Seid ihr noch da?
Ein Tag unter Narkoleptikern
von Sara Geisler
Wenn Elias den Taktstock ins Orchester wirft, denkt das Publikum, das soll so sein. Musik bringt einen eben in Wallung, da wird mancher ein bisschen expressiv. Die Wahrheit ist: Elias kann gar nicht anders. Verpasst die Oboe ihren Einsatz, ärgert er sich so sehr, dass sein Gesicht einschläft: Erst sacken nur die Mundwinkel ab, dann klappt der Unterkiefer nach unten. Und wenn die Tuba dann noch zu spät kommt, schlafen auch Elias’ Hände ein. Und schon liegt der Taktstock irgendwo im Orchestergraben.
Elias hat Narkolepsie, auch Schlummersucht oder Schlafkrankheit genannt. Tagsüber ist er deshalb unsagbar müde, nachts oft schlaflos. Er leidet an Halluzinationen, Schlaflähmungen und an sogenannten Kataplexien: Die Muskeln verlieren jede Spannung. Das kann einzelne Körperteile treffen oder aber alle auf einmal. Ausgelöst werden Kataplexien durch starke Gefühle. Situationen, in denen sich positive und negative Emotionen abwechseln – Weihnachten im Kreise der Familie, tragische Filme, One-Night-Stands –, für Narkoleptiker nur schwer auszuhalten. Dass während der Kataplexien nur der Körper ruht, der Geist aber voll da ist und nur allzu bereit, sich zu ärgern (über die Krankheit, sich selbst, die Gaffenden), macht die Situation nicht besser.
Heute steht Elias nicht vor dem Orchester, sondern vor einer Klinik für Pneumologie und Schlafmedizin. Auf einem Hügel, gut zehn Kilometer außerhalb einer westdeutschen Stadt, treffen sich hier Narkoleptiker und Angehörige zu einem Kongress. Es ist windig an diesem Herbsttag, die Sonne scheint, und der Mann, 60 plus, der auf dem Parkplatz wie eine Marionette zusammensackt, der man die Schnüre durchgeschnitten hat, ist froh über die dicke Schicht Laub, die den Asphalt bedeckt. „Opi!“, rufen zwei Frauen an seiner Seite. Dann helfen sie ihm lachend wieder auf und schieben ihn in Richtung Eingang. „Brauchst doch nicht nervös zu sein. Geht hier ja allen wie dir.“
Auch wenn die Symptome schwer zu ignorieren sind, wissen die meisten Narkoleptiker gar nicht, dass sie Narkoleptiker sind. Von den 40.000 Betroffenen, die es laut Deutscher Gesellschaft für Schlafmedizin in der BRD gibt, wird nur jeder zehnte richtig diagnostiziert. Die neun anderen haben „Eisenmangel“ oder „Epilepsie“, einen „schwachen Kreislauf“, „Schizophrenie“ oder, und so lautet auch oft die Diagnose versetzter Freunde: Sie sind unfassbar faul. In einer Gesellschaft, in der man dauernd Vollgas geben soll – Vollgas beim Arbeiten, Vollgas beim Feiern, Vollgas beim Chillen –, lebt es sich für Narkoleptiker besonders schwer.
Kurz vor zehn Uhr ist die kleine Aula fast voll. Neben dem Rednerpult steht auf einem Banner „Mit Narkolepsie aufgeweckt durchs Leben“. Eine kleine Jazzband spielt „Moon River“, und durch drei große Rundbogenfenster fällt buntes Licht auf die jungen und alten Narkoleptiker, auf quirlige und bequeme, berufstätige und berufsunfähige. Der eine hat nur sich selbst dabei, der andere die ganze Familie. Um die hundert Menschen sind es, viele kennen sich aus Facebook- und Selbsthilfegruppen.
