Inglourious Basterd

Alle Deutschen ermorden? Nach der Nazizeit schien das keine schlechte Idee zu sein

Von Bartholomäus von Laffert; Illustrationen: Julius Klemm

Silvester 1942. Dicht gedrängt sitzen die Jugendlichen in der Küche der zionistisch-sozialistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair in der Shalhum-Straße 2 im jüdischen Getto von Vilnius. Vor ihnen steht ein junger Mann, 23 Jahre, unverkennbar mit den wilden dunklen Locken eines Poeten und Hosen, die er wie ein bolschewikischer Revolutionär in die Stiefel gesteckt trägt. Eines Tages wird er beschließen, sechs Millionen Deutsche zu töten, und als verhinderter jüdischer Rächer in die Geschichte eingehen. In dieser Silvesternacht im »litauischen Jerusalem«, wie sie Vilnius zu dieser Zeit nennen, hält Abba Kovner einen Zettel in den Händen, darauf geschrieben ein Manifest mit dem jiddischen Titel: »Lomir nit gejn wi schof zu der schchite« (Lass uns nicht wie die Schafe zum Schlachter gehen).

Fast dreieinhalb Jahre sind vergangen, seit Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufteilten, anderthalb, seit die Rote Armee die Stadt kampflos aufgab, und die Deutschen begannen, die Juden ins Getto zu treiben. Viele werden später in Zügen nach Paneriai (Ponary) transportiert, in ein Waldstück, in dem früher Tagesausflügler aus Vilnius das Wochenende verbrachten. Dass kaum ein Jude zurückkommen wird, dass die Nazis Paneriai gemeinsam mit dienstfertigen Litauern in eine Massenvernichtungsstätte verwandeln würden, ahnt damals noch niemand. Nicht mal die Judenräte, die das Leben im Getto von Vilnius organisieren und glauben, durch Kooperation mit den Nazis schlimmeres Unheil von der jüdischen Gemeinschaft abhalten zu können.

Bis zum Jahr 1942 sind mindestens zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung von Vilnius ermordet. Abba Kovner, der sich gemeinsam mit seiner Mutter und Freunden seit dem Einmarsch der Nazis bei Nonnen versteckt hält, kehrt mit einer Idee ins Getto zurück. Im Lärm der Silvesterfeiern, der von außerhalb des Gettos in die Küche dringt, liest er der Gruppe junger Jüdinnen und Juden sein Manifest vor.

Jewish youth!

Do not trust those who are trying to deceive you. Out of the eighty thousand Jews in the »Jerusalem of Lithuania« only twenty thousand are left. … Ponar is not a concentration camp. They have all been shot there. Hitler plans to destroy all the Jews of Europe, and the Jews of Lithuania have been chosen as the first in line.

We will not be led like sheep to the slaughter!

True, we are weak and defenseless, but the only reply to the murderer is revolt!

Brothers! Better to fall as free fighters than to live by the mercy of the murderers.

Arise! Arise with your last breath!

Die Gesichter der Anwesenden glühen, als Kovner endet. Eine Zeit lang ist es still. Kovner hatte als Erster im besetzten Europa niedergeschrieben, was manche erst spät, viel zu spät erkannten: Hitlers Plan war die Vernichtung aller Juden. Und die einzige Antwort darauf hieß: bewaffneter Widerstand.

»Prophet des Untergangs« nennt die Autorin und Chefhistorikerin von Yad Vashem, Dina Porat, Kovner in ihrer Biografie – wie der Bote, der König David die Nachricht vom Tode des Saul überbringt und dafür hingerichtet wird. Ein Mann, dessen Visionen größer sind als seine Möglichkeiten und der deshalb zum Scheitern verdammt ist. 

