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N° 84, Nerven

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Hat man da noch Töne

Eigentlich nicht. Unser Autor wäre im Raum der Stille am Hamburger Hauptbahnhof fast durchgedreht

Von Moritz Herrmann

Ich überlege, ob ich in die Steckdose fassen soll. Schlimmer kann es nicht werden. Vielleicht hätte ein solcher Stromstoß, maßvoll dosiert, ja sogar belebende Wirkung? Wie viel Volt wohl durch das Netz des Hauptbahnhofes fließen? In meinem Rucksack liegt noch eine Büroklammer, damit würde es gut gehen. Vor ein paar Jahren, erinnere ich mich, hatten Forscher der Universität von Virginia ein Experiment durchgeführt. Ihre Probanden wurden in eine leere Kammer gesetzt, allein mit den eigenen Gedanken. Die einzige Ablenkungsmöglichkeit bestand darin, sich selbst Elektroschocks zu versetzen. Etliche Testpersonen entschieden sich schon nach wenigen Minuten für die Schocks, zu unerträglich war ihnen das Nichtstun geworden und die Stille. Was soll ich also tun? Ich sitze im Raum der Stille am Hamburger Hauptbahnhof und löse mich auf, es ist mein dritter Tag. Lassen Sie mich nun einen Halbsatz einstreuen, der immer dann kommt, wenn ein Autor ungelenk an den Anfang seiner Geschichte zurückspulen will: Doch der Reihe nach. 


Am ersten Tag hoffe ich nämlich noch auf eine reinigende Erfahrung. Ich will meinen Geist leeren wie im Wú. Der Raum der Stille wurde maximal hässlich in eine Unterführung geplant, auf halbem Weg zu Kaufhof, links ein Schuster, rechts der Dönerladen mit den Dumpingpreisen. Der junge Rezeptionist im Bahnhofsmissionsblau begrüßt mich. Still ist es durchaus im Raum der Stille, das muss man ihm lassen. Gleich zwei Stahltüren mit doppelverglasten Fenstern und auch die Mauer zur Bahnhofshektik führerbunkerdick. Die Welt nur noch eine dumpfe Ahnung, ein Grundrauschen, ein Zittern in der Luft. Ich setze mich auf einen Hocker. Ich bin guter Dinge. Ich denke an Tucholsky: Lärm ist das Geräusch der Anderen.


Aber die Euphorie verfliegt schnell, sie weicht dumpfen Tagträumen. Es ist zu still. Die Sekunden tropfen zäh von der Uhr, auf die ich immer wieder spähe, was natürlich gar nicht hilft. Bin ich so schwach? Halte ich mich selbst nicht aus? Ich vermesse den Raum. Spähe durch die Fensterrosette und sehe Leute hasten, ohne sie hasten zu hören, ein ewiger Stummfilm in Farbe. Und dann, zum ersten Mal, hauchzart anfangs, bald ganz deutlich: Wut. Kalte Wut, auf mich, auf die, die Welt, die Stille. Auf den Menschen, der das orangefarbene Streichen dieses Raumes verfügt hat, was in der Theorie bestimmt beruhigend sein soll, aber meinen Hass weckt. Ich denke an Kafka: „Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen absperren. Mit allen mich verfeinden, mit niemandem reden.“ Mir fehlt das Zwitschern der Vögel. Das Zischen, wenn sich Twitter aktualisiert. Der pöbelnde Busfahrer im Fünfer. Mir fehlt die Straße, der Smog, das Hupen.


Total erleichtert bin ich deshalb, als ein Mittsechziger eintritt und mir konspirativ zunickt. Er wird sich später als Harald vorstellen, Moselfranke in beiger Safariweste, Blockwartgesicht, Sandalen, immerhin ohne Socken. Also die Typbeschreibung kommt jetzt von mir, das hat Harald so nicht gesagt. Harald atmet sehr laut, vielleicht hat er einen Herzfehler oder ist gerannt oder Allergiker, draußen fliegen ja die Pollen. Mir ist sowieso alles recht, was die Stille unterbricht, selbst so ein Rosskastanienrasseln. Eibe, Akazie und Flieder haben auch Saison. Harald war mal Gynäkologe. Er mag den Hauptbahnhof nicht, das sagt er zweimal, den Raum der Stille aber mag er fein, das sagt er einmal und wirklich so: dass er ihn fein mag. In der Stille klingt der Satz noch komischer, als er das in normal lauter Umgebung täte. Da draußen hätte man über so einen Satz vielleicht hinweghören können, aber hier drinnen ist das unmöglich. Der Satz wird groß und größer, er dehnt sich aus wie flüssiger Stickstoff, er stößt an die Wände und an die Raumdecke und macht mich ganz müde. In der Stille klingt jeder Satz wie ein biblisches Gebot. Ich nötige Harald trotzdem bis an die Grenzen des guten Benehmens zum Smalltalk. Wer viel redet, muss weniger denken. Schließlich geht sein Zug, er rollkoffert davon.