„Koffein gibt es hier“, sagt ein runder Mann im Anzug und deutet auf ein halbes Dutzend verchromter Thermoskannen. „Und dort auch“, sagt er und zeigt in die andere Richtung: noch mal sechs Kannen, daneben thronend ein Kaffeevollautomat, der auch drei Automaten sein könnte. „Das wäre das Wichtigste. Alles andere finden Sie schon raus“, sagt er und nickt den Neuankömmlingen aufmunternd zu.
Elias ist nicht einfach nur müde. Er ist permanent gejetlagt. Wie auf einem endlosen Interkontinentalflug. Der Grad seiner Schläfrigkeit ist vergleichbar mit jener, die sich bei einem gesunden Menschen nach 48 bis 60 Stunden Schlafentzug einstellt. Nichtnarkoleptiker würden nach so einer Tortur erst einmal einen Tag schlafen. Narkoleptiker können das nicht: Sie haben den Schlafrhythmus eines Babys, einen zerhackten Schlaf, der sie schon kurz nach dem Aufwachen wieder müde macht.
In der vorletzten Reihe sitzt Adriana. Sie ist mit ihrem Vater gekommen. Er lacht viel, genau wie seine Tochter, aber schaut dabei immer ein bisschen nervös drein. Adriana war 15, als man die Narkolepsie diagnostizierte. In der Schule war es „oberscheiße“, sagt sie. „Während des Unterrichts permanent einzupennen kommt nicht so geil. Und die anderen ständig um Mitschriften zu bitten auch nicht.“ Das Abi hat Adriana trotzdem geschafft. Jetzt macht sie eine Ausbildung, ist bald Hotelfachfrau. „Der Schichtdienst bringt meinen Rhythmus noch mehr durcheinander. Aber zumindest ist immer megaviel zu tun.“ Sobald sie sich länger als ein paar Sekunden flach hinlegt, schläft sie sofort ein. „Würd ich mich hier zwischen die Stühle hauen, ich wär sofort weg“, sagt sie, wie „eine Puppe mit Schlafaugen.“
Narkoleptiker müssen die Ekstase meiden, Monotonie aber auch. Wird es ihnen langweilig, steigt nämlich die Einschlaftendenz und auch die Gefahr für etwas, das man „Automatisches Verhalten“ nennt: Der Kopf schläft ein, aber der Körper macht weiter. Beim Zähneputzen kann das praktisch sein. Beim Zwiebelhacken, Autofahren oder Babysitten dagegen nicht. Manche Narkoleptiker merken rechtzeitig, wenn sie der Schlaf zu übermannen droht, sie fahren rechts ran oder legen den Rasierer weg. Andere haben Strategien entwickelt, um wach zu bleiben: Sie drücken die Fingernägel in den Handballen, rauchen Kette oder singen sich laut was vor.
Der erste Redner, eine „Koryphäe“, wie Adriana betont, berichtet von neuen Erkenntnissen aus der Narkolepsieforschung. Davon, dass Narkolepsie jetzt sehr wahrscheinlich eine Autoimmunkrankheit sei. Dass Narkoleptiker wenig Hyperkretin im Gehirnwasser haben, ein Botenstoff, der unter anderem die Schlaf- und Wachphasen reguliert. Und auch, dass eine Genvariante namens HLA DQB1 Typ+0602 was damit zu tun hat. Zwar hat diese auch jeder dritte Gesunde, unter Narkoleptikern sind es aber fast 100 Prozent. Aus der letzten Reihe tönt leises Dösen. „Labormäusen hat man mit einer dünnen Nadel Hyperkretin direkt ins Gehirn gespritzt. In bisherigen Versuchen wirkte sich das positiv aus“, sagt der Neurologe, „aber die Methode muss man halt mögen.“ Dann erzählt er, was viele im Raum längst wissen: dass nicht nur Infektionen, sondern auch Pandemrix, ein Impfstoff gegen Schweinegrippe, Narkolepsie auslösen kann.
2009 und 2010 riefen die Behörden in Deutschland, Schweden, Finnland, Norwegen und ein paar anderen Ländern dazu auf, Kinder und Jugendliche gegen die Schweinegrippe zu impfen. Die Deutschen sind impffaul, aber die Skandinavier hielten sich an den Rat. Schon nach wenigen Wochen stieg bei ihnen die Zahl der Narkolepsiefälle stark an.
