Reise zum Mittelpunkt der Herde
Zwischen Verschwörungstheorie und Bilderbuch ist kaum ein Tier so eng mit dem Schlaf verbunden wie das Schaf. Grund genug, einmal die dickste Wollweste anzuziehen und eine Nacht lang im Stall zu schauen: Wie schlafen diese Tiere wirklich?
von Steffen Greiner; Foto von Frederik Buyckx
In einem Unterstand etwas abseits von den anderen, neben den Traktoren und den Viehanhängern, steht der Bock Theseus zwischen den zehn Weibchen, die er gerade belegt, also: geschwängert hat, steckt das Gesicht durch das Gatter und lässt sich von Nadja tätscheln. Theseus, großer Name, griechische Mythologie, und seine üppigen Spiralen drehenden Hörner sind auch wirklich beeindruckend. Ein anderer Bock heißt Brutus, „der hat einen Tyrannen besiegt“, sagt Nadja. Ein dritter heißt Fidel Castro, weil er kastriert ist. Fidel Castro ist zahm, fett und unbeweglich, er schützt seine Frauen durch bloße körperliche Präsenz. „Wir hofften mal, dass er abschreckt, wenn er bei der Herde ist“, sagt Werner.
Es ist kurz nach neun Uhr abends auf dem Biohof Beckers vor Wittmund in Ostfriesland, und das ist das einzige Mal, dass in diesem Text zumindest mittelbar des Wolfs gedacht wird, denn darum drehen sich schließlich seit Jahren alle Texte über die Schäferei. Wobei: Der Wolf ist schon wichtig, als Antagonist. Ohne Wolf wären Schafe keine Schafe. Ohne Wolf wären Schafe jedenfalls keine Metapher. „Wir kommen nicht als Freunde. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, kommen wir!“, schrieb 1928 der Reichstagsabgeordnete Joseph Goebbels zum Einzug der NSDAP ins Parlament. Und ein prominenter Thüringer Faschist der Gegenwart erklärte 2018 in gleicher Manier die „Schafzeit“ für beendet: „Heute lautet die Frage, Schaf oder Wolf. Und ich, nein, wir entscheiden uns in dieser Lage, Wolf zu sein!“ Die anderen, die Naiven und Dummen, Genügsamen, dem Trott der Masse Verfallenen – das sind dann also die Schafe. Menschen, die „Tagesschau“ gucken, statt Medien zu nutzen, die uns über den großen Bevölkerungsaustausch und die Schlechtigkeit von Migranten aufklären. Das Schlimmste, was man im Universum der Schwurbler sein kann, ist das sogenannte Schlafschaf.
Tatsächlich gibt’s wohl kein Tier, das so sehr mit dem Schlaf verbunden wird wie das Schaf. Wir zählen Schäfchen zum Einschlafen und schlafen dann (hoffentlich) wie ein Lämmchen. Selbst Androiden, vermutete Science-Fiction-Autor Philip K. Dick im Jahr 1968, träumen von elektrischen Schafen.
Und die Schafe? Träumen die überhaupt etwas? Wie schläft es sich wirklich als Schaf? Dafür habe ich mich im Winter für eine Nacht bei den Heidschnuckenschäfern Nadja Heftrich-Beckers und Werner Beckers einquartiert und beobachte bei zwei Grad und Nebel, wie sich in den Offenställen neben dem großen friesischen Bauernhaus die Schafe schlafen legen. Oder eben auch nicht.
Die Cuteness weicht der Surrealität. Die plötzlich hämisch wirkenden Gesichter der Böcke mit ihren mächtigen Gehörnspiralen, die Körper, die unter den Zotteln kaum zu erahnen sind. Ich traue mich nicht, die Taschenlampe zu benutzen
Um halb zehn abends im Februar ist es schon tiefste Nacht, doch von Schlaf noch nichts zu spüren. Ich gehe mit Nadja die Offenställe ab. Sie haben nur nach drei Seiten Wände, denn Schafe fühlen sich in geschlossenen Räumen gar nicht wohl. Alles ist maximal flexibel, Zäune aus Metall, Holz oder Paletten trennen die verschiedenen Böcke mit ihren Weibchen, bis sie alle im Frühjahr auf die weit verstreut liegenden Weideflächen gebracht werden. Der Stall ist also weniger Wohnort als Transitraum. Ganz links ist der Unterstand der Jungböcke, jener Tiere, die selten ihre Geschlechtsreife erleben – die Böcke müssen, um gekört, also als Zuchtbock ausgewählt zu werden, sehr hohe Standards erfüllen. Die anderen werden zu Hack oder Haxe. Davon unbenommen läuft hier gerade das große Fressen: Die Schafe sammeln sich eng ums Futterheu und kauen unermüdlich.
