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N° 85, Kindheit

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Ja zum Nein

Unserem Autor fällt es nicht leicht, Nein zu sagen. Für uns hat er es schweren Herzens eine Zeit lang durchgehalten 

Von Moritz Herrmann; aus DUMMY Nr.65 zum Thema „Ungehorsam“; neu editiert 1/24
 
Zwei Wochen lang soll ich Nein sagen, und warum ich zu diesem Auftrag Ja gesagt habe, ist mir ein Rätsel. Vermutlich liegt es daran, dass ich nicht gut Nein sagen kann. Ich sage gegen meinen Willen Ja, viel zu lange schon, eigentlich seit jeher. Ja zu blödsinnigen Mittagessen in billigen Restaurants, ja, wenn jemand in der Einkaufsschlange an mir vorbeimöchte, ja zu Einladungen, auf die ich keine Lust habe, ja zu allen devoten Gefälligkeiten. Neulich habe ich mir online eine Pizza geordert und mit PayPal bezahlt, samt Trinkgeld bereits, aber dann lieferte der Domino’s-Bote die Pizza aus und fragte mich, ob er denn kein Trinkgeld bekäme. Nicht noch mal, hätte ich ihm sagen sollen. Netter Versuch. Aber der Bote schaute wie ein geschlagener Bernhardiner, von seinem Anorak tropfte es in den Flur, draußen regnete es stark. „Ach so“, hörte ich mich deshalb murmeln und sah mich aus dem Portemonnaie zwei Euro fummeln: „Na hier, bitte schön.“ Wenn man mich fragt, ob alles gut ist, sage ich Ja, dabei ist eigentlich gar nichts gut. 
Wie lernt man Neinsagen? 
Ich spreche es zu Beginn ein paar Mal vor mich hin, vor dem Spiegel.
Nein. Nein. Nein.
Ich belle es kurz und wütend in den Raum, wie Kevin Costner in dieser Baseballszene in dem Film „Annies Männer“; ich übe, spöttisch Nein zu sagen, und lächle mich dabei eitel an, ich ziehe das Wort auch mal lang wie Kaugummi:

N    e       e          e                 e                   i         n.

Leicht geht es mir über die Lippen, zu Hause, in Sicherheit vor den Nötigungen des Alltags.
 
Es gab mal eine repräsentative Umfrage, der zufolge vier von fünf Deutschen Ja sagen, wenn sie eigentlich lieber Nein sagen würden. Vierzehn Prozent der so Befragten gestanden, selbst ihrem Hund kaum etwas verweigern zu können. Ich habe keinen Hund, kenne aber das Problem. Es sind keine großen Entscheidungen, an denen wir Jasager scheitern, es sind die kleinen Zumutungen an der Kasse, im Bus oder von den Kollegen. 

Ich bin ein Trennungskind und deshalb harmoniebedürftig

Ich bin ein Trennungskind und deshalb harmoniebedürftig. Ich möchte aber auch gebraucht werden. Erst habe ich gedacht: Vielleicht bin ich nicht zum Ungehorsam geboren. Ich war ein braver Junge. Selbst als ich mit dem Kiffen anfing, war das keine Rebellion gegen meine Eltern. Ich tat damals alles, um meine Joints vor ihnen zu verbergen. Heute aber denke ich: Hat es etwas mit Aufmüpfigkeit zu tun, auf sich zu achten und auf das, was man will und braucht? Ich muss jetzt wirklich mal Nein sagen. Passé die Zeiten des feigen Widerstands, in dem ich mich eingerichtet hatte, in Gedanken jene beschimpfend, die Unsägliches von mir verlangten, äußerlich aber Folge leistend. Mit dem Imperativ des Auftrags durch die DUMMY-Redaktion, die übrigens viele meiner Vorschläge über die Jahre nicht selten mit einem klaren Nein abgebügelt hat, soll niemand mehr meine Gutmütigkeit ausnutzen.
 
