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N° 86, Müde

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Lieber einen Mercedes verkaufen, als ein Menschenleben retten

Der mit einem Oscar prämierte Film „Für immer da“ erzählt vom Grauen der brasilianischen Diktatur. Ein guter Moment daran zu erinnern, wie eine andere südamerikanische Diktatur von deutschen Medien bejubelt und von deutschen Politikern als Handelspartner hofiert wurde

Von Oliver Gehrs

Am 29. Mai 1976 gab es im Politikteil der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ etwas zum Gruseln. An den Ufern des Rio de la Plata in Argentinien seien elf Leichen gefunden worden, „meist nackt und verstümmelt“, hieß es. Einige der Leichen hätten Spuren grausamer Folterungen, bei einer habe ein Stück Kopf gefehlt, eine andere habe an einem Stück Beton gehangen.

Inzwischen sei wohl auszuschließen, schrieb die FAZ, dass es sich bei den Toten um meuternde Seeleute von den dort kreuzenden Schiffen handele oder gar um Opfer ausgearteter Drogenorgien, wie man ebenfalls vermutet hatte. Der Hintergrund sei wohl eine „Tragödie politischer Natur“.

So war es in der Tat. Die Leichen waren allesamt Opfer der argentinischen Diktatur, die zum Zeitpunkt, als der Artikel erschien, seit zwei Monaten an der Macht war und noch in den Tagen des Militärputsches den deutschen Studenten Klaus Zieschank entführt hatte. Zwei Monate später wurde er betäubt und mit Draht an einen anderen Menschen gefesselt aus einem Flugzeug über dem Rio de la Plata abgeworfen. So verfuhr das Regime mit vielen Kritikern. Wobei Zieschank eher ein friedensbewegter Student als ein politischer Aktivist gewesen war.

Eher friedensbewegt als politisch aktiv – auf jeden Fall aber von der Bundesregierung im Stich gelassen: Klaus Zieschank (Foto: Wiki / CC BY-SA 3.0)

Das Versagen der deutschen Regierung, sich für die inhaftierten deutschen Staatsbürger einzusetzen, ist auch durch mehrere Dokumentarfilme einigermaßen bekannt. Im Falle von Klaus Zieschank ließ die Bundesregierung unter Helmut Schmidt Zieschanks Mutter wissen, man werde alles tun, um ihren Sohn zu retten. Dabei wusste man da schon, dass er ermordet worden war.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte aber alle zum Schweigen verdonnert. Der Vater der ebenfalls ermordeten Elisabeth Käsemann schrieb vor fast 50 Jahren, dass ein verkaufter Mercedes mehr wert sei als ein Menschenleben, und tatsächlich spielten Menschenrechtsverletzungen für die Bundesregierung damals eine untergeordnete Rolle. Zu gut liefen die (Waffen-)Geschäfte mit der Junta. Man muss auch leider sagen: Was das Thema Menschenrechte anbelangt, machte der vor allem nach seiner politischen Laufbahn verehrte Bundeskanzler Helmut Schmidt in dieser Zeit eine traurige Figur

Der oscarprämierte Spielfilm „Für immer hier“, der das Schicksal des von der brasilianischen Militärdiktatur gefolterten und ermordeten Politikers Rubens Paiva nachzeichnet, könnte zu keinem besseren Zeitpunkt in die Kinos kommen. Ob in den USA, in Ungarn, in der Türkei, in den Hirnen von AfD-Politikern und – Politikerinnen, überall wird das Autoritäre salonfähig. Atemberaubend dabei ist, wie viele Menschen dabei stillschweigend zuschauen. Oder auch, wie wenig sich Politiker, die glauben, Repräsentanten der Mitte zu sein, grundlegende Werte verraten. Die CSU hatte schon vor sechs Jahren Viktor Orban zu ihrer Klausurtagung eingeladen und ihn wie einen Stargast begrüßt (so wir ihr Ur-Vater Franz-Josef Strauß den chilenischen Diktator Pinochet hofierte). Dabei war Orban damals bereits fleißig dabei, die EU zu blockieren und Andersdenkende in seinem Land zu drangsalieren. Erst neulich schwadronierte Christian Lindner irgendwas von mehr Musk und Milei wagen, und die CDU-Anfrage zur Finanzierung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rechts verheißt ebenfalls nichts Gutes.

