“ Levevre und seine Ehefrau Carlene, ein heißhungriges Paar aus Nevada. Des Weiteren: Sonya „die schwarze Witwe“ Thomas. Sie besiegt Männer, die vier bis fünf Mal schwerer sind als sie, hält mehr als 25 Rekorde, einmal schlug sie sogar Takeru Kobayashi beim Früchtekuchenwettbewerb. Außerdem ist da noch der geheimnisvolle Tim „Eater X“ Janus, der sich bei jedem Auftritt mit Kriegsbemalung verziert, wirres Zeug über die Essbarkeit von Aliens von sich gibt und erst kürzlich von der Weltrülpsvereinigung für einen 18,1-sekündigen Laut prämiert wurde. Zu guter Letzt: Die zutätowierte Maria Edible, die heimlich in der Wohnung ihrer Eltern trainierte und (ebenso heimlich) eine Karriere als Aktmodell startete, wofür sie sich mit gegrillten Spare-Ribs auf den nackten Brüsten ablichten ließ und mächtig Ärger von ihrer Familie bekam. 
Wer der kommende Herrscher in der Szene des Wettessens sein wird, da sind sich eigentlich alle einig, steht schon fest. Der 19-jährige Matt Stonie alias „die Megakröte“ hat sich in den letzten Jahren nach oben gefressen. Er rangiert derzeit zwar nur auf Platz fünf der Weltrangliste, aber sogar der Champion wird nervös beim Anblick dieses Jungen aus San José. In der Tat gibt es ein bestechendes Indiz dafür, dass er bald alle seine Gegner vernichten wird: Matt Stonie war in seiner Jugend magersüchtig, für ihn ist das öffentliche Wettessen eine Form von Therapie.

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