Meine ersten Neins geraten noch schwächlich, ohne wirkliche Überzeugung vorgetragen, man hört ihnen an, dass ich eigentlich Ja sagen möchte. Als ich einige Medikamente in der Apotheke zahlen muss, fragt mich der Apotheker: „Kennen Sie die neuen Atemerfrischerpastillen hier? Sie sind gut und derzeit im Angebot. Darf ich Ihnen eine Packung mitgeben?“ Ich starre diese Pastillen an, dann den Apotheker. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er muss neu sein. Er ist jung und lächelt offensiv, sein Mund ist dabei breiter als sein Gesicht, ich weiß gar nicht, wie er das schafft. Sie haben ihn bestimmt direkt auf mich angesetzt, damit er gleich mit einem Sieg in seinen Posten hier startet. „Ähm“, sage ich langsam. „Also. Eigentlich nicht.“ 
Ähm. Also. Eigentlich nicht: So klingt also ein Nein bei mir. Vielleicht sogar mein vehementestes. Ich schäme mich für mich. Sein Apothekerlächeln wird noch breiter. „Nur eine kleine Packung, wo sie doch im Angebot sind. Erzählen Sie mir beim nächsten Mal gern, wie Sie sie fanden.“ Ich nicke besiegt. „Na gut.“
 
Nein, so funktioniert es nicht.
Kannst du dich nicht zusammenreißen, mein Lieber?
Ähm. Also. Eigentlich nicht.
Ich muss aufhören, überhaupt ein Lieber zu sein.
 
Einst, in meiner Zeit an der Journalistenschule, hatte ich eine Phase der Selbstachtung gehabt, das weiß ich noch ganz genau. Irgendwie hatte mich der Stolz, die Ausbildung überhaupt ergattert zu haben, innerlich aufgerichtet. Eineinhalb Jahre konnte ich problemlos jedem alles verwehren, ich verneinte, was das Zeug hielt, und war sehr glücklich, an der Grenze zur Arroganz. Teflon-Moritz nannte mich eine Mitschülerin damals.

I prefer NOT to

Am nächsten Tag klingelt der DHL-Mann an der Haustür. Er schleppt vier Pakete in unsere Etage, keines davon ist für mich. Ob ich die bitte annehmen könne für die Nachbarn? Die Nachbarn sind nett, sie nehmen auch für uns Pakete an. Der Paketbote ist auch nett, obwohl er sicherlich einen harten Job hat. Bestimmt ist er gar nicht direkt bei der Deutschen Post angestellt, sondern über eine Subfirma kleingehalten, nicht mal Mindestlohn und keine Renteneinzahlung, man kennt ja die Geschichten. 
„Nein“, sage ich, „sorry.“ Das ist jetzt noch nicht ideal, aber ein Kompromiss: Ich sage Nein, dann entschuldige ich mich für das Nein und bleibe trotzdem dabei.
„Okay, wie war der Name noch mal …“, murmelt der Paketbote. Er stiert auf das Klingelschild. Er hat mich gar nicht gehört. Er hat mich als Jasager abgespeichert. Das macht mich böse, ich gerate nun in die richtige Stimmung, um das Nein emotional zu unterfüttern. Nein, sage ich noch mal, nun ohne „sorry“. Er schaut mich an: „Nein? Wie nein?“ Ich schaue zurück, wenn auch so ein bisschen an ihm vorbei: „Einfach nein. Ich kann die nicht annehmen. Probieren Sie es mal woanders.“ Ich schließe die Tür und atme flach. Bei Amazon brauche ich erst mal nichts zu bestellen, die nächsten Lieferungen werden nicht zugestellt, da mache ich mir keine Illusionen.
 
Am Abend lese ich „Bartleby, der Schreiber“, die Erzählung von Herman Melville. Ich habe sie schon oft gelesen, zum ersten Mal im Englischunterricht in der Schule, aber nun scheint sie mir besonders passend, um mich in meiner neuen Renitenz anzuleiten. Bartleby ist Schreibgehilfe in einem Notariat an der Wall Street, still und fleißig und nie aufgefallen als Revolutionär. Eines Tages aber, ohne Vorwarnung, weigert er sich, ihm aufgetragene Dienste zu erfüllen. „Ich möchte lieber nicht“, sagt Bartleby. Der Notar, obgleich fassungslos, mag ihn nicht entlassen, er hat eine sentimentale Schwäche für den Mann. Über Wochen versucht er auf Bartleby einzuwirken. Immer wieder sagt Bartleby nur: „Ich möchte lieber nicht.“
 
