Hang the DJ
Jede Nacht legt der Dampfer der guten Laune gleich über mir ab. Dann geht mein Nachbar hinters Mischpult, legt Platten von Wolfgang Petry oder Helene Fischer auf, dreht die Anlage voll auf und macht aus mir Song für Song den Spießer, der ich nie werden wollte
Von Andreas Bock; Artwork: Nadine Pedde; aus DUMMY Nr.55 zum Thema „Krach“, neu editiert 29.03.24
Als die Achterbahn das erste Mal losfuhr, musste ich mich am Bettgestell festhalten. Es war etwa zwei Uhr in der Früh, und ich glaubte, ein Flugzeug wäre im Hof gelandet. „Was ist das?“, schrie ich gegen den Lärm an, aber die Antwort meiner Freundin verstand ich nicht. Die Fenster vibrierten, die Bilderrahmen tanzten und die Möbel ächzten. Würde unser Haus diese Nacht überleben?
Wir waren erst eine Woche zuvor in diese Wohnung gezogen. Unsanierter Neuköllner Altbau an der Grenze zu Kreuzberg. Zweiter Stock, Parkett, hohe Decken, perfekte Lage zwischen Graefekiez und Weserstraße. Bisschen verwohnt, das schon, aber vier Zimmer für den Preis einer Zweizimmerwohnung. Der Hausbesitzer hatte offenbar seit den Siebzigern vergessen, die Mieten anzupassen.
Unsere Vormieterin hatte uns allerhand tolle Geschichten über das Haus erzählt. Die Gemeinschaft sei sehr gut, manchmal treffe man sich im Hof und grille zusammen. Oder man verbringe die Abende vor dem Späti an der Straße. Aufs Dach könne man natürlich auch, eine fantastische Aussicht. Die Realität sah etwas anders aus. Sie entpuppte sich als das komplette Neukölln-Klischee. Nachdem wir den Mietvertrag unterschrieben hatten, erfuhren wir von einer Nachbarin, dass im Erdgeschoss ein Alkoholiker wohne. Nachts spukten manchmal sonderbare Gestalten durch den Innenhof, denn sein Fenstersims diente als Theke. Im ersten Stock lebe ein Mann, der an einer Angststörung leide und deshalb seit zehn Jahren das Haus nicht verlassen habe. Wir würden ihn aber erkennen, wenn er im Treppenhaus, nur mit Unterhose bekleidet, spazieren gehe. Auf unserer Etage hätte sich vor wenigen Monaten ein Rentner zu Tode gesoffen. Und dann sei da eben der Typ im dritten Stock. Der Mann, der die Anlage voll aufdreht, weil er denkt, er sei der Rummelkönig von Deutschland.
„Wer will noch mit? Es sind nur noch wenige Plätze frei. Dalli, dalli!“
Nach den Ansagen folgte Musik. Lieder über einsame Männer, Lieder über verliebte Frauen. Es ging um Sonnenuntergänge, Regenbögen, Schmetterlinge, das ganze Programm. Dazu stampfende Beats. Der Mann mixte Schlagersongs von Wolfgang Petry oder Matthias Reim mit Neunzigerjahre-Eurodance zu einem Soundbrei der Extraklasse, und in den Übergängen heizte er einem imaginären Publikum mit einem Mikrofon ein.
Hatte ich überhaupt das Recht, diesem Working-Class-Urgestein mit Dingen wie Nachtruhe zu kommen
Eigentlich bin ich recht lärmunempfindlich. Außerdem mag ich es nicht, bei jeder Kleinigkeit die Polizei zu rufen. Als Neuer in einer uralten Hausgemeinschaft sollte man sich eh erst mal zurückhalten, die Regeln verstehen, die Codes. Und sowieso: Das würde sicher eine einmalige Sache bleiben, dachte ich. Hoffte ich. Ich ließ den Virtuosen also weiter über die Achterbahn seiner Träume gleiten und zog mir das Kissen über den Kopf.