Wieso halten wir Stille nicht aus, oder nur in geringer Dosis? Alle reden immer davon, dass sie mal ruhiger machen wollen, sich finden, entschleunigen. Am Anfang lässt man sich bereitwillig in die Stille fallen, aber irgendwann tut die sich auf wie ein Bergwerksschacht, sie wird zum Abgrund, und aus dem Fallenlassen wird ein Stürzen. Man findet nicht zu sich in der Stille, man wird sich fremd! In Minneapolis hat die Firma Orfield Laboratories den stillsten Raum der Welt entwickelt. Eine reflexionsarme Kammer aus Glasfaser, Stahl, Beton, die 99,99 Prozent aller Geräusche schluckt. Astronauten sollen hier auf das Weltall vorbereitet werden, aber keiner hat es bisher länger als 45 Minuten in dem Raum ausgehalten. Nach kurzer Zeit setzen Halluzinationen ein. So schlimm geht es mir noch nicht am ersten Tag, viel besser aber auch nicht. Die Stille hat mich abgeschliffen wie einen Bachkiesel. Ich brauche Seewind. Ich möchte Musik hören – und bitte nicht 4’33“ von John Cage. Ich versuche, die Leute in der U-Bahn nicht aussteigen zu lassen, einfach damit mich einer von ihnen anschreit, und dann könnte ich zurückschreien. Ich will mich schlagen, ich will blutende Wunden, ich will Nasen brechen hören.


Am zweiten Tag stößt ein neuer Kamerad die Tür auf. Ein Obdachloser, vermute ich, sein Haar ist verfilzt, er riecht nach Bier, und so ein Parfüm kann es nicht geben, sonst hätte ich es mir ja längst gekauft. Hallo, sage ich, aber wahnsinnigerweise pssssssst er zurück und hält sich den Zeigefinger vor die Lippen. Hallo, flüstere ich also, aber jetzt schaut er weg, an die Wand, ich bin ihm offenbar peinlich. Ich sitze mit einem Mann zusammen, der eine Warnweste trägt und einen Blumentopf mit Münzen vor der Brust, aber ich bin der Freak? Der Warnwestenmann seufzt, schließt die Augen und stellt dann alle Bewegungen ein. Ich merke, wie ich verkrampfe. Wenn man sich die Stille teilt mit einem, der sie umarmt, ist sie noch unerträglicher. Ich habe Angst, mich umzusetzen. Jedes Recken könnte seine Trance stören, und am Ende prügelt er mit dem Blumentopf auf mich ein. Auch scheint mir die Intimität zwischen uns beiden unangenehm ausgebreitet. Es fühlt sich an, als säße ich auf seinem Schoß. Als er wortlos geht, eine halbe Stunde später, rülpse ich erleichtert und laufe mir die Thrombose aus den Beinen. Das tut fünf Minuten lang sehr gut. Dann kommt die Stille zurück und errichtet ihre Tyrannei. Meine Sinne erodieren. Nebel wabert mir durchs Hirn. Ich fühle mich wie konserviert, dem in Formaldehyd eingelegten Tigerhai von Damien Hirst gleich. Ich will schreien. Weiß Katharina Saalfrank eigentlich, was sie all diesen Kindern mit ihrer stillen Treppe angetan hat? Ich denke an Luigi Russolos Kunst des Kraches. Luigi Russolo hat es verstanden, denke ich. Ich habe Splatterfantasien. Ich will Sex, ich will schreien, mir pochen die Gedärme. Dann schlafe ich erschöpft ein, den Kopf gegen die Wand gelehnt.


Und am dritten Tag kommt überhaupt niemand mehr. Ich sitze in meiner Höhle des Nichts, unfähig, irgendein Feuer zu entzünden, an dem ich mich wärmen könnte. Ich welke dahin. Eine Fliege fliegt brummend vorbei, findet dann aber einen Weg hinaus. Ich beneide sie. Irgendwann sehe ich mich selbst von außen. Ein Elendsbild, dürr und blass, embryonal eingerollt unter dem gerahmten Haiku an der Wand, der Engerling in der Furche. Ich schwebe über mir und sehe mich so fertig gefunden werden, nach Wochen erst, es war schon lange niemand mehr im Raum. Von der Stille dahingerafft, unbemerkt im Trubel des Bahnhofs, die „Bild“ wird von TRAGÖDIE IN DER CITY schlagzeilen und der Senat einen Untersuchungsausschuss einrichten. Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch. 
Ach, Goethe.


Also wenn man mich fragt, und das mache ich jetzt mal, ist ja sonst niemand da, dann gehört Stille verboten. Der Mensch ist für die Stille nicht gemacht. Nicht mehr. Er war es vor 200 Jahren noch. Heute hat er die Stille verlernt. Hat sie aggressiv bekämpft. Hat immer neue Geräuschverursacher erfunden, um ihr beizukommen: Telefone, Autos, Bahnen, Kanonen, Flugzeuge, Handys, Helene Fischer, Sadomaso-Sex und Video-on-Demand. Muss nicht unser ganzer Fortschritt im Grunde als einziger Versuch gesehen werden, die Stille auszurotten? Es gibt darum auch nichts Verdächtigeres als diese Retreat-Typen, diese Schweigeklosterurlauber, diese Insichruhenden. Das sind die, die dich im Ausnahmezustand von hinten erdolchen, mit einem stillen Lächeln. Der Firnis der Zivilisation ist brüchig und sein Bindemittel der Lärm. Nimm den Menschen den Krach der Moderne, und sie würden durchdrehen. Würden sich anfallen wie wilde Tiere. Sich die Köpfe einschlagen, damit es nicht so still ist.


Ich habe es selbst erlebt.


Von der Steckdose habe ich übrigens doch noch abgelassen. Ich bin vor Kurzem Vater geworden, darum erschien mir das unverantwortlich. Als ich endlich heimkomme, schreit meine erst vor drei Wochen geborene Tochter aus voller Kehle. Ich bin völlig begeistert.

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