Sick City
New York ist Wahnsinn toll, aber es ist auch: wahnsinnig kaputt. Kaputte Brückenpfeiler, einstürzende Highways und über hundert Jahre alte Wasserrohre: Es bröckelt es an allen Ecken und Enden
Von Annett Scheffel; Foto: Luc Kordas
Alle paar Jahre bekommt New York eine Note. Wie in der Schule. Nur dass die Sache ernster ist. Viel ernster. Dann prüft und bewertet die American Society of Civil Engineers, der US-Ingenieurverband, in einem Bericht, wie es um die Infrastruktur des Landes steht. Beim letzten Mal im Jahr 2022 gab es für den Bundesstaat New York bloß eine Drei, befriedigend. „Und für New York City sieht es noch schlechter aus. Die Stadt liegt seit Jahrzehnten eher bei einer Drei minus oder darunter“, sagt Debra Laefer. Sie ist Professorin an der New York University, wo sie ein Programm zu Stadtplanung und neuen urbanen Technologien leitet. „Und es wird immer schlimmer. Die Infrastrukturen werden älter, während die Bevölkerung in New York zunimmt und es kaum bedeutende Investitionen gibt.“
Denn die Stadt, die niemals schläft, ist müde. Viele wichtige öffentliche Systeme sind marode geworden und geben langsam nach. Dabei geht es um viel mehr als bröckelnde Fassaden, nämlich um eine im Großen und Ganzen erschöpfte Infrastruktur – und das in einer Megacity, die immer weiterwächst. Viele der Brücken, wie die berühmte Brooklyn Bridge, die Stadtautobahnen und Verkehrstunnel unter dem Hudson River sind alt und erfordern ständige Wartungs- und Reparaturarbeiten. Das U-Bahn-System ist das älteste des Landes und wegen Materialverschleiß und technischen Störungen chronisch unzuverlässig. Undichte Rohre sorgen in der ganzen Stadt für Probleme bei der Wasserversorgung. Und wegen uralter Stromleitungen brechen in Wohnhäusern immer wieder verheerende Brände aus, bei denen Menschen verletzt und getötet werden. Auch die Sicherheit vieler historischer Wolkenkratzer muss permanent überprüft werden.
Große Teile dieser Infrastruktur, die das Wachstum und den Aufstieg von New York City erst möglich gemacht haben, stammen noch aus dem 19. oder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sind nicht selten über hundert Jahre alt. Kein Wunder also, dass in dieser alternden Metropole die Knochen knirschen und Arterien verstopfen. Das Problem ist nur: Die Menschen, die hier leben, sind darauf angewiesen, dass alles tagein, tagaus weiter funktioniert. Tagein, tagaus. Ohne Pause.
Was passiert, wenn eine Stadt alt wird? Ist sie dann überhaupt noch sicher? Und wie lange kann das noch gut gehen?
Einst war New Yorks Labyrinth aus Rohren eine technologische Meisterleistung. Doch heute ist die unterirdische Welt gekennzeichnet von Rost, Kalkablagerungen und feinen Rissen
In New York City leben 8,8 Millionen Menschen (und zwanzig Millionen in der Metropolregion). Debra Laefer beschäftigt sich vor allem damit, was tief unter ihnen, verborgen unter Asphalt und Hochhausfundamenten, passiert – dort, wo die Versorgungsadern der Stadt liegen. Sie sagt, wenn es darum geht, die Wasser- und Abwassersysteme instand zu setzen, sei der Wettlauf mit der Zeit eigentlich unmöglich zu gewinnen: „Bei dem Tempo, das wir derzeit in New York vorlegen, würde es 200 Jahre dauern, um alle Rohre zu ersetzen. Aber die Rohre haben eine Haltbarkeit von weniger als hundert Jahren.“ Das bedeutet, sieht man es realistisch: Das System gibt den Geist auf, bevor man es reparieren kann.
Einst war New Yorks Labyrinth aus Rohren eine technologische Meisterleistung. Doch heute ist die unterirdische Welt gekennzeichnet von Rost, Kalkablagerungen und feinen Rissen. Deswegen kämpfen die New Yorker ständig mit dem Wasserdruck – besonders in den tiefer gelegenen und von Überschwemmungen bedrohten Gebieten wie Red Hook in Brooklyn oder South Jamaica in Queens. Täglich versickert ungenutztes Wasser, bevor es bei den Stadtbewohnern ankommt. Effizient und ressourcenschonend ist anders.