„Bei Kindern und Jugendlichen erhöht sich das Risiko um das Dreizehnfache“, sagt der Neurologe, „bei Erwachsenen, wie Studien zeigen, dagegen nicht.“ Im Publikum kramen trotzdem einige nach ihren Impfpässen. Eine Frau erzählt, dass sie sich impfen ließ, weil ihre Tochter sie darum bat: Wegen ihrer multiplen Sklerose sei sie für Infektionen besonders gefährdet. Jetzt hat sie beides: multiple Sklerose und Narkolepsie. Wenn sie müde wird, rüttelt sie mit den Händen an ihrem Rollstuhl oder lenkt die Augen ab. „Ich schaue nie länger als ein paar Sekunden auf denselben Punkt“, sagt sie. Ein anderer erzählt vom Stand seiner Klage. Manche Pandemrix-Opfer würden bereits entschädigt. Nicht vom britischen Hersteller GlaxoSmithKline selbst, aber von den Gesundheitsbehörden, die die Impfungen empfohlen haben.
Es gibt mehre Selbsthilfegruppen – eine für Angehörige und zwei für Betroffene.
„Was ist das Schlimmste an der Krankheit?“, fragt die Gruppenleiterin die Betroffenen.
„Das Fahrverbot“, sagt ein ehemaliger Vollzugsbeamter, der unbedingt wieder arbeiten will.
„Die Depression, die dazugekommen ist, und das Übergewicht“, sagt eine Frau.
„Ich will einfach mal lachen. Und in der Pause mit den anderen Kindern spielen“, sagt ein Mädchen mit einer Tasche voller Glitzer-Gelstifte auf den Knien.
„Wenn andere sagen: ‚Ach, komm, ich bin auch müde‘“, sagt Elias, der auf Partys manchmal einschläft, deshalb er auf keine mehr will. „Der erste Eindruck zählt“, glaubt Elias, „und ich will nicht auf ewig der eine sein, der vor Langeweile einschlief.“
Eine ältere Frau sagt: „Dass ich mir wegen der Halluzinationen selbst nicht mehr trauen kann.“ Alle nicken. Nur ein Jugendlicher, alle seine Kleidungsstücke haben eine Kapuze dran, sagt: „Also ich find die Hallus cool.“
Bei den meisten Narkoleptikern kommen die Halluzinationen beim Einschlafen oder Aufwachen und sind viel realistischer, als Träume es je sein könnten. Viele hören Stimmen, sehen Menschen durchs Fenster ins Schlafzimmer klettern oder spüren, wie jemand sie berührt. Oft werden Halluzinationen von einer Schlafparalyse begleitet: Bei gesunden Menschen tritt diese während des REM-Schlafs auf, als Schutz, damit sich beim Träumen keiner verletzt. Narkoleptiker sind während der Lähmung hellwach.
„Und was hilft?“, startet die Gruppenleiterin die zweite Runde.
„Kohlenhydrate helfen“, sagt einer.
„Sport hilft“, sagt ein anderer, der sich selbst „der Mann unter Strom“ nennt und für sein „Aus-dem-Quark-Kommen“ von allen bewundert wird: „Respekt!“, „Wow!“
„Verständnis hilft“, sagt Elias.
„Eine Freundin von mir hat Glasknochen, das find ich noch viel schlimmer“, sagt Adriana.
Ein ganz Dünner sagt: „Schlafen hilft.“
„Aber das ist doch kein Leben!“, sagt der Mann unter Strom.
Die Runde ist noch nicht fertig, da fängt der Kontrabass oben in der Aula schon wieder zu brummen an. „Over the Rainbow“. Mittagspause. Ein Buffet wird aufgetragen, „Es besteht die Möglichkeit für Schlafpausen in einem Ruheraum“, stand auf der Einladung. Mehrfach fallen die Wörter Suppenkoma und Fressnarkose.