Angesichts der Probleme mit Migration müssen wir die Demokratie jetzt mal kurz abschaffen

Dabei fällt auf, wie gerade in wirtschaftlich schwächeren Phasen der Dammbruch wahrscheinlicher wird. Der kurzfristige Zauber eines steigenden BIP rechtfertigt nicht nur die Abschiebung von Menschen in Not, sie schafft auch die Grundlage zur Normalisierung von Notstandsmaßnahmen und Sprüchen von Recht und Ordnung. Oder wie es der Vater von Elisabeth Käsemann so gut auf den Punkt brachte: Ein verkaufter Mercedes ist allesamt mehr wert als ein Menschenleben.

Wenn man sich die Berichterstattung über die argentinische Diktatur von damals anschaut, fällt auf, dass ein konservatives Medium wie die FAZ die Militärregierung als das kleinere Übel gegenüber dem krisengeschüttelten Argentinien unter Isabel Perón ansah, in dem es immer wieder terroristische Anschläge von links- und rechtsextremen Guerillas gab. Dabei gab die FAZ am 25. März 1976, also einen Tag nach dem Putsch, den Ton vor: „Angesichts der Not und Anarchie im Lande mag die Trauer über den Verlust konstitutioneller Garantien und Rechte von der Hoffnung auf positive Veränderungen überdeckt werden.“ Das erinnert stark an den Ton, den AfD-Politiker heute pflegen. Bei denen ahnt man: Angesichts der Probleme mit Migration müssen wir die Demokratie jetzt mal kurz abschaffen.

Der Terror einer Militärjunta als Reaktion auf die Gewalttaten linker Terroristen – von diesem Narrativ rückte die FAZ auch ein Jahr später nicht ab, als es bereits Tausende verschwundene Oppositionelle gab und Erkenntnisse über den Aufbau einer regelrechten Folter-Infrastruktur. Lieber freute man sich gemeinsam auf die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft 1978. „Solange am Rio de la Plata die schwachen und korrupten Peronisten regierten, mochten viele nicht an die Schau in Argentinien glauben; seit die Militärs das Kommando übernommen haben, ist daran jedoch kaum zu zweifeln“, jubelte die FAZ.

Terror blieb für sie lediglich die immer verzweifelteren Aktionen versprengter linker Gruppen, nie aber die entgrenzten Repressionen der Videla-Diktatur, über die Rodolfo Walsh, der Begründer des investigativen Journalismus in Argentinien, bereits am ersten Jahrestag des Putsches schrieb:

„15.000 Verschwundene, 10.000 Gefangene, 4.000 Tote, Zehntausende, die aus dem Land vertrieben worden sind – dies sind die nackten Zahlen dieses Terrors. Als die herkömmlichen Gefängnisse überfüllt waren, verwandelten Sie die größten militärischen Einrichtungen des Landes in regelrechte Konzentrationslager, zu denen kein Richter, kein Rechtsanwalt, kein Journalist, kein internationaler Beobachter Zugang hat.“

Elisabeth Käsemann: Entführt, gefoltert, getötet. FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher konnte oder wollte nicht helfen ((Foto: Wiki / CC BY-SA 3.0)

Im Gegensatz zu diesen Zeilen aus dem Untergrund verstieg sich der FAZ-Korrespondent Martin Gester noch im Dezember 1977 zu der Feststellung, dass die linken Terroristen die wahren „Totengräber der Demokratie“ in Argentinien seien und im Land „ähnlich verhasst wie die Baader Meinhof-Bande am Rhein“. In diesem Satz steckt wahrscheinlich ein Teil der Erklärung, warum die FAZ so blind für die Exzesse der argentinischen Militärdiktatur war. Im Kampf gegen die RAF hätte man wohl auch einen absoluten Polizeistaat in Deutschland unterstützt.

Unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus sah man sich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit von linken Extremisten bedroht. „Vergleiche zwischen den argentinischen Guerillas und der RAF, die besonders stark in der FAZ vertreten werden, ermöglichen es gerade konservativen Lesern, die Verhältnisse in der Bundesrepublik auf die argentinische Gesellschaft zu projizieren und Partei für das Vorgehen der Militärs zu ergreifen“, schreibt die Politologin Dagmar Lieske in einem Buch über die Diktatur in Argentinien und die Leichen im Keller des Auswärtigen Amtes.

(Dieser Text erschien erstmals auf uebermedien.de; er wurde überarbeitet und ergänzt)

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