Das New Yorker Wasserversorgungssystem ist eines der größten und ältesten der USA. Etwa vierzig Prozent der Leitungen wurden vor 1941 verlegt und haben die Lebensdauer längst überschritten. Einige Teile davon stammen sogar noch aus dem 19. Jahrhundert. (Im Jahr 2006 stieß man bei Grabungsarbeiten in Manhattan auf Leitungen aus – wirklich wahr – Baumstämmen, vermutlich aus den 1820ern.) Jährlich kommt es in der ganzen Stadt zu Hunderten von Wasserrohrbrüchen. Oft müssen dann Tausende Haushalte stunden- oder tagelang ohne Wasser auskommen. Wenn eine Hauptleitung nachgibt, wird nicht selten auch der Verkehr lahmgelegt. Erst im Dezember letzten Jahres wurden nach einem Rohrbruch in der Bronx ganze Straßenzüge überflutet. Das Alter der Leitungen wirkt sich zum Teil auch auf die Sauberkeit des Wassers aus. In vielen alten Gebäuden gibt es Bleirohre und rostige Ventile, weswegen sich viele Bewohner angewöhnt haben, das Wasser einen Moment laufen zu lassen, bis sie es benutzen. Sicher ist sicher.
Besonders heikel wird es bei Starkregen. Denn wenn der Regen kommt, kommt auch das Abwasser. Das liegt an New Yorks veraltetem Kanalisationssystem, das schnell überlastet ist. „Bei extremen Regenfällen, wie bei Hurrikan Ida vor einigen Jahren, betrug die Niederschlagsmenge bis zu 88 Liter pro Quadratmeter. Unsere Kanalisation ist aber nur auf 25 Liter pro Quadratmeter ausgelegt“, erklärt Debra Laefer. Weil sowohl Regen- als auch Abwasser durch dieselben Rohre geleitet werden, wird ungeklärtes Wasser direkt in den Hudson River, den East River und die New Yorker Kanäle gedrückt, was nicht nur stinkt, sondern auch zu enormen Umweltschäden führt. „New York wird nicht in der Lage sein, sein Abwassersystem schnell genug anzupassen, um mit den immer häufigeren Starkregenfällen fertigzuwerden“, sagt Debra. Man werde auf jeden Fall alternative Strategien brauchen.
Der Brooklyn-Queens-Highway ist eine tickende Zeitbombe: Unter dem Gewicht der Autos und Lkw ist an den Trägern der Beton spröde geworden und von Rissen durchzogen
Wasser ist wichtig. Mobilität ist es in einer Stadt wie New York City ebenso. Janno Lieber, der Vorstandsvorsitzende des städtischen Verkehrsunternehmens MTA, formulierte es kürzlich auf einer Pressekonferenz so: Für die New Yorker sei der öffentliche Nahverkehr wie Luft und Wasser. Sie bräuchten ihn zum Überleben. Was Lieber meint: Eine Stadt wie New York City funktioniert nur, wenn sie es schafft, die Millionen von Menschen, die dort leben, zu bewegen. Millionen von Menschen sind täglich auf U-Bahnen und Busse angewiesen, um zur Arbeit zu kommen oder zur Schule ihrer Kinder. Zu spät kommen ist für viele – besonders für Geringverdiener oder Alleinerziehende – keine Option. Das Fahrgastaufkommen ist zwar seit der Pandemie um ein Drittel zurückgegangen, aber allein in den U-Bahnen sind es immer noch 3,6 Millionen täglich. Doch viele Teile des U-Bahn-Netzes sind über hundert Jahre alt und erschöpft von der Geschwindigkeit der Stadt: von den Schienen über die oft nicht barrierefreien Stationen bis zur Signaltechnik. All das führt ständig zu Überlastungen und Störungen. Bahnen kommen zu spät oder gar nicht, und die Waggons sind heillos überfüllt. New York City ist eine Metropole, die permanent ins Stocken gerät. Irgendwie funktioniert es weiter. Aber das System ist unberechenbar.
„Wie groß das Problem ist? Es ist riesig. Es ist ein Problem von mehreren Milliarden Dollar. So groß, dass ein normaler Mensch das gar nicht richtig begreifen kann“, sagt Rachel Weinberger. Sie arbeitet seit über dreißig Jahren als Stadtplanerin in New York, besonders zu Themen wie Verkehr und Nachhaltigkeit. „Ich habe mir neulich erst den Finanzierungsplan der MTA angesehen. Es ist ein ehrgeiziger Plan für die Sanierung der städtischen Busse, U-Bahn- und S-Bahn-Linien. Trotzdem müsste der Plan fast doppelt so hoch angesetzt werden, um nach dreißig Jahren chronischer Unterfinanzierung die Lücken in der veralteten Infrastruktur zu schließen und weiter mit dem Bedarf Schritt zu halten.“ Keiner wisse, so Rachel Weinberger, wo das Geld herkommen soll.
Eines der ganz wenigen Großprojekte, deren Finanzierung zuletzt nach jahrelangen Verhandlungen endlich auf den Weg gebracht wurde, ist die Sanierung und Erweiterung des Hudson-Tunnels: Der Bahntunnel ist ein Nadelöhr, durch das jeden Tag 200.000 Pendler von New Jersey nach Manhattan befördert werden und das bei einem Komplettausfall das Zeug dazu hat, das gesamte Verkehrsnetz der Ostküste lahmzulegen. Das Bauprojekt soll etwa sechzehn Milliarden Dollar kosten, finanziert durch eine Mischung aus Bundes-, Landes- und privaten Mitteln, und bis 2035 dauern.