Die nächste Referentin spricht über Musiktherapie. Über „Aktivierung“, „Lebensbausteine“ und dass der „Rhythmus als Regulator von Emotionen“ ähnliche „Strukturen wie der menschliche Organismus“ besitzt. Dann zitiert sie Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. In Reihe 2, 4 und 5 kippen mehrere Köpfe nach vorne, darunter auch der von dem Mann unter Strom. Doch dann kündigt die Rednerin ein Experiment an. Sie sucht einen Freiwilligen für die Klangliege: oben massagetischartiger Holzkasten, unten monströse Zither. „Das einzige Instrument, auf das man sich legen kann“, sagt die Referentin und sucht mit den Augen das Publikum ab. Adriana flüstert, dass sie das jetzt ehrlich gesagt nicht für eine passende Therapieform halte. Eine Freiwillige findet sich dann aber doch. „Bei Raves stell ich mich auch gern mal direkt neben die Boxen“, sagt sie. Jetzt legt sich die Raverin auf den Holzkasten, ein glatzköpfiger Mann setzt sich im Schneidersitz davor, alle anderen stehen im Kreis um ihn herum. Dann streichen seine Finger langsam über die Saiten wie über die einer Harfe. Ein gleichmäßiger Sound erfüllt erst die Raverin und dann die ganze Aula.
In der Kaffeeschlange erzählt eine Frau aus der Selbsthilfegruppe über ihre Ehe. „Manchmal tut mir mein Mann leid“, sagt sie, „manchmal habe ich Angst, dass er ein aufregenderes Leben will.“ Dass sie Narkolepsie hat und nicht einfach nur ein „bisschen depressiv“ ist, wie es vorher hieß, wissen die beiden erst seit ein paar Monaten. Sie war über zehn Jahre lang auf der Suche. Ein Arzt sagte, ihre Hautcreme sei der Grund für die Kataplexien im Gesicht. Ein anderer gab ihrem unerfüllten Kinderwunsch die Schuld. „Dabei will ich gar keine Kinder“, sagt sie.
Beim letzten Vortrag – „Medikamentöse Behandlung der Narkolepsie“ – sind wieder alle dabei. Es ist ein Crashkurs über die Möglichkeiten, die Forschung und Medikamentenzulassung derzeit bieten: Das Stimulans Modafinil gegen Tagesschläfrigkeit, das Antidepressivum Clomipramin gegen Kataplexien, das neue Mittel Wakix gegen beides auf einmal. Um ein halbwegs normales Leben führen zu können, so wird bald klar, haben Narkoleptiker nicht nur einen sehr vollen Spiegelschrank, sondern auch einen, den man sehr gut verkaufen könnte. Ritalin zum Beispiel, Dextroamphetamin (Crystal Meth) und auch Xyrem (GHB, auch unter „Liquid Ecstasy“ bekannt) fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Doch während die meisten Menschen, wenn sie Liquid Ecstasy hören, an Chemsexpartys (niedrige Dosis) oder Arschlochtypen (hohe Dosis) denken, denken Narkoleptiker einfach nur an Schlaf. Vier Stunden ungestörter Schlaf, um danach ein kleines bisschen fitter zu sein. Spaß machen die Dosen, die dafür nötig sind, lange nicht mehr.
Die Zeit ist fast um, als die Frage schließlich doch noch kommt: „Wird Narkolepsie irgendwann heilbar?“ Ein paar kichern, einer rückt seinen Stuhl hörbar zurecht. Dann herrscht eine grandiose Stille, so, als hätte Elias den Taktstock zum Finale erhoben. „Es tut sich jetzt wirklich viel in der Forschung“, sagt der Redner und schaut zuversichtlich in die Menge, „aber ein bisschen wird das wohl noch dauern.“
Vielleicht ist das das Schlimmste und gleichzeitig einzig Gute an der Narkolepsie: Auch wenn einem keiner sagen kann, warum – aber wenn man schläft, dann vergeht die Zeit unglaublich schnell.