Kein Mann seiner Klasse

Erst kämpfte der Kolonialoffizier Hans Paasche gegen Alkohol und Nikotin, dann richtete sich sein Hass auf deutsche Gewaltlust und Herrenmenschentum. Dass er sich damit gegen sein Milieu wendete, bezahlte er mit dem Leben

Von Oliver Gehrs

Das Leben in einem Leuchtturm ist einsam, aber Hans Paasche weiß die Zeit gut zu nutzen. Als er zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf den Leuchtturm „Roter Sand“ in der Nordsee mehr oder weniger strafversetzt wird, hat er viele Interessen: ökologische Landwirtschaft, Frauenrechte, die Ideen von Karl Marx, die Geschichte der Massai in Ostafrika, Riten im fernen Japan und das Osmanische Reich. Er liest viel, lernt Türkisch, spielt Geige und experimentiert mit seiner Garderobe. Jedenfalls erinnert sich der Kommandant eines Kreuzers der kaiserlichen Marine später schaudernd, dass er Paasche bei der Vorbeifahrt auf der Plattform des Leuchtturms gesehen hat – nur bekleidet mit Kimono und Fes auf dem Kopf. Mithilfe eines Megafons habe Paasche die verdutzte Besatzung wissen lassen, dass er gerade ein Sonnenbad genommen habe und deswegen kein Signal geben konnte.

Viel später, als man mit allen Mitteln versucht, Paasche aus der wilhelminischen Gesellschaft zu verbannen, soll diese Episode noch mal eine Rolle spielen – als Beweis für seinen Verrat am Vaterland. Doch das Irrlichtern auf dem Leuchtturm ist eher ein Zeichen von Paasches Liebe zum kreativen Ungehorsam und letztlich wohl auch der gelungene Versuch, vom einsamen Nordseeposten versetzt zu werden. Nach dem Leuchtturm geht es nach Kiel auf einen Minenleger, den ein Mann seiner Klasse befehligen müsste, doch Paasche wird nur Erster Offizier, der die gebotene Distanz zu den unteren Dienstgraden vom ersten Tag an vermissen lässt. Stattdessen behandelt er seine Matrosen wie Menschen und bringt ihnen neben pazifistischen Ideen das Abstinenzlertum nahe. Alkoholverzicht sei neben vegetarischer Ernährung unerlässlich, erklärt er seinen erstaunten Untergebenen, die zu ihrem kargen Sold jeden Monat bis zu zwanzig Flaschen Wein bekommen. In den Augen des von Disziplin, Standesdünkel und Kriegslust erfüllten Admiralstabs sind das ungeheure Grillen, zumal bei einem Offizier aus bestem Hause. 

Hans Paasche wird 1881 in Rostock in eine großbürgerliche Familie hineingeboren. Sein Vater, der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Hermann Paasche, ist nicht nur eine Zeit lang Vizepräsident des Deutschen Reichstags, er unterstützt Imperialismus und Kolonialismus nach Kräften und verdient durch seine Posten in der Wirtschaft ordentlich mit. Zunächst scheint ihn sein Sohn auch nicht zu enttäuschen: Hans Paasche wird nach dem Abitur Marine- und Kolonialoffizier, mit der deutschen „Schutztruppe“ geht er 1905 nach Ostafrika und beteiligt sich an der Niederschlagung des sogenannten Maji-Maji-Aufstands. Dieser Krieg gegen die einheimische Bevölkerung im heutigen Tansania ist trotz seiner Grausamkeit und der zahllosen Opfer – Schätzungen gehen von mindestens 125.000 Getöteten aus – ein weithin vergessenes Kapitel deutscher Kolonialgeschichte. An den Gräueln hat auch Paasche seinen Anteil, so gibt er unter anderem den Befehl zur Erschießung Aufständischer. Auf der anderen Seite sorgt er aber für die Versorgung verletzter Afrikaner – in den Augen des Oberkommandos ein Affront. 

Der Kolonialkrieg wird für Paasche zur Zäsur. In ganzer Klarheit sieht er den vermessenen Anspruch, vermeintlich unzivilisierten Völkern Kultur zu bringen. Dabei sind die unterjochten Menschen für ihn das Gegenbild zu seinen gewalttätigen Landsleuten. Er lernt Kisuaheli und studiert die ostafrikanische Fauna. Wobei er als Naturliebhaber und Pazifist erstaunlich viel Elan beim Schießen von Großwild zeigt –aber er ist „im Gestrüpp deutscher Erziehung“, wie er es einmal nennt, standesgemäß zum Jäger gemacht worden.