Nicht weit entfernt, in der großen Scheune, stehen in gelbem Licht sechs kleine Lämmchen, die besonderen Schutz brauchen: Sie haben gerade die Blauzungenkrankheit überstanden, die durch Mücken übertragen wird und seit einigen Jahren, dem Klimawandel geschuldet, immer öfter die nordwestlichen Höfe heimsucht. Eines der sechs ist besonders mitgenommen, es liegt mit offenen Augen im Stroh. Ganz schwach nur geht sein Atem. Das Fell ist weich, aber zottig und lang wie bei allen Schafen der Weißen Gehörnten Heidschnucke, die die Beckers hier züchten. Fast sieht es aus, als hätte es dem spanischen Barockmaler Francisco de Zurbarán für sein Ölgemälde „Lamm Gottes“ Modell gestanden.
Noch so ein Bild vom Schaf: das Opferlamm. Dabei gleichzeitig der Triumph des Opfers: Mit gleichmütigem Blick geht es auf die Schlachtbank. Das liturgische „Agnus Dei“ deutschte Martin Luther so ein: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt“.
Um elf sind die Beckers im Bett und ich allein mit den Schafen. Tiefschwarze Nacht, kein Stern dringt durch den Nebel in der ostfriesischen Geest. Im Dunkeln sind die Schafe ein einziger murmelnder Organismus, eine unförmige Masse aus Wärme und Kaugeräuschen. Alles ist sehr friedlich, aber auch von zunehmender Fremdartigkeit: Die Cuteness weicht der Surrealität. Die plötzlich hämisch wirkenden Gesichter der Böcke mit ihren mächtigen Gehörnspiralen, die Körper, die unter den Zotteln kaum zu erahnen sind. Ich traue mich nicht, die Taschenlampe zu benutzen, weil es die Tiere erschrecken könnte. Zwanzig Augenpaare aus der Tiefe des Stalls reflektieren das schwache Licht meines Handybildschirms.
Doch meine Zurückhaltung nützt nichts. Klassisches Beobachterparadoxon: Meine bloße Anwesenheit verfälscht die Ergebnisse meiner Untersuchung. Die Schafe beobachten mich genauso wie ich sie. Jede falsche Bewegung löst ein Zucken aus, das sich auf die gesamte Herde zu übertragen scheint. Also um Schlafschafe handelt es sich sicher nicht: Diese hier sind blitzwach und alert.
Richtig tief schlafen nur die Lämmer. Fast wie ein menschlicher Säugling
Punkt Viertel nach elf lässt eines der zukünftigen Mutterschafe neben Theseus einen kräftigen Urinschwall los. Wie auf Kommando kurz danach ein zweites und ein drittes. Es dampft. Um Viertel vor zwölf fährt ein Auto über die Landstraße, geht mit Schmackes in die Kurve. Um zwölf sehe ich zum ersten Mal ein Schaf auf dem Boden liegen. Ich nähere mich vorsichtig. Na, ist da jemand ins süße Reich der Träume gereist? Aber es starrt mich nur an, kräftig kauend.
„Die fressen nachts noch eine ganze Zeit. Und dann müssen sie ja auch noch das Ruminieren machen, also das Wiederkäuen“, hat mir Werner vorher erklärt. „Und dazu liegen sie in der Regel“, ergänzt Nadja. Werner und Nadja, er aus einer Bauernfamilie, sie Tochter eines Professors, haben den Hof in den Neunzigern übernommen und sich für die Zucht der seltenen Weißen Gehörnten Heidschnucke entschieden, die im Land zwischen Weser und Ems heimisch ist – und als bedrohte Tierart auf der Roten Liste steht. Ihre Weiden sind gepachtet und weit über die Umgebung verteilt, in Geest und Marsch, teilweise bewirtschaften sie auch Moorflächen. Die Scheunentür ist voll mit Preisplaketten für Zuchterfolge. Mit ihnen auf dem Hof lebt gerade Binyameen aus Bombay, der für ein paar Monate das Landleben kennenlernen will und die Beckers auf dem Hof unterstützt.
„Schafe sind Fluchttiere, sie schlafen nicht wie wir, die wir die Tür abschließen, ins Bett gehen und wissen, dass uns nichts passiert. Die sind immer mit einem Ohr dabei“, sagt Nadja, und mit Augen und Nase sowieso. Bei den Schafen sitzen die Augen seitlich, sodass sie immer ihr gesamtes Umfeld im Blick haben. „Auf den Wiesen ist nachts immer ein Leittier dazwischen, wenn das wegläuft, gehen die anderen sofort hinterher.“ Zwar kommen Schafe durchaus auf einige Schlafstunden, aber die Zyklen des sehr leichten Schlafs dauern meistens nur um die zehn Minuten. Nur etwa zwei Prozent des Schlafs sind tatsächlich REM-Phasen absoluten Tiefschlafs, in denen Schafe womöglich sogar träumen.