Weil aber die Kirmes nach zwei Stunden immer noch in vollem Gange war, bat mich meine Freundin, nach oben zu gehen. So stand ich um vier Uhr morgens an der Tür des Rummelkönigs. Die erste Begegnung. War sein Lautstärkeregler kaputt? War er schwerhörig? Würden wir Freunde werden? Feinde? Ein kaputtes Lächeln zur Begrüßung. Seine untere Zahnreihe war verfault, ein paar Stumpen standen wie falsch gesetzte Kommata in verschiedene Richtungen ab. Ich schätzte ihn auf 50 oder 55 Jahre. Er trug Sportsocken, Unterhemd, Jogginghose und ein Stirnband. Er sah aus wie ein Tennisspieler, der sich vor vielen Jahren auf dem Weg nach Wimbledon im Wald verlaufen und nicht mehr hinausgefunden hatte. Da standen wir also, dritter Stock, Mann gegen Mann. Hier der verdammte Yuppie, der vor einiger Zeit aus dem gutbürgerlichen Hamburg-Eppendorf ins raue BerlinNeukölln gezogen war. Der Neue, der seine spießigen Vorstellungen vom Leben und Wohnen in eine Gegend mitgebracht hatte, die er eigentlich gar nicht verstand. Auf der anderen Seite der alteingesessene Berliner in seinem angestammten Territorium. Ein Mann, den man „Original“ oder „Atze“ nennt und der vermutlich seit Jahrzehnten hier wohnte. Einer, mit dem die einfallenden Hipster und Studenten frühmorgens im „Weser-Eck“ gern noch mal ein paar Kurze stürzen, weil er authentische Geschichten erzählt und es an seiner Seite so schön nach Working Class riecht. Was machte ich hier? Hatte ich überhaupt das Recht, diesen Mann mit Dingen wie Nachtruhe oder anderen Regelkatalogen zu belästigen? Ich nahm meinen Mut zusammen und sagte schüchtern: „Es ist laut.“ Weil keine Reaktion kam, fügte ich an: „Wäre es okay, wenn du die Musik ein wenig leiser machst?“ Da schnaubte er: „Der Vermieter hat mir erlaubt, Musik zu machen. Ich bin DJ.“ Dann schloss er die Tür.
Als ich ihn am nächsten Morgen im Späti traf, holte er sich ein Sixpack Bier, eine Packung Toastbrot und ein Wasser. Mich schien er nicht wiederzuerkennen. Er sah noch mitgenommener aus als in der Nacht. „Viel gearbeitet?“, fragte der Verkäufer, und der Rummelkönig nickte. „Muss ja.“
Am selben Abend klingelte es an meiner Tür. Ein Nachbar, vierter Stock, Typ Erdkundelehrer, wollte wissen, ob ich den Krach in der vorigen Nacht auch gehört habe. Als ich bejahte, zog er ein Schreiben und ein Lärmprotokoll hervor. Er bat mich, die Dokumente zu unterschreiben, damit er sie dem Vermieter schicken könnte. „Seit fünf Jahren geht das so“, sagte der Erdkundelehrer. „Seit fünf Jahren kann ich nicht mehr durchschlafen.“ Ich blickte den Mann an, auch er sah mitgenommen aus. Seine Zähne waren okay, dafür hingen die Augenringe wie Fragezeichen im Gesicht. Er war Ende 50, vielleicht aber auch erst 35. Ich sagte, ich könne ihn verstehen, aber ich wollte erst mal abwarten, wie sich die ganze Sache entwickelte.
Meine Freundin und ich gaben dem DJ bald einen Namen: Gernot der Große. Denn Gernot arbeitete unermüdlich, ein Workaholic an den Decks. Einer, der es ernst meinte. Die Musik war sein Job, sein Auftrag. Es gab natürlich auch Wochen, in denen er sich zurückhielt, vielleicht ein wohlverdienter Überstundenausgleich, Urlaub, so was eben. An arbeitsreichen Tagen aber begann er seine erste Schicht gegen zwei Uhr und beendete sie um fünf. Dann schlief er vier Stunden, holte sich gegen neun Uhr am Späti Lebensmittel und Bier und entspannte vor dem Fernseher oder schlief wieder. Um 15 Uhr fing seine zweite Schicht an. Die dauerte bis etwa 20 Uhr, um zwei Uhr ging es von vorne los.
Er nimmt ganz sicher Drogen, sagte eine Nachbarin einmal. Gras, Ecstasy, vielleicht sogar Crystal Meth. Ja, das stimme schon. Jedenfalls die Sache mit dem Gras, sagte der Hobby-Barkeeper aus dem Erdgeschoss. Ich glaubte beiden, denn Gernot entwickelte irgendwann seltsame Marotten. Manchmal verzichtete er auf die Ansagen, dafür fing er an, nachts seine Wohnung zu renovieren. Stundenlang kratzte er mit einem Spachtel den Boden ab, während Jürgen Drews von einem Bett im Kornfeld fabulierte und DJ Ötzi von einem Stern, der irgendeinen Namen trägt.
Mochten wir es früher nicht auch ganz gern, wenn Motörhead in voller Lautstärke durch die Boxen dröhnte?