Aber dann ist da noch eine ganz andere Baustelle: der Brooklyn-Queens Expressway, kurz BQE, ist eine wichtige, stark sanierungsbedürftige Verkehrsader, die die östlichen Stadtteile Brooklyn und Queens mit Manhattan und Staten Island verbindet. Eine bröckelnde Stadtautobahn, die zudem die anliegenden Nachbarschaften zerschneidet, mit einem unaufhörlich dröhnenden Lärm überzieht und die Luft mit Abgasen verschmutzt. Der Highway, gebaut in den 1930er- bis 1960er-Jahren, war seinerzeit ein modernes Verkehrsprojekt. Heute dagegen schlängelt er sich altersschwach als Relikt einer nicht mehr zeitgemäßen autogerechten Stadtplanung durch eine Megacity, die um mehr verkehrsberuhigte Zonen, Radwege und Begrünung ringt. Und vor allem ist er eine tickende Zeitbombe: Unter dem Gewicht der Autos und Lkw ist an den Trägern der Beton spröde geworden und von Rissen durchzogen. Experten warnen seit Jahren, dass der BQE ohne Sanierung irgendwann einstürzen könnte. Besonders der Abschnitt in Brooklyn Heights, berühmt für seine dreistöckige Straßenführung, ist in sehr kritischem Zustand, sagt die Stadtplanerin Rachel Weinberger: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es rostet und bröckelt. Und trotzdem donnern da täglich 150.000 Fahrzeuge drüber, und das Problem wird weiter vor sich hergeschoben.“ Dabei habe es in New York schon einmal eine Katastrophe gegeben, sagt sie, aus der man eigentlich hätte lernen müssen: 1973 stürzte ein Teil des West Side Highway ein und riss einen Lastwagen mit in die Tiefe.
Die Frage, was mit dem BQE passieren soll, spaltet Politik und Stadtbewohner gleichermaßen. Eine Sanierung würde Milliarden kosten und jahrelange Baustellen bedeuten. Ein Abriss? Kaum vorstellbar in einer Stadt, die auf diese Verkehrsader angewiesen ist. Oder ein radikaler Umbau, vielleicht mit unterirdischen Tunneln und einem Park oben drüber? Viel zu teuer. Während diskutiert wird, zerfällt der BQE weiter. Ein maroder Koloss in einer Metropole, die immer in Bewegung ist und immer am Rande des Zusammenbruchs.
Es ist schwer, Anerkennung für einen Schaden oder Verkehrskollaps zu bekommen, den man verhindert hat
Was unter all diesen Problemen das dringendste ist? Unmöglich zu sagen, meint Weinberger: „Das ist so, als würde ich meinen Kindern versuchen zu erklären, was der wichtigste Teil ihres Körpers ist: das Herz, das Gehirn, die Lunge?“ Und genau wie mit unseren Körpern sei es auch mit New York City: „Von vielen Dingen, die täglich im Inneren ablaufen, bekommen wir gar nichts mit, solange alles irgendwie funktioniert.“ Entgegen allem Anschein, sagt Rachel, werde der Patient New York City aber auf jeden Fall viele kompetente Chirurgen brauchen.
Derweil sagen manche, die alternde Infrastruktur sei ein Ausdruck für das wahre New York: widerstandsfähig, improvisiert, behelfsweise zusammengehalten. Doch irgendwann – das wissen alle – wird irgendwas schiefgehen. „Wenn wir unser ganzes Geld für Notreparaturen ausgeben, bleibt nichts für die wichtigen Investitionen übrig“, sagt die Wissenschaftlerin Debra. Sie weiß, dass all die brüchigen Brückenpfeiler und undichten Wasserleitungen nicht einfach nur Symbole des städtischen Verfalls sind, sondern auch eine Geschichte von Unterfinanzierung, politischem Stillstand und sozialen Ungerechtigkeiten: „Das Problem ist, dass Politiker in ziemlich kurzen Zyklen gewählt werden, aber Infrastrukturprojekte extrem langwierig sind. Politiker wollen glänzen. Sie wollen Bänder durchschneiden. Dagegen ist es schwer, Anerkennung für einen Schaden oder Verkehrskollaps zu bekommen, den man verhindert hat.“
Wie es weitergeht mit der ausgelaugten Stadt, ist ungewiss. Immerhin gibt es in den letzten Jahren kleine Fortschritte. Debra Laefer und andere Wissenschaftler arbeiten an besseren Programmen, um die Schwachstellen und den Datenaustausch zwischen all den Akteuren digital zu erfassen. Und Rachel Weinberger entwickelt Konzepte, wie man den Verkehrsfluss auf den Straßen ausgleichen und Überlastungen verhindern kann. Aber niemand wisse, wie man dieses ungeheure Infrastrukturproblem in den Griff bekommen soll. Einer ihrer Kollegen sage immer: „Wie isst man einen Elefanten? Bissen für Bissen!“
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