Hau ab, das schaff’ ich schon allein

Manche Rollstuhlfahrer glauben, sie könnten sich alles erlauben

Von Jonathan Stock

Einige sagen, Herr Drüe gehöre nicht zu den Guten. Andere sagen, er sei ein Arschloch. Die meisten sagen nichts. Denn Herr Drüe sitzt im Rollstuhl. Und über Rollstuhlfahrer sagt man nichts Schlechtes (sic!). 

Herr Drüe lebt in einer kleinen Stadt. Sie hat drei Schützenvereine, eine Brauerei und ein Freibad mit einer blauen Elefantenrutsche. Früher, im Sommer rollte Herr Drüe gern mit seinem braunen Rollstuhl an die 50-Meter-Bahn zwischen dem zweiten und dritten Startblock. Wenn er gut drauf war, schwamm er die Strecke in einer Minute und neunzehn Sekunden. Nur ins Wasser kam er schwer. Er stützte sich mit seinen Händen auf der Stuhllehne ab. Die Adern am Hals traten hervor. Seine Füße kriegten keinen Halt. Manchmal kamen dann Leute, die ihn noch nicht kannten. Sie fragten, ob sie ihm helfen könnten. Und dann sagte Herr Drüe: „Hau ab.“ 

Mittlerweile hat Herr Drüe keine Lust mehr aufs Freibad. Er arbeitet als kaufmännischer Angestellter bei der größten Firma im Ort. Wenn man eine Nachricht an seine Kollegen schickt, mit der Frage ob sie den Mann kennen, der bei Stadtfesten gerne anderen Leuten über die Füße fährt und die Frauen so unangenehm anquatscht, dann kommt die Frage zurück: „Du meinst Drüe?“ 

Herr Drüe sagt, dass die Leute für ihn Fremde sind. Und dass er für die Leute wahrscheinlich auch ein Fremder ist. Und dass, wenn er so darüber nachdenkt, die Leute ihn mal am Arsch lecken können. Bloß keiner kommt dran, weil er drauf sitzt. Den Spruch hat er sich selbst ausgedacht. Herr Drüe mag Sprüche. An der Seite seines Rollstuhls steht: „Rücksicht ist besser“.  

Herr Drüe ist Spastiker. Bei der Geburt hat sein Gehirn zu wenig Sauerstoff bekommen. Er ist deshalb nicht geistig behindert, aber seine Beine sind gelähmt. Bis zu seinem siebten Lebensjahr konnte er nicht gehen, danach nur auf Krücken. Manchmal braucht er eine halbe Stunde, um sich die Schuhe anzuziehen, weil er seine Füße nicht fühlen kann. Der Fachausdruck für seine Behinderung lautet: Spastische Diplegie. Er sagt: „Ich hab alles. Ich hab das volle Programm. Mehr kann man nicht kriegen – bis auf blind.“ Es klingt stolz, wenn er das sagt. 

Mit dem vollen Programm meint er nicht seine Behinderung, sondern die Stempel auf seinem Behindertenausweis. Er hat fast überall einen, wo ein Feld dafür vorgesehen ist: Hilflos, Gehbehindert, Außergewöhnlich Gehbehindert, Notwendigkeit ständiger Begleitung erforderlich. Eigentlich sind die meisten Felder nur für Schwerbehinderte gedacht, wie Querschnittsgelähmte oder Beinamputierte. Herr Drüe wird nicht ständig begleitet, er ist auch nicht hilflos. Trotzdem hat er sich die Stempel beim Amt erkämpft. Denn jeder Stempel bedeutet eine Vergünstigung. Er zahlt keine Rundfunkgebühr. Er fährt umsonst Bahn. Er zahlt weniger Lohn- und Einkommenssteuer, keine Kfz-Steuer. Alle Umbauten werden für ihn beglichen, im Auto und in der Wohnung. Er kriegt freien Eintritt ins Freibad, Theater und Kino. Ihm werden bezuschusste Seminare angeboten vom Bundesverband für Behinderte in Düsseldorf. „Gemeinsam stark mit Behinderung“ sagen die. 
Stark muss er sein, denn er sieht sich umgeben von Idioten. Idioten, die die Hinweisschilder auf dem Bahnhof so hoch machen, dass er sie nicht lesen kann. Idioten, die die Fahrstühle zu langsam fahren lassen und die Legende immer am falschen Ort anbringen. Idioten, denen er Bescheid sagen muss, bevor er Zug fahren will. Idioten, die ihm nicht beim Tragen helfen, weil sie sagen, dass sie Rückenprobleme haben. Er hasst es, dass er so lange auf seinen Zweitrollstuhl warten musste, bis er den Anwalt eingeschaltet hat. Am schlimmsten aber ist Stuttgart 21. Ein Bahnhof, in dem ein Rollstuhlfahrer nicht direkt auf den Bahnsteig fahren kann, sondern den Fahrstuhl benutzen muss. „Diejenigen Ingenieure gehören einfach geschlagen“, sagt er. 