„Richtig tief schlafen aber die Lämmer. Fast wie ein menschlicher Säugling“, erklärt Nadja. Die Lammzeit bei der Heidschnucke ist im Frühjahr, und die Beckers vermeiden, die Muttertiere vorher zu scheren. „Denn wenn die einen vollen Pelz haben und die Mutter sich nachts zum Schlafen legt, steigen die Lämmer auf ihr warmes Fell und pennen da.“ Übrigens ist es den Müttern mit ihrem dicken, zotteligen Fell ganz egal, ob das ihre eigenen Lämmer sind. Zwar lassen sie keine anderen als ihre eigenen von ihrer Milch trinken. „Aber wenn da mal drei Lämmer auf ihnen schlafen, stört sie das überhaupt nicht.“
Um drei mache ich noch einen pflichtschuldigen Kontrollgang in Eiseskälte. Mittlerweile habe ich verstanden, dass Schafe Blitzlicht gut abkönnen und nicht weglaufen, im Kegel einer Taschenlampe hingegen schon. Aus sicherer Entfernung fotografiere ich also in die Ställe und zähle Schäfchen. Liegende Schäfchen zumindest. Bei Theseus sind es null. Im festen Stall immerhin sieben. Im Unterstand daneben keins, dafür aber drei der Jungböcke. Allerdings sehe ich auch, dass ihre Köpfe nicht hängen, sondern nach vorne blicken. Kein gutes Zeichen. Ich versuche, mich vorsichtig zu nähern, um zu sehen, ob ich da vielleicht doch schlafende Schafe gefunden habe. Eine schlechte Idee, schon höre ich das vertraute Rascheln des blitzschnellen Aufspringens. Gleich vier Uhr: Die Herde steht. Gesicherte Schlafbeobachtungen: zero. Meine Güte, was mache ich denn hier? Jetzt schlaf, Schaf!
Haben die überhaupt einen Tag-Nacht-Rhythmus?, frage ich die Schäfer. Schon, sagt Nadja. „Nachts wandern sie nicht rum. Sie fressen sich abends noch einmal voll, und dann legen sie sich hin. Und wenn sie aufstehen, hinterlassen sie ordentliche Köttelhaufen.“ Übrigens, auch das lerne ich: Trotz Herdentrieb schlafen die Schafe nie im Pulk, sie legen sich immer einzeln hin. Nur die Lämmchen lieben es, sich eng aneinanderzukuscheln.
Nix Schlafschaf – sondern der Antifaschismus im Wollpelz
Um sechs Uhr kräht der Hahn. Der Tag schleicht sich langsam heran. Im Hoheitsgebiet von Theseus pisst eines der tragenden Weibchen. Im Blitzlicht zähle ich drei liegende Schafe in den Unterständen. Der Rest steht und kaut.
Brutus, der Bock, trägt seit neuestem eine aufgeplatzte Stirn, er muss im Schutz der Dunkelheit mit Borge gekämpft haben, dem Bock im abgegrenzten Nachbarbereich. Man vergisst ja durchaus, dass sich die Widder rabiate Kämpfe liefern. Mit ihren gewaltigen Hornspiralen und ihren mit Knochenplatten an der Stirn verstärkten Schädeln stoßen sie mit dem Kopf voran aufeinander. Wenn es hart auf hart kommt, berichtet Werner, spaltet sich schon mal der Schädel des Unterlegenen. Das immerhin ist Brutus erspart geblieben. Aber Borge, sein Vater, ist der Sieger des Duells. Am nächsten Morgen hängt Binyameen ein Tuch über das Gitter zwischen den Gehegen, damit sich die Kontrahenten nicht mehr sehen müssen.
Kurz darauf beim Frühstück frage ich Nadja, wie es denn um das Lamm steht, die Blauzunge in der Scheune, hat es die Nacht überstanden? Sie schüttelt den Kopf. Ob ich es noch einmal sehen kann? Sicher, sagt sie. Sie hat es bereits aus dem Gehege geholt und vor das Gatter ins Heu gelegt. Da liegt es nun, ganz friedlich sieht es aus, ganz das wollene Opferlamm von Zurbarán.
Fazit: Schafe sehen süß aus, können aber ganz schön brutal sein, vertrauen auf die Intelligenz des Kollektivs mehr als auf Führerpersönlichkeiten und sind sogar in tiefster Finsternis ganz wach und allzeit bereit. Oder kurz gesagt: Nix Schlafschaf – sondern der Antifaschismus im Wollpelz.
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