Am nächsten Tag sage ich zwei Mittagessen ab, die mir angetragen werden von Redakteuren. Diese Mittagessen sind schlimme Zeitverschwendung, man verabredet sich stets unter dem Vorwand, mal wieder über Themen reden zu wollen, redet dann aber nie über Themen, sondern meistens über die bunten Socken eines Kollegen oder wohin es in den Urlaub geht, dass man ja nicht mehr fliegt und jetzt auch vegetarisch lebt. Manchmal geht es auch um neue Serien oder Zahnersatzversicherungen. Es ist nicht so, dass ich denke, dass mich die Redakteure mit den Mittagessen bestrafen wollen, ich habe aber trotzdem keine Lust, und das maile ich diesmal auch. Per E-Mail ist es einfach, mutig zu sein. Euphorisiert suche ich mir am Nachmittag gleich die nächste Konfrontation. Ich schließe das Fahrrad am Zaun auf der anderen Straßenseite an, als im ersten Stockwerk eine Dame das Fenster öffnet. „Wohnen Sie hier?“, bellt sie. „Ich wohne drüben“, sage ich einigermaßen keck und zeige auf unsere Nummer. „Dann dürfen Sie Ihr Fahrrad hier nicht abschließen, wenn Sie hier gar nicht wohnen, machen Sie es los!“ Die Dame sieht resolut aus, aber das will ich auch sein. „Nein“, sage ich und sehe dem Wort nach, wie es in ihre Stube schwebt und sich hinter den gehäkelten Gardinen in seiner ganzen Schönheit entfaltet. „Sie weigern sich? Ich rufe den Hausmeister!“ Sie schreit fast. „Bitte, nur zu“, sage ich. Ich lache fast. Welch eine Wohltat, Nein zu sagen! Ich hatte ja keine Ahnung. Wir starren einander an, dann knallt sie ihr Fenster zu. Mein Rad bleibt, wo es ist, nur ich, ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich bin Bartleby.

Insgeheim bewundere ich meine Tochter. Fantastisch, wie sie sich zu verweigern weiß, und das mit nur zwei Jahren. Ich kann viel von ihr lernen

So gehen die Tage dahin. Meine Neins reißen Krater der Verwüstung in die planen Landschaften des Small Talks. Erzähl du doch mal was, fordert mich ein Bekannter beim Kaffeetrinken auf. Nein, sage ich kalt und schweige. Ich habe im Internet gelesen: „Nein ist eine Chefvokabel! Nur wer sie beherrscht, kann in der ersten Karriereliga mitspielen.“ Nehmt euch in Acht, ihr Mächtigen, denke ich, mein Aufstieg hat begonnen. Dass ich zeitgleich einen sozialen und menschlichen Abstieg mache, merke ich erst gar nicht. Als mich meine Frau nachts bittet, nach unserer weinenden Tochter zu schauen, sage ich mitleidslos Nein und schlafe weiter. Am Tag danach nehme ich einer schwangeren Frau den Parkplatz weg, dann gehe ich in den Supermarkt. „Können Sie die Tür aufhalten?“, keucht ein Mann, schwer mit Tüten beladen, asthmatisch hustend, einen Hund hinter sich herziehend. „Nein“, sage ich ölig und sehe zu, wie er an der Scheibe abperlt. 

Und dann erst merke ich es: Ich bin nicht mehr Bartleby, der sich den Ungerechtigkeiten entzieht. Ich selbst bin das Unrecht. Wie konnte es so weit kommen, in so kurzer Zeit? Dünn ist der Firnis der Zivilisation. Ich habe mich berauscht am Nein und an mir selbst, ich war gierig.Am nächsten Tag gehe ich dem Paketboten auf der Treppe entgegen und nehme ihm alle Pakete ab, die er dabeihat. Man muss auf sich achten, ja. Aber man muss deshalb nicht gleich ein Arschloch werden. In Melvilles Erzählung verweigert sich Bartleby irgendwann nicht mehr nur seiner Arbeit, er bleibt auch in der Kanzlei wohnen. Die Nachmieter des Notars lassen ihn polizeilich entfernen. Bartleby kommt ins Gefängnis, wo er auch nicht mehr isst und spricht und schließlich stirbt. Nein, so will ich nicht enden.

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