Ganz schön voll
Ach, komm, ein Glas noch. Ich hab’s doch im Griff. Wie so viele Menschen hat sich auch Sofia ihren Alkoholkonsum jahrelang schöngeredet
Von Eva Kienholz
Wenn ich betrunken war, gab es mehrere Versionen von mir. Da war die selbstbewusste Sofia, der die Welt gehörte. Und da war die Dramaqueen, die komplett ausrastete, wütete, heulte – Weltuntergangsfeeling inklusive. Es gab auch eine Sofia, die Leichtigkeit und Witz umgab. Und eine völlig verzweifelte Sofia, die dem Leben nichts Positives mehr abgewinnen konnte. Aber es gab nie die richtige Sofia. Nur habe ich das damals noch nicht erkennen können.
Ich wurde 1992 geboren und wuchs zusammen mit meinem Bruder bei meiner Mutter in Nürnberg auf. Bis ich acht war, hatte ich auch eine große Schwester. Mit dreizehn Jahren nahm sie sich das Leben. Darüber wurde in meiner Familie nie offen getrauert. Mit meinem Vater war das Verhältnis eh immer schwierig, und meine Mutter war nach dem Tod meiner Schwester ein Wrack und konnte emotional nicht mehr für uns da sein. Alles wurde auf mich abgewälzt. Sofia, mach dies, mach das. Das war zu viel für eine Achtjährige, aber meine Mutter sah das nicht. Wenn ich mal widersprach oder Mist baute, sprach sie tagelang kein Wort mit mir.
Als ich zwölf war, trank ich zum ersten Mal Alkohol. Das war auf einem Campingplatz in Kroatien, im Urlaub mit meiner Mutter und meinem Bruder. Dort gab es ein Mädchen in meinem Alter, mit dem ich in der Bar vom Campingplatz rumlungerte. Und da bestellte sie einfach etwas Hochprozentiges. Vielleicht bekamen wir den Schnaps, weil wir frühreif waren, vielleicht interessierte es auch einfach niemanden. Ich weiß noch: Der erste Schluck schmeckte scheußlich. Aber so ist das ja auch mit der ersten Zigarette. Und irgendwann schmeckt’s halt. Vielleicht schmeckt auch nur die Wirkung.
Noch heute erinnere ich mich gut daran, wie leicht sich plötzlich alles anfühlte, wenn ich getrunken hatte. Ich und der Alkohol, wir wurden schnell zu besten Freunden. Doch eigentlich merkte ich schon sehr früh, dass dieser Freund nicht gut für mich ist. Mit vierzehn verboten mir meine Freunde jeglichen Alkohol, weil es mit mir immer so viele Exzesse gab. Wollte ich weiterhin Teil der Clique sein, durfte ich einen Sommer nicht trinken. Das Verbot empfand ich als extreme Bevormundung. Und natürlich trank ich heimlich weiter.
Als ich noch bei meiner Mutter in Nürnberg wohnte, liefen die Abende immer gleich ab: bei jemandem aus der Clique vorglühen, quatschen, eine nach der anderen rauchen, Musik hören. Dann zogen wir los, mit Drinks to go. Im Club ging’s weiter, Longdrinks, dazu Shots. Meistens Tequila. Irgendwann zog ich meine High Heels aus und tanzte barfuß auf einem Podest. Wenn ich dabei hinfiel, war das meiner Freundin irre peinlich. Damals sagte ich: Ja, Mensch, jetzt chill doch mal! Heute denke ich: Wie hat sie das bloß ausgehalten?
Als Teenie gab ich oft an mit meinem Suff – guckt mal, wie viel ich vertrage. Mein Saufen verkaufte ich mir als Talent.
Nach durchzechten Nächten wachte ich fast immer mit blauen Flecken auf – und oft auch mit Blackouts. Und dann konnte ich sicher sein, dass jemand sauer auf mich war, weil ich Scheiße gebaut oder jemanden beleidigt hatte. Ich fürchtete mich vor dem Liebesentzug meiner Freunde und konnte damit verdammt schlecht umgehen. Das kannte ich ja noch aus der Kindheit. Und doch hielten meine Zweifel nie lange an, nach zwei Tagen war alles vergessen, und ich war bereit für den nächsten Rausch.