Als Herr Drüe fünfzehn war, haben ihm seine Klassenkameraden mal die Luft aus dem Rollstuhl gelassen. Er will nicht sagen, wie er nach Hause gekommen ist. Ein pubertärer Streich sei das gewesen. Sein Vater habe das damals mit denen geregelt. „Heute würde ich das alleine regeln“, sagt er. Er ist jetzt 44, und sein Vorbild ist Wolfgang Schäuble, der regelt auch vieles alleine. 

Er sagt: „Freunde sind für mich Menschen, die mich nicht verarschen wollen.“ Und in der kleinen Stadt gebe es keine Freunde. Seine Freunde wohnen woanders. Wo? „Na, hier nicht“, sagt er. Einmal die Woche fährt er abends in eine andere Stadt, ins Kino und so. Sonst hört er Radio. WDR 5, immer um 19.30 Uhr: die Bärenbude mit den Kuschelbären Johannes und Stachel. Aber in letzter Zeit ist auch die Bärenbude schlechter geworden, meint er, von der Qualität her. 
Es ist wahrscheinlich ein bisschen schwierig, mit Herrn Drüe befreundet zu sein. Wenn man ihn besucht, denkt man erst, er freue sich über die Abwechslung. Er besteht darauf, das Gepäck für einen ins Auto zu legen. Er bietet einem das Schlafsofa an. Er sagt: „Sie sind jetzt mein Gast.“ Aber dann sagt er Dinge wie: „Ich kann mich beschweren, so oft und bei wem ich will.“ Und dann fragt er, warum man das Gepäck nicht selbst aus dem Auto herausholt. Und dass man die Toilettenbrille desinfizieren soll, obwohl er vorher auf die Brille uriniert hat. Er will, dass man das Licht ausmacht. Dann macht er es wieder an. Am nächsten Morgen erklärt er lange und eindringlich, warum er nicht auf der Arbeit angerufen werden möchte. Zwei Tage später ruft er einen auf der Arbeit an. Aber nicht einen selbst – sondern die Sekretärin, um ihr zu sagen, dass er erbost sei. 

Herrn Drües Putzfrau soll den Zeitschriftenstapel lassen, wie er ist. Auf dem Stapel ganz oben liegt die Zeitschrift „Psychologie heute“. Auf dem Titel steht „Ich! Ich! Ich! Warum es immer mehr Narzissten gibt und wie man mit ihnen leben kann“. Ob er selber ein Narzisst ist? Herr Drüe mag die Frage nicht. Aber er mag es auch nicht, wenn man ihn nicht fragt, was er will. 

Er sagt, dass er nie Leuten auf Volksfesten über die Füße rolle, auch wenn die das erzählen. Das sei ja unfair. Aber wenn die Leute nicht an die Seite gingen, dann dränge er sie eben ein bisschen. Er gibt zu, dass er manchmal ein wenig cholerisch sein könne. Und das mit den Frauen bei der Arbeit? Es sei ihm mittlerweile egal, wenn die Frauen genervt sind, weil er sie anquatsche. „Wenn die genervt sind, müssen sie es halt sagen oder gehen, eins von beiden. Es gibt nur A oder B, nichts dazwischen.“ 

Herr Drüe ist noch Jungfrau. „Ich war nie verheiratet“, sagt er. Und dann bringt er einen Spruch, der nicht so richtig passt: „Ich würde nur aus steuerlichen Gründen heiraten.“ Und er sagt: „Ist auch gut so, dass ich nicht verheiratet bin. Ich möchte das nicht. Man muss Regeln, Richtlinien und Standards aufstellen in einer Beziehung.“ Und es gebe da Seminare vom Bundesverband, über Behinderte und Sexualität. Aber ob man da jetzt hingehe oder nicht, es bleibe doch alles gleich. Er hat stattdessen ein paar Seiten aus dem Internet in seinem Computer. Und in seiner Küche hängen sechs Karten mit der Schauspielerin Janina Flieger im Negligé. Es sind Werbekarten von der Telekom. Sechsmal die Gleichen. Eine siebte hat er im Auto. Und Lena Meyer-Landrut findet er eine geile Schnitte. 

Vielleicht gehört Herr Drüe doch zu den Guten und die kleine Stadt hat ihn einfach verkannt und besteht selbst aus lauter Arschlöchern. Denn das Schlimmste, was er mal gemacht habe, sagt er, war auf Klassenfahrt zwei Mark zu klauen. „Ich wollte das aber nicht klauen“, sagt er, „ich wollte das nur nehmen, weil das da rumlag. Aus Ordnungssinn.“ Und am Ende sagt er noch: „Ich möchte, dass man was Positives von mir erzählt.“

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