„Stimmt, das interessiert mich wirklich nicht“

Im nächsten Jahr mal mehr die Wahrheit sagen? Keine schlechte Idee, aber nicht einfach. Unser Autor hat es beim Vater seiner Freundin einfach mal ausprobiert

Aus DUMMY „Lüge“, neu editiert am 28.12.2023

Von Gustav Falke

Der Schauplatz: ein hochgesichertes Reihenhaus im Nirgendwo Nordrhein-Westfalens.
Schon einige Wochen bevor es zum Clash mit dem Vater meiner ersten Freundin kam, gab es bei ihr zu Hause diesen Schlüsselmoment.
Ich zu meiner Freundin B.: „Kann ich wohl eine größere Bettdecke haben?“
Sie zu mir: „Klar, hol sie dir doch einfach vom Gästebett oben auf dem Dachboden.“

Ich stieg also die Treppe rauf. Da sah ich vor der verschlossenen Tür zum Dachgeschoss einen Zettel auf dem Fußboden liegen: „Nach 23 Uhr Tür nicht mehr öffnen – Alarmanlage ist scharf!“ Unverrichteter Dinge kehrte ich zurück in das Jugendzimmer meiner Freundin, um die Nacht mit kalten Füßen zu verbringen. Mir schwante, dass der Zettel von meinem Schwiegervater in spe stammte.

Der entsprach als frühpensionierter Diplomingenieur mit überbordendem Perfektionsstreben und einem ebensolchen Mitteilungsbedürfnis dem Typus Mann, den der Humorist Loriot in seinem Film „Papa ante Portas“ parodiert hatte: Frührentner, die mangels Beschäftigung ihren trostlosen Alltag wie ein mittelständisches Technologieunternehmen managen und damit alle um sich herum irremachen. Saß man mit ihm zusammen bei einer Tasse Kaffee, fühlte es sich an wie ein Arbeitstreffen, bei dem technologische Innovationen diskutiert wurden. Nein, sie wurden nicht einmal diskutiert, es wurde nur darüber referiert, und zwar ausschließlich von einer Person: ihm.

Darüber, welch erstaunliche Fortschritte die moderne Schließtechnik in den letzten Jahren gemacht hatte. Darüber, was auf dem faszinierenden Feld der Sicherheitssysteme für den Privatsektor noch alles an Innovationen zu erwarten wäre. Darüber, wie er die Mausefallen im Keller so verkabelt und mit Leuchtdioden versehen hatte, dass er von seinem Arbeitszimmer aus beobachten konnte, wenn ein Tierchen reintappte. Darüber, dass der Plan auf Millimeterpapier, den er von der Abstellkammer angefertigt hatte, ihn jeden verstauten Gegenstand mit garantiert nur einem Handgriff finden ließ.

Lange hatte ich mir seine weitschweifigen Erläuterungen zu diesen Themen schicksalsergeben angehört. Jung, wie ich war, erschienen mir die Marotten der Alten wohl noch wie eine Naturgewalt, die man hinzunehmen hat. Vielleicht wollte ich mich auch unbewusst als Traumschwiegersohn in Stellung bringen. Jedenfalls ließ ich sein eintöniges Gerede wie westfälischen Nieselregen wochenlang über mir abregnen. Vermutlich habe ich sogar Nachfragen gestellt. Dann kam diese Nacht, in der mir zwar die Dachgeschosstür verschlossen blieb, mir aber plötzlich das Wahnhafte dieses Mannes klar wurde. Ein Reihenhaus abzusichern wie eine Millionenvilla, obwohl das Wertvollste darin die Alarmanlage selbst war.

In den folgenden Wochen fiel es mir immer schwerer, Interesse zu heucheln. Auch Fragen hatte ich keine mehr. Ihm war das offenbar nicht entgangen, sein Vortrag wurde immer energischer und auch unfreundlicher im Ton. Bis er schließlich entnervt sagte:
„Aber das scheint dich ja alles gar nicht zu interessieren.“
Nach einem Schreckmoment hörte ich mich selbst sagen: „Nein, das interessiert mich wirklich überhaupt nicht.“

Abrupt stand er vom Sofa auf und verließ den Raum. Bei späteren Begegnungen war er deutlich weniger mitteilungsfreudig und verschonte mich mit langweiligen technischen Details. Mich hatte mein Gefühlsausbruch ein Stück selbstbewusster gemacht – und mir endlich mehr Zeit mit meiner Freundin verschafft.

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