Gleichsam erleuchtet wie desillusioniert kehrt Paasche aus Afrika zurück. Angewidert von jenem Teil der Gesellschaft, der für das Deutsche Reich einen Platz an der Sonne forderte und alles in Stellung brachte, um Deutschlands Großmachtträume umzusetzen. Aber auch beseelt von der Idee einer friedlichen ökologischen Völkergemeinschaft, mit der er nahtlos an die wachsende Lebensreformbewegung anknüpfen konnte. „Das Leid der geschändeten Natur war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt, unter der nichts schonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Maßlos sind die im Nehmen, im Verschleppen und im Füttern ihrer Maschinen. Was irgend die Erde an lebender Schönheit und Pracht hervorbrachte, muss ihnen dienen. Solange noch eine Gazelle lebt, deren Fell auf dem Weltmarkt Wert hat, ein Wal im Eismeer, ein Paradiesvogel im Urbusch entlegener Inseln, so lange ruht die geschäftige Betriebsamkeit nicht, gepaart mit menschenunwürdiger Gedankenlosigkeit und Kurzsicht.“ Paasches Gesellschaftsdiagnose liest sich heute wie das Gründungsmanifest der Grünen.

So bricht nach der Rückkehr aus Afrika und dem Ausscheiden aus dem Militär eine Zeit großer publizistischer Produktivität an, zu der sich auch noch privates Glück gesellt. 1908 heiratet Paasche seine Frau Ellen, Tochter des bekannten Juristen und Pazifisten Richard Witting und Nichte des von den Kaisertreuen gehassten Journalisten Maximilian Harden. In Ellen findet Paasche eine Geistesverwandte, die Hochzeitsreise führt das Paar ins heutige Burundi und Ruanda zu den Quellen des Weißen Nils. Paasche will sich dort nicht nur weiteren Menschen- und Naturstudien widmen, sondern auch Abbitte für sein Mittun beim Völkermord leisten. Sie unternehmen zehrende Touren auf Berge und durch den Urwald, nach zwei Monaten kehren sie überwältigt von Naturereignissen und zwischenmenschlichen Begegnungen zurück nach Berlin, das auf sie wie eine große Militärkaserne wirkt. Statt Horden von Elefanten stapfen Soldaten in Formation über die Weiten des Tempelhofer Feldes.

1912 wird Paasche von seinen Eltern das Gut Waldfrieden in Westpreußen nicht weit von Posen übertragen. Das Gut ist verschuldet und eigentlich zu klein, um es mit Gewinn zu bewirtschaften. Schon in diesem zweifelhaften Erbe deutet sich die Abkühlung der familiären Beziehungen an. Stolz waren die Eltern das letzte Mal auf ihren Sohn, als der im fernen Afrika Aufständische erschießen ließ, nun sind sie zunehmend irritiert von seiner Freundschaft zu „Friedensbewegten und Negerfreunden“. Um ihren Sohn im Auge zu behalten, bauen sie sich in der Nähe des Gutes ein neues Haus.

Hans Paasche ist immer noch zerrissen. So völlig fremd ist ihm der Gedanke, dass am deutschen Wesen die Welt genesen könnte, nicht – nur sollen die Landsleute auf ihrer Mission bitte nüchtern sein. Auf dem deutschen Abstinenzlertag in Augsburg lässt er sich zu einer erstaunlichen Rede hinreißen. „Zeigt, dass das deutsche Volk Söhne hat, die würdig sind, Herren der niederen Rassen zu sein“, ruft er den Vegetariern, Yogis und Wandervögeln entgegen. „Zeigt, was der Deutsche kann, wenn er nüchtern ist.“

So drunter und drüber wie in Paasches Kopf geht es auch in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift „Der Vortrupp“ zu. Vor Trunksucht, Schundliteratur, der Ausrottung der Wale und zu viel Reklame warnen die Autoren und schwärmen von Vegetarismus, Esperanto und Bodenreform. Im „Vortrupp“ erscheinen auch erstmals Auszüge von Paasches später bekanntestem Buch. In „Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland“ lässt er einen fiktiven Afrikaner in Briefen an seinen Häuptling über die unkultivierten Deutschen lästern. Ein fettes Volk, das sich mit Bier und Fleisch mästet, Frauen unterdrückt und aus nichtigstem Anlass gewalttätig wird. Diese satirische Umkehrung des kolonialen Blicks nimmt man in den preußischen Amtsstuben mit Kopfschütteln zur Kenntnis. 