Gefährliche Fracht: In Abbas Seesack stecken Zahnpastatuben und Milchpulverbüchsen – darin genug Gift, um ein paar Millionen Deutsche zu ermorden

Die Jugendlichen im Getto gründen die Kampfgruppe FPO (Vereinigte Partisanen-Organisation) und schmuggeln Waffen hinein – argwöhnisch beobachtet von den Judenräten und der jüdischen Getto-Polizei, die die Nazis nicht provozieren wollen. »Diener der Zerstörung« sind für Kovner all diejenigen, die sich einreden, das Unheil abwenden zu können. Im Getto bricht eine Art Bürgerkrieg aus. Anstatt gemeinsam die Nazis zu bekämpfen, ringen Militante und Kollaborateure ­miteinander. 

Der 23. September 1943 ist der letzte Tag des Gettos. Die Kämpfer der FPO beschließen zu fliehen. Im letzten Moment kriecht Abba Kovner gemeinsam mit ein paar Dutzend Gefährten durch die Kanalisation ins Freie. Währenddessen umzingeln die Nazis das Getto, um die Flüchtenden aufzuhalten. Die Starken schicken sie ins Lager nach Estland. Die Schwachen erschießen sie. Auch Abba Kovners Mutter wird ermordet. Nie wird er sich verzeihen, sie zurückgelassen zu haben. 

Gemeinsam mit den anderen Partisanen kämpft Kovner in den Wäldern, bis er im Juli 1944 an der Seite der Roten Armee als Sieger nach Vilnius zurückkehrt. Immer wieder, auch beim Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, erzählt Kovner später die Geschichte dieser Rückkehr: Wie eine Mutter und ihr Kind aus einer Mauernische hervorgekrochen kommen, in der sie sich monatelang versteckt hatten, und die Mutter beim Anblick der Partisanen in Tränen ausbricht.

Nach dem Ende des Krieges reist Kovner mit den einstigen Kampfgefährten von Vilnius aus durch Europa: Sie besuchen die Massengräber in Paneriai, wo 70.000 Menschen hingerichtet wurden, Majdanek in Polen mit seinen drei Gaskammern, wo mindestens 360.000 Menschen ermordet wurden. Sie sprechen mit Freunden aus Treblinka (ca. 925.000 ermordete Juden) und aus Chełmno (mindestens 172.000 Ermordete) und mit Überlebenden aus Auschwitz (ca. 1.000.000 ermordete Juden), die schreckliche Vergeltung schwören: Solange deutsche Städte und Straßen nicht zerstört sind, solange einer der arischen Rasse am Leben bleibt, werden wir nicht ruhen!

Kovner und fünfzig Mitstreiter fassen auf ihrer Reise zwischen Vilnius und Auschwitz einen Entschluss: Sie wollen Rache üben. Nakam. »Eine organisierte, einzigartige Vergeltung«, sagt Kovner. Einzig die Rache würde eine Rückkehr zum »Business as usual« verhindern. Später einmal sagt er: »Als ich hörte, dass es eine Atombombe gab, habe ich davon geträumt, sie über Deutschland abwerfen zu können.« Kovner und seine Rächer schmieden den Plan, das Grundwasser in vier deutschen Großstädten zu vergiften und so Millionen Deutsche umzubringen. Die Gruppe bringt 1945 mehrere Spione nach Deutschland, um sie in die Wasserwerke einzuschleusen. Kovner selbst reist im Sommer 1945 nach Palästina, um im entstehenden Israel Anhänger für sein Projekt zu finden – und das nötige Gift zu besorgen. 

Doch dort stößt Kovner auf wenig Begeisterung. David Ben-Gurion, der bald Israels erster Premierminister werden soll, und der Jischuv, die vor der Staatsgründung in Israel lebende jüdische Bevölkerung, sind gerade dabei, einen zionistischen Staat zu gründen. Inmitten der Aufbruchsstimmung wirkt Kovner wie ein verrückt gewordener Holocausttraumatisierter, der mit seinen Racheplänen fahrlässig Israels Zukunft aufs Spiel setzt. Trotzdem gelingt es ihm, im Chemielabor der Katzir-Brüder (Ephraim Katzir wird später Israels vierter Präsident) das Gift aufzutreiben. Er erzählt nichts von der Ermordung Millionen Deutscher, sondern nur von seinem Plan B: Anschläge auf deutsche Gefängnisse, in denen SS-Kriegsverbrecher sitzen.

