Unter der Oberfläche
Bei einem Genickbruch werden die Nervenbahnen zerstört, aber wenn man Glück hat, geht das Leben weiter. Wie bei Robert, bei dem ein Kopfsprung alles änderte
Von Oliver Gehrs
Eine Woche, bevor Robert Hansch ins Wasser springt, steht er auf der Dachterrasse seiner Wohnung, schaut in den Berliner Himmel und denkt, dass sich dringend etwas ändern müsse in seinem Leben.
Zu viel Arbeit.
Zu viel Alkohol.
Zu viele Frauen.
Zu wenig Liebe.
Ein Anflug von Midlife-Crisis mit 30.
Es ist ein heißer Sommertag. Perfekt für eine Gartenparty am Wannsee. Auf dem zum Wasser sanft abfallenden Rasen hinter der Villa steht eine weiß gedeckte Bar, an der vor Kälte beschlagene Gläser serviert werden. Am Abend erhellt ein Feuerwerk die Dämmerung über dem See, noch in der Nacht ist es so schwül, dass viele Gäste
am See sitzen, neben einem Steg, der hinaus zum glitzernden Wasser führt. Robert Hansch will nach Hause und überlegt, ob er sich vorher noch mal abkühlt, hier oder am nahe gelegenen Schlachtensee. Aber warum nicht hier. Er zieht sich Jeans und T-Shirt aus, läuft über den Steg und springt in den Wannsee. Der Pfosten unter Wasser ist nur 10 Zentimeter breit – er passt genau zwischen die ausgestreckten Hände. Mit voller Wucht prallt der Kopf gegen das Holz. Die Wirbelsäule wird gestaucht, die Halswirbel C6 und C7 bersten. Robert Hansch hat ein Gefühl, als hätte er eiskalt geduscht und wäre dann in einen heißen Whirlpool gegangen: ein Kribbeln am ganzen Körper, fast so, als würden ihn tausend Nadeln pieksen. Er liegt mit dem Kopf nach unten im Wasser und kann sich nicht umdrehen. Er kann nicht mal den kleinen Finger rühren. »Ich wusste sofort, dass mein Genick gebrochen ist«, sagt er.
Eine Uhr beginnt unter Wasser zu ticken. Von 40 abwärts. Es sind nicht mal Sekunden, es sind einfach nur Zahlen: 40, 39, 38 … Robert Hansch spürt, dass er bei null tot sein wird. Er hört Stimmen vom Steg. Da will uns wohl einer verarschen, sagt ein Partygast, der spielt toter Mann, ein anderer. Er braucht dringend Luft, und irgendwann atmet er einfach ein. Die Lungen füllen sich mit dem schmutzigen Wasser des Wannsees, in dem sich rund 40 gefährliche Keime befinden, von denen einige später die Lungenentzündung auslösen, die Robert Hansch auf der Intensivstation zusätzlich quälen wird. Bei drei dreht ihn ein Freund, der mit ins Wasser gesprungen ist, auf den Rücken. Er schaut in den Himmel über Berlin. Von jetzt an ist sein Leben ein anderes.
Eigentlich soll ihn ein Rettungshubschrauber abholen, aber der kann wegen der vielen Bäume nicht landen. Der Weg zur Straße hat zu viele Stufen, um ihn erschütterungsfrei zu transportieren, daher bringen ihn die Sanitäter zunächst mit einem Boot zu einer Stelle, an die der Krankenwagen heranfahren kann. Die Operation im Benjamin-Franklin-Krankenhaus in Steglitz dauert 13 Stunden. Robert Hansch wird in ein Koma versetzt und intubiert. Vorsichtig entfernen die Ärzte etliche Knochensplitter, Streifen aus seinem Becken werden zu Wirbelteilen geformt, mit einer schmalen Metallplatte die gebrochenen Halswirbel überbrückt. Wenn das Rückenmark unterhalb des Halswirbels C5 verletzt ist, bedeutet das eine Lähmung aller vier Gliedmaßen. Man nennt das Tetraplegie.
Als Robert Hansch später aus dem Koma erwacht, fällt sein Blick als erstes auf den grauen Krankenhausnachttisch mit einer orangefarbenen Umrandung. Doch kein Traum, denkt er.
Der Unfall ist jetzt fast acht Jahre her. Acht Jahre, in denen er seine Frau Barbara kennengelernt und geheiratet hat
Robert Hansch fährt mit dem Rollstuhl in seinen Weinkeller und holt eine Flasche aus dem Regal. Oben in der Decke ist eine Glasplatte eingelassen, durch die er in die Küche darüber schauen kann. Er sieht seinen Jungen über die Platte rennen. Vorhin hat der Fünfjährige gesagt, dass er Mamas Brust anfassen will, das macht er ziemlich gern. Aber Robert Hansch hat geantwortet, dass Papa der einzige sei, der an Mamas Brust dürfe. Daraufhin ist sein Sohn zu ihm auf den Rollstuhl geklettert und hat ihn entrüstet gefragt, was ihm denn einfalle. Ob bei dem Unfall damals doch mehr kaputtgegangen sei, irgendwas im Kopf.