Wir klingelten alle paar Wochen an Gernots Tür. Manchmal redeten wir freundlich miteinander, er versprach gelegentlich auch Besserung. Einmal brachten wir ihm Kopfhörer mit, er lehnte aber ab. Silvester 2014 traf ich ihn gegen Mitternacht auf der Straße. Wir hatten zu sechst gegessen und Schallplatten von Bill Evans und Chet Baker aufgelegt. Nun standen wir mit Sekt und Rotwein auf dem Gehweg und schauten uns das Feuerwerk an, während Gernot mit seinen Freunden aus der Haustür stolperte. Sie hatten eine Plastiktüte dabei, randvoll mit Chinaböllern. So zogen sie grölend von dannen und markierten alle paar Meter ihr Revier. Stimmte etwas mit uns nicht? Waren wir die geworden, die wir nie sein wollten: Gentrifizierer, Eindringlinge, Schnösel? Mochten wir es früher nicht selbst ganz gern, wenn Motörhead oder Iron Maiden in voller Lautstärke durch die Boxen dröhnten? Und jetzt: Chet Baker und Rotwein statt Lemmy und Astra-Pulle?
Bald resignierte ich und unterschrieb das Lärmprotokoll, in dem der Erdkundelehrer seit Jahren jede Ruhestörung vermerkt hatte. In dem Dokument standen neben dem Datum und der Uhrzeit auch ein paar Details des jeweiligen Vorfalls. Ich überflog die Liste und blieb an dem Wort „Axt“ hängen. „Was war denn da los?“, fragte ich. Der Erdkundelehrer erzählte, dass einmal die Polizei kam, aber Gernot hätte nicht aufgemacht. Deshalb rückte zusätzlich die Feuerwehr an und zertrümmerte die Tür mit einer Axt. Als die Beamten in die Einzimmerwohnung eindrangen, stand Gernot hinter einem riesigen Mischpult und tanzte. Aber damit sei ja ein für alle Mal Schluss. Es gebe schließlich Zeugen, zwei Unterschriften prangten unter dem Lärmprotokoll. Eine davon war meine.
Aber der Vermieter rührte sich nicht. Er hatte nicht nur vergessen, die Miete anzupassen, er hatte wohl auch vergessen, dass in diesem Haus überhaupt noch Menschen wohnten. So blieb erst mal alles beim Alten: Gernot rockte, der Alkoholiker trank, der Paranoiker schlich zwischen den Stockwerken hin und her, und der Stadtteil, den die Immobilienmakler mittlerweile in Kreuzkölln umgetauft hatten, wandelte sich in einem Tempo, dass einem schwindelig werden konnte. Während die Mieten in den umliegenden Straßen in astronomische Höhen schossen und all die Gernots aus den Altbauwohnungen gespült wurden, blieb unser Haus weiterhin von der Turbo-Gentrifizierung verschont. Ein schönes Gefühl, einerseits. Andererseits wünschte ich mir in Nächten, wenn die Achterbahn besonders lautstark losfuhr, nichts sehnlicher als die Ankunft des großen Verdrängungsmonsters, das Helene Fischer und Wolfgang Petry endlich zum Schweigen bringen würde.
Natürlich sei das alles auch sehr traurig, sagte der Erdkundelehrer einmal, als ich ihn im Innenhof traf. Gernot, ein Arbeitsloser, 50, vielleicht sogar 60 Jahre alt. Ein Vergessener mit kleinen Träumen. Ein Mann, der sich vermutlich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihm jemand die Zeilen von Andrea Berg ins Ohr flüstert: „Manchmal in der Nacht fehlst du mir. Wer nimmt mich in den Arm? Wem erzähl ich dann meinen Traum?“ Denn für Gernot, das ist die andere Geschichte, ist das Leben eigentlich vorbei. Er habe mal einen Sohn gehabt, so erzählen sich die älteren Hausbewohner. Vor vielen Jahren sei dieser bei einem Unfall gestorben. Danach ging Gernot nicht mehr zur Arbeit. Er stand morgens nicht mal mehr auf. Es war leise im dritten Stock, kein Ton drang aus der Wohnung, nichts. So ging es über Wochen und Monate, bis eines frühen Morgens die Musik erklang. „Manchmal in der Nacht fehlst du mir.“ Es schallte durchs Treppenhaus. Durch die ganze Straße. Aber Gernot, sagten die Nachbarn, das geht nicht. Andere Menschen müssen zur Arbeit. Gernot interessierte das nicht. Er drehte den Regler weiter nach rechts. „Wer nimmt mich in den Arm?“
Das Lärmprotokoll sei deshalb wirklich der allerletzte Schritt, sagte der Erdkundelehrer. Gern mache er das nicht. Denn was würde mit Gernot passieren, wenn der Vermieter ihm wirklich die Wohnung kündigte? Würde er überhaupt noch mal auf die Beine kommen? Wäre das sein Ende? Ich hatte kein gutes Gefühl.