Noch aber ist der Sohn nicht ganz verloren. Weil sich auch Paasche nicht der Propaganda vom Verteidigungskrieg entziehen kann, kehrt er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger zurück zur Marine. Nautisches Können und Dienstgrad würden ihn eigentlich zum Kommandanten eines größeren Schiffes prädestinieren, stattdessen parkt man den Querulanten lieber auf dem Leuchtturm. Doch in zwanzig Meter Höhe über den Wellen wird Paasches Blick auf die Heimat wieder klarer.

Kurz nach Kriegsbeginn dringen Berichte über Morde und Brandschatzungen in Belgien nach Berlin. Auch mit Kriegsgegnern an der Heimatfront wird kurzer Prozess gemacht. Oppositionelle Politiker wie Karl Liebknecht oder Rosa Luxemburg werden ins Gefängnis oder in „Schutzhaft“ gesteckt. In ihrer Breslauer Zelle liest Rosa Luxemburg den „Lukanga Mukara“ und schreibt in einem Brief an Clara Zetkin über Paasche: „Wunderbar ist es doch, dass man plötzlich noch Menschen, Männer entdeckt, und zwar in Kreisen, wo man sie am wenigsten vermuten würde.“

Paasche wird erneut versetzt, zu einer Torpedodivision nach Wilhelmshaven. Doch auch dort macht er weiter mit seiner Schulung zur Menschlichkeit, und als er sich schließlich weigert, an einem Standgericht gegen einen aufmüpfigen Matrosen teilzunehmen, wird er aus dem Militärdienst entlassen und kehrt zu Frau und Kindern auf Gut Waldfrieden zurück. Hier lebt er noch einmal auf, geht angeln, schießt Wild, verteilt Fleisch und Früchte an die Nachbarn. Besuchern kommt er schon mal auf Händen entgegengelaufen, zwischen den Zehen eine Blume als Willkommensgruß. Mit zwei französischen Kriegsgefangenen, die ihm als Arbeitskräfte zugeteilt werden, schließt er Freundschaft. Als sie am französischen Nationalfeiertag die Trikolore hissen und gemeinsam die Marseillaise singen, erregt das Argwohn – vor allem bei den Eltern. 

Neben seinen viel gelesenen Aufsätzen schreibt Paasche heimlich Postkarten mit Friedenspropaganda („Haben Sie schon mal einen General mit einem Bein gesehen?“), die er eigenhändig in die Briefkästen der umliegenden Orte wirft. Gut möglich, dass ihn seine eigenen Eltern bei den Behörden anschwärzen. Für den Vater ist der Sohn schon lange eine Persona non grata, die Mutter entpuppt sich gegenüber der Schwiegertochter als leidenschaftliche Antisemitin. Schließlich kommt es zur Hausdurchsuchung auf Gut Waldfrieden, bei der man jedoch nicht viel findet, womit Paasche wegen Landesverrats verurteilt werden könnte. Auch der Richter kommt nicht recht weiter, ständig stehen Leute im Zeugenstand, die Paasche als zuvorkommenden und großzügigen Zeitgenossen schildern. Angesichts der schleppenden Anklage verfällt der Staatsapparat auf eine in allen Jahrhunderten bewährte Lösung: Der Delinquent kommt zwar nicht in den Knast, aber zum Schutz der Bevölkerung in die Klapsmühle – in Paasches Fall in die „Irrenbeobachtungsanstalt“ Moabit. Wohl mithilfe seines immer noch einflussreichen Schwiegervaters folgt schon bald eine Verlegung in ein privates Sanatorium im schönen Westend. 

Der letzte Akt in Paasches Leben beginnt ausgerechnet mit seinem größten Traum: der Revolution. Im Angesicht der drohenden Niederlage erheben sich im Herbst 1918 die Matrosen zur Meuterei. Der revolutionäre Funke springt auf Soldaten sowie weite Teile der kriegsmüden Bevölkerung über und zwingt den Kaiser ins Exil. Schnell wird unter dem rechten Sozialdemokraten Friedrich Ebert eine provisorische Regierung zusammengezimmert. Am 9. November 1918 wird Paasche von Aufständischen aus dem Sanatorium befreit und umgehend in den „Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates“ gewählt, ein Kontrollgremium, das den Übergang in eine sozialistische Republik sicherstellen soll. Doch die neue Regierung hat anderes vor. Um die kaisertreuen Militärs, die schon vom Dolchstoß reden, zu beschwichtigen, arrangiert sie sich mit der obersten Heeresleitung unter Erich Ludendorff. Den und Reichspräsident Paul Hindenburg sähe Paasche am liebsten vor ein Strafgericht gestellt, doch die entsprechenden Haftbefehle mag die neue Regierung nicht unterschreiben. Auch Paasches Vorschlag, die Siegessäule zu sprengen, will man nicht folgen.