Aber der Kopf ist heil, und auch sonst hat Robert Hansch noch Glück gehabt. Obwohl er Tetraplegiker ist, kann er seine Arme und Hände noch bewegen. Eingeschränkt zwar, aber immerhin. Der Unfall ist jetzt fast acht Jahre her. Acht Jahre, in denen er seine Frau Barbara kennengelernt und geheiratet hat. In denen sie ein Kind bekommen und dieses Haus im Grunewald gebaut haben. Frau, Kinder, Haus: Das war das, was Robert Hansch in den Kopf gekommen war, als er im Wasser darauf wartete, dass seine Zeit abläuft. Ich darf nicht sterben, hat er gedacht, ich habe doch nicht mal eine Frau. Kein Kind und kein Haus.
Neun Monate lang lag er im Krankenhaus. Am Anfang konnte er nichts bewegen außer seinen Augen. Einmal zwinkern hieß »ja«, zweimal »nein«. Er konnte nur mit sich selbst sprechen, sich sein neues Leben ausmalen, das ja immer noch besser war als der Tod. So hat er es schon damals betrachtet und heute sieht er es immer noch so.
Der nächste Schritt war eine Tafel voller Buchstaben, auf die er zeigen sollte, um Wörter zu bilden. Seine Eltern kamen zu Besuch, und er überlegte die ganze Nacht, was er ihnen mitteilen sollte. Schließlich schrieb er die Worte »Glatze schneiden« – weil die Gummihandschuhe der Pfleger immer so ziepten, wenn sie ihn im Bett wendeten. Danach war er zu schlapp, um noch mehr zu schreiben. Irgendwas, was seine Eltern hätte trösten können.
Weil sein Nebenmann so spastisch schrie, bekam er in der Philharmonie von der Musik nur wenig mit. Das ist also mein neuer Platz, dachte er da
Es folgten noch viele Wochen, in denen ihn die Spastiken durchschüttelten. Manchmal machte sich sein Bein selbstständig und schnellte so ungestüm zur Seite, dass er mitten in der Nacht aus dem Bett fiel. Er kniete dann davor und wartete, bis ein Pfleger kam und ihm half. In solchen Momenten ging ihm natürlich so einiges durch den Kopf. Manchmal wünschte er sich nichts mehr, als zum ersten Mal mit seinem Vater und seiner Mutter in der Krankenhauskantine zu sitzen und einen Kaffee zu trinken. Neun Monate später kam er zum ersten Mal in den Rollstuhl – »Mobilisierung« ist das Wort dafür. Und dann gab es noch die sogenannten Sozialausflüge – in die reale Welt außerhalb des Krankenhauses. Mit neun anderen Rollstuhlfahrern wurde Robert Hansch in ein Steakhaus am Potsdamer Platz gefahren. Eine Truppe in bequemen Sachen, die den Kampf mit dem Alltag aufnehmen soll. Als sie in das Restaurant kamen, erkannte er ein Pärchen an einem der Tische. Und als sie ihn sahen, schauten sie weg. Ein anderes Mal waren sie mit der Rollstuhlgruppe in der Philharmonie, und weil sein Nebenmann so spastisch schrie, bekam er von der Musik nur wenig mit. Das ist also mein neuer Platz, dachte er da.
Als Robert Hansch schließlich aus dem Krankenhaus kam, bezog er eine Wohnung mitten in Prenzlauer Berg – direkt in der Nachbarschaft des Architekturbüros, in dem er heute noch im Management als Anwalt arbeitet. Die Kollegen von damals, von denen auch manche gute Freunde sind, hatten ihn schon auf der Intensivstation besucht. Einer von ihnen, ein Russe, hatte ihn gefragt, was er denn überhaupt wolle: Der Kopf sei doch intakt, also könne er auch arbeiten. Ein anderer entführte ihn aus dem Krankenhaus in die Kneipe zum Trinken. Auch da spürte er, dass es weiter geht.
Und dann machte Robert Hansch eine interessante Entdeckung. Er hatte immer gedacht, dass man laufen will, wenn man im Rollstuhl ist. Dass man wie gefesselt dasitzt und wehmütig daran denkt, wie es mal mit gesunden Beinen war. Aber das tat er nicht. Der Körper hatte schnell vergessen, wie sich das Laufen anfühlt, die Erinnerungen daran waren weg. »Das Hirn ist wahnsinnig gnädig«, sagt Robert Hansch.