Aber Gernot machte es einem nicht einfach, und im Sommer letzten Jahres drohte die Sache aus dem Ruder zu laufen. Meine Freundin war mal wieder hochgegangen und flehte gegen drei Uhr um Ruhe. Gernot hatte ausnahmsweise Besuch, sechs Bekannte saßen in seiner Wohnung. Die Nacht hatte sie aus den umliegenden Spielhallen und Eckkneipen hineingetrieben. Gernot war trotzdem nicht gut drauf. „Halt’s Maul, du Schlampe“, hörte ich ihn bellen, und da platzte mir der Kragen. Ich schritt die Treppenstufen hinauf, entschlossen setzte ich zur Gegenrede an, dem wollte ich es zeigen. Und dann stand ich wieder mal da. Wie waren wir beide hier gelandet? Ich blickte auf diesen Mund, die Stumpen, die Narben. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, schrieb Thomas Bernhard mal.
Die Bullen kamen und sahen aus wie Robocops auf der Suche nach einer vergessenen RAF-Zelle
„Wenn du meine Freundin noch einmal Schlampe nennst …“, begann ich und stockte. Was wollte ich eigentlich sagen? Wo sollte dieser Satz enden? Ich hatte noch nie jemandem Gewalt angedroht, einmal hatte ich mich geprügelt, sechste oder siebte Klasse. Also, neuer Anlauf. „Wenn du Scheißtyp meine Freundin noch einmal Schlampe nennst, dann …“, stotterte ich und blickte auf seinen Mund, „… dann … dann fehlen dir auch oben bald ein paar Zähne.“ Die Wörter stolperten aus meinem Mund, als würden sie unsicher sein, ob sie wirklich zu mir gehörten. Ich zitterte, und wir gingen zurück in unsere Wohnung. Keine 30 Sekunden später klingelte es an der Tür. Sieben Männer standen dort und ballten die Fäuste. „Wer schlägt nun wem die Zähne aus?“, fragte einer. Meine Freundin warf die Tür sofort ins Schloss, nun zitterte auch sie, und ich schämte mich. Danach rief ich zum ersten Mal in meinem Leben die Polizei.
Wenig später marschierten acht Männer durchs Treppenhaus, sie trugen gepolsterte Westen und Schoner an den Beinen, sie sahen aus wie Robocops auf der Suche nach einer vergessenen RAF-Zelle. Einer der Beamten, eine Art Konfliktlöser, sprach mit Gernot und notierte unsere Personalien. Schließlich sagte der Polizist: „So, jetzt geben Sie sich beide die Hand. Auf gute Nachbarschaft.“ Zögerlich streckten wir uns die Hände entgegen. In diesem Moment kauerten wir dort wie zwei Kinder, die sich auf dem Schulhof um ein Matchboxauto gestritten hatten und vom Lehrer zum Rapport bestellt wurden. Aber es fühlte sich gut an, besser als jede Begegnung, die ich bis dahin mit Gernot gehabt hatte. Vielleicht, weil wir mitten in der Nacht nicht sonderlich frisch aussahen, im Unterhemd sind alle Menschen gleich. Vielleicht aber auch, weil wir in diesem Moment ein stilles Abkommen schlossen.
Meine Freundin und ich wohnen nun seit beinahe sechs Jahren in diesem Haus. Oft fragen uns Freunde, warum wir nicht umziehen. Die Sache ist nur: Eine vergleichbare Wohnung im Kiez kostet mittlerweile das Dreifache. Und eigentlich wollen wir gar nicht weg, die Gemeinschaft ist wirklich toll. Wir mögen den Erdkundelehrer, der eifrig Buch führt. Den Alkoholiker, der manchmal am Fenster sitzt und Geschichten erzählt. Den Paranoiker, dem es offenbar etwas besser geht. Zumindest war er neulich mal im Späti. Auch Gernot ist noch da. Und er ist tatsächlich ruhiger geworden. Meistens ist er nachts gar nicht mehr zu Hause. Lag es wirklich an diesem nächtlichen Unterhemd-Treffen zwischen den Robocops? An dem schüchternen Handschlag? Fragen wollte ich ihn nicht, aus Angst, dass er die Frequenz wieder erhöht. Neulich aber lief ich in einer Samstagnacht auf dem Nachhauseweg an einer Kneipe vorbei, die damit wirbt, dass es bis 15 Uhr zwei Schnäpse für den Preis von einem gibt. Man kann dort Darts spielen oder die Spielautomaten füttern. Durch die offene Tür hörte ich einen bekannten Song, vielleicht Andrea Berg, vielleicht Helene Fischer. Ich blickte hinein. Gernot saß auf einem Barhocker und sah zufrieden aus.
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