Und dann stirbt die Revolution. Die SPD an der Macht lässt auf den Straßen Arbeiter und andere sozial Bewegte erschießen, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg findet man ermordet im Landwehrkanal. Die Fememorde revanchistischer Freikorpsangehöriger bleiben ungesühnt, die Weimarer Republik beginnt mit einem riesengroßen Verrat.

Zur politischen Katastrophe kommt bei Paasche die private. Seine Frau Ellen stirbt an der Spanischen Grippe und hinterlässt ihrem Mann vier Kinder, die erst mal zu Verwandten kommen. Der Verbitterung nahe, verfasst Paasche auf Gut Waldfrieden ein gewaltiges Traktat. In „Das verlorene Afrika“ geht er luzid wie nie zuvor mit seinen Mitbürgern ins Gericht: „Mache dir das ganz klar, Deutscher: Du bist ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Völker, wenn du nicht endlich Erbitterung zeigst gegen das System, das dich zum Henker deiner Nachbarn machte und dich schließlich selbst zerschunden hat. Du hast dich anstiften lassen, friedliche, glückliche Länder zu überfallen und in eine hoffnungslose Wüste zu verwandeln. Dein feldgrauer, animalischer Gehorsam hat das Elend, die Trauer und Kraftlosigkeit dieser Zeit herbeigebracht. (…) Die Welt steht dir nicht offen, bevor du Mensch wirst. Es war deine historische Bestimmung, die Begriffe Vaterland, Nation bis zur Verrücktheit zu übertreiben; jetzt erkenne deine Verführer.“

Dass sich Deutschland als unfähig dazu erweist und sich im Gegenteil einem noch monströseren Verführer an den Hals schmeißen wird, muss Paasche nicht mehr erleben. Am 14. Mai 1920 badet er an einem nahe gelegenen See des Gutes Waldfrieden, das zuvor unbemerkt von Soldaten umstellt worden ist. Zwei Lkw samt aufgepflanzten Maschinengewehren sind angerückt, schließlich gilt es, ein geheimes Waffenlager für einen drohenden kommunistischen Aufstand auszuheben – so die Begründung. Dabei gibt es keinen Haftbefehl, nur den Blutdurst des weißen Terrors. 

Auf dem Weg zum Haus schießt man Hans Paasche ins Herz. Sein Sohn Nils muss mit ansehen, wie sein Vater in Badehose und Sandalen stirbt. „Auf der Flucht erschossen“, heißt es später, damit die Mörder nicht verurteilt werden können.

Einige Wochen später erscheint in der „Weltbühne“ ein Gedicht von Kurt Tucholsky: 

Wieder Einer./Das ist nun im Reich/Gewohnheit schon. Es gilt ihnen gleich./So geht das alle, alle Tage./Hierzuland löst die soziale Frage/ein Leutnant, zehn Mann. Pazifist ist der Hund?/Schießt ihm nicht erst die Knochen wund!/Die Kugel ins Herz!/Und die Dienststellen logen:/Er hat sich seiner Verhaftung entzogen./Leitartikel. Dementi. Geschrei./Und in vierzehn Tagen ist alles vorbei./Wieder einer. Ein müder Mann,/der müde über die Deutschen sann./Den preußischen Geist – er kannte ihn/aus dem Heer und aus den Kolonien,/aus der großen Zeit – er mochte nicht mehr./Er hasste dieses höllische Heer./Er liebte die Menschen. Er hasste Sergeanten/(das taten alle, die beide kannten)./Saß still auf dem Lande und angelte Fische./Las ein paar harmlose Zeitungswische …/Spitzelmeldung. Da rücken heran/zwei Offiziere und sechzig Mann./(Tapfer sind sie immer gewesen,/das kann man schon bei Herrn Schäfer lesen.)/Das Opfer im Badeanzug … Schuss. In den Dreck./Wieder son Bolschewiste weg –!/Verbeugung. Kommandos, hart und knapp./Dann rückt die Heldengarde ab./Ein toter Mann. Ein Stiller. Ein Reiner./Wieder einer. Wieder einer.

Mit freundlicher Unterstützung des Donat Verlags 

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