14. Dezember 1945. Im ägyptischen Alexandria legt das Marineschiff »Champollion« ab und nimmt Kurs auf Frankreich – an Bord Hunderte britische Soldaten. Unter ihnen 27, die zuvor in Eretz Israel stationiert waren, dann noch fünf weitere angebliche Soldaten mit gefälschten Pässen. Einer von ihnen ist Abba Kovner. Er trägt nichts bei sich außer einem falschen Ausweis, Stefans Zweigs »Magellan« und einem Seesack mit Zahnpastatuben und Milchpulverbüchsen. Darin versteckt er Gift – genug, um damit ein paar Millionen Menschen zu ermorden: in Frankfurt, Hamburg, München und Nürnberg.

Kovner ist seekrank und kotzt mehrfach über die Reling. Dabei hätte er es leichter haben können. Als einstiger ­Anführer einer Widerstandsgruppe im Getto, als verdienter Partisan hätte er als Visionär und Nationaldichter in die Geschichte Israels eingehen können – stattdessen wendet er sich der ­Vergangenheit zu. 

Nach dem Krieg widmet sich Abba Kovner nicht nur seinen Racheplänen, ­sondern auch der Lyrik. Er wird Dichter

Ein Foto von der Schiffsreise zeigt ihn auf der Reling sitzend mit fünf Mitreisenden. Kurz vor der Ankunft im französischen Toulon werden die Namen von vier der fünf angeblichen Soldaten an Bord ausgerufen. Abba Kovner wendet sich seinem Gefährten Yitzik Rosenkranz zu, drückt ihm den Seesack mit dem Gift in die Hand und nennt ihm eine Adresse in Paris, wo er ihn abliefern soll – falls er in Schwierigkeiten käme, solle er den Beutel vernichten. Doch dann ergreift beide Panik. Kovner nimmt einen Teil der Giftbüchsen aus der Tasche und wirft ihn ins Meer – kurz darauf schmeißt Rosenkranz den ganzen Sack hinterher. 

In Toulon werden Kovner und seine Mitstreiter von der Militärpolizei verhaftet und von dort in ein Gefängnis nach Ägypten überführt. Die Briten verdächtigen Kovner, Mitglied der radikal-zionistischen Untergrundbewegung Lechi zu sein, die damals Anschläge auf die britischen Besatzer in Palästina verübt. Kovner erzählt den Briten, er sei Holocaustüberlebender, habe erfahren, dass seine verschollene Mutter in Europa gesehen wurde, und wolle sich auf die Suche nach ihr machen. Von Kovners Gift oder seinen Massenvernichtungsplänen haben die Briten keinen Schimmer.

Zwar gibt es keine Massenvergiftung von Deutschen, doch anderen Nakam-Verschwörern gelingt es, in einer Bäckerei Brote, die für inhaftierte SS-Leute sind, mit Arsen zu bestreichen. Niemand stirbt, aber Hunderte winden sich in Krämpfen.

Nach diesem Anschlag trifft sich die Gruppe in Lyon, um von Kovner neue Anweisungen entgegenzunehmen. Doch der bittet sie, die Missionen in Deutschland sein zu lassen und stattdessen mit ihm nach Palästina zurückzukehren, um für Israels Unabhängigkeit zu kämpfen.

Kovner selbst wird Armeekom­mandant im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Er verfasst die berühmten »Battle Pages«, Motivations­prosa für den Krieg gegen die verfeindeten Ägypter. Später zieht er mit Vitka Kemp­ner, seiner Lebens- und Kampfgefährtin, in einen Kibbuz, entwirft Pläne für Museen wie das Diaspora-Museum in Tel Aviv und schreibt zahlreiche Gedichtbände, für die er 1970 mit dem israelischen Literaturpreis ausgezeichnet wird. 

Zu Lebzeiten veranlasst Abba ­Kovner,­ dass keines seiner Werke in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Bis er 1987 mit nicht einmal siebzig Jahren im Kibbuz En ­HaChoresch stirbt, spricht er mit keinem Deutschen mehr. Verzeihen konnte und wollte Abba Kovner bis zum Ende nicht.

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