Eigentlich wollte Barbara Hansch keinen Rollstuhlfahrer als Mann. Sie hat ja als Pflegerin jeden Tag mit ihnen zu tun. Harte Fälle, bei denen der Kopf fixiert werden muss, weil er sonst hin- und herschlackert. »Ich war für sie schon ein Highlight«, sagt Robert Hansch. Sie haben sich das erste Mal getroffen, als sie eine Kollegin vertrat, die ihn im Büro betreute. Noch am selben Abend sind sie zusammen essen gegangen, und Robert dachte: Seltsam. So sieht also der Mensch aus, mit dem ich mein Leben verbringen werde. Und sie dachte: Warum eigentlich keinen Rollstuhlfahrer?
»Ich habe noch tausend Sachen, die ich machen will«, sagt Robert Hansch, »aber aus dem Rollstuhl aufzustehen gehört nicht dazu.«
Sie haben ein gutes Leben, was auch ein bisschen daran liegt, dass Robert Hansch eine Woche, bevor er in den Wannsee sprang, eine Unfallversicherung abgeschlossen hatte, die ihm im Fall der Invalidität eine Million Mark garantierte. Dieses Geld konnte er nach dem Unfall gut gebrauchen. Das Leben als behinderter Mensch ist schwer, aber Geld kann es erleichtern. Er schätzt, dass er eine halbe Million allein für seine behindertengerechte Umgebung ausgegeben hat: Er hat einen sehr leichten Rollstuhl, den ein Tüftler in Berlin in Handarbeit gefertigt hat. Es gibt eine kleine Zugmaschine, die ihn in den verdunkelten Familienvan zog, als er selbst noch zu schwach dafür war – oder auch am Strand entlang, wie neulich, als sie alle auf Zypern Urlaub machten. Sogar tauchen konnte er da, zwei Griechen haben ihn einfach rechts und links untergehakt und ins Wasser geführt. Das ging erstaunlich unkompliziert.
»Ich habe noch tausend Sachen, die ich machen will«, sagt Robert Hansch, »aber aus dem Rollstuhl aufzustehen gehört nicht dazu.« Er hat also nicht mal mehr den Wunsch, wieder laufen zu können – eigentlich. Aber neulich hat er ein Buch geschenkt bekommen. Es war von Clemens Kuby, der mit 34 Jahren aus dem Fenster stürzte und querschnittsgelähmt war. Und der sich, wenn man es vereinfacht sagt: aus dem Rollstuhl herausmeditiert hat. Er kann wieder laufen und hält nun Vorträge über dieses Wunder der Selbstheilung, das jedem passieren könne – so zumindest schreibt er in seinen Büchern. »Das«, sagt Robert Hansch, »finde ich dann doch ziemlich spannend.«
Vor wenigen Woche hat er mit seiner Frau ein Seminar besucht, in dem die Lehre des verstorbenen Parapsychologen José Silva gelehrt wurde. Darin geht es darum, Körper und Geist durch eine Absenkung der elektrischen Gehirnfrequenz so zu entspannen, dass die Wahrnehmung steigt: die geistige – und für Robert Hansch natürlich interessanter: die körperliche. Nun ist der Gedanke also plötzlich da – nach all den Jahren wieder laufen zu können. Noch mal ein ganz anderes Leben zu führen, sein drittes wäre es dann.
Jetzt schraubt er mit dem Mund die nächste Weinflasche auf. Seine Finger kann er nur wenig benutzen, an der rechten Hand lassen sie sich nicht mal strecken. Es sieht aus, als ballte er ständig eine lockere Faust. Ja, manchmal, wenn er seinem Jungen am Strand beim Fußball zuguckt, da wäre es schon schön, wenn er mitspielen könnte. Und er ahnt schon jetzt, dass sich sein Sohn in der Pubertät für ihn schämen wird. Und komisch: Wenn seinem Kind so etwas wie ihm zustoßen würde, könnte er es kaum ertragen. Wie seine Eltern, die sich immer noch fragen: Warum Robert? Warum ihr Sohn? Warum ihre Familie? Obwohl er ihnen schon so oft gesagt hat, dass er jetzt glücklicher ist als vor seinem Unfall. Als er 15 Stunden am Tag in der Kanzlei hockte und allmählich zu der Person wurde, die er nicht mehr leiden konnte. Die in den Himmel über Berlin schaute und sich nach einem neuen Leben sehnte.
Aber man fragt sich, ob es diesen Moment damals auf der Dachterrasse ohne den Unfall überhaupt gegeben hätte.
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