Es gab Zeiten, da war’s nur Bier, manchmal auch Wein oder Wodka, hin und wieder direkt aus der Flasche am Rewe-Parkplatz. Als Teenie gab ich oft an mit meinem Suff – guckt mal, wie viel ich vertrage. Mein Saufen verkaufte ich mir als Talent.
Vier von fünf Abenden, an denen ich trank, eskalierten. Doch niemand war wirklich nachtragend. Als attraktiver Mensch kann man sich mehr rausnehmen bei anderen. Ich hatte immer Leute um mich herum, egal wie viel ich trank und wie rücksichtslos, asozial und aggressiv ich wurde. In meinen Augen war ich immer das Opfer, die Kaputte mit der schweren Kindheit. Mithilfe dieser Lüge konnte ich mir meine eigene Wahrheit aufbauen.
Von meinen Freunden war ich die krasseste Trinkerin. Da gab es die Freunde, die becherten, aber glücklich waren, und es gab mich, die soff, weil ihr Leben so abgefuckt war und sie irgendwie damit klarkommen musste. Das war mein Leitmotiv und meine Entschuldigung für alles. Wenn mich jemand mal mit meinem Alkoholkonsum konfrontierte, dann kam gleich von mir: Meine Schwester hat sich mit dreizehn umgebracht, meine Eltern waren nicht für mich da. Was sollte jemand darauf schon antworten? Ey, komm mal klar jetzt und hör auf, rumzuheulen, ist alles halb so wild?
Meine Mutter hat auf meinen Alkoholkonsum mit Hausarrest reagiert, nie aber von Sucht gesprochen. Ich natürlich auch nicht. Sonst wäre die logische Konsequenz ja gewesen, mit dem Trinken aufzuhören.
Ich war ehrlich zu anderen, aber nie zu mir selbst. Ich soff, weil ich mich selbst nicht ertragen konnte.
Mein Leben außerhalb des Rauschs bekam ich eigentlich noch einigermaßen hin. Nach dem Abi auf einem Abendgymnasium begann ich drei Studiengänge, brach aber alle ab. Nebenbei arbeitete ich als Reinigungskraft, Zeitungsausträgerin, Eisverkäuferin, Schuhverkäuferin, Barkeeperin, Kellnerin, Musikjournalistin, Flyerverteilerin, Naturpädagogin, Schreinerin oder Küchenhilfe.
Bei den Jobs hinterm Tresen kippte ich oft als Erstes einen Mexikaner runter. Nach der Schicht war ich manchmal zu voll, um abrechnen zu können.
Wenn ich trank, gab es immer nur Extreme. Entweder ging es mir supergut, oder es ging mir superschlecht. Aber es gab nie etwas dazwischen. Ich war ehrlich zu anderen, aber nie zu mir selbst. Ich soff, weil ich mich selbst nicht ertragen konnte.
Auch wenn ich meist in Gesellschaft war, gab es doch Momente in meinem Leben, in denen ich allein trank. Mit achtzehn Jahren machte mein damaliger Freund, mit dem ich eine lange On-off-Beziehung führte, wieder mal Schluss. Meine Traurigkeit wollte ich erst allein in Alkohol ertränken, aber dann nahm ich Tabletten. Zwei Packungen Paracetamol. Ich wollte mir das Leben nehmen. Stattdessen landete ich im Krankenhaus.
Erst spät gab es Situationen, in denen ich erkannt habe, dass ich mich selbst belog. Im Sommer 2020 wohnte ich in Wien und trank unglaublich viel. Als ich an einem Nachmittag mit einer Freundin in einem Café saß, kam ein Straßenmagazin-Verkäufer an unseren Tisch. Walter hieß er, etwa siebzig Jahre alt, Ur-Wiener, ehemals Alkoholiker, der es aber von der Straße und vom Suff zurück ins Leben geschafft hatte. Er war sehr reflektiert, strahlte eine unglaubliche Lebensfreude aus und ging offen mit seiner Alkoholsucht um. Weil mir das imponierte, fragte ich, ob ich ihn für mein gerade gegründetes Onlinemagazin „dieverpeilte“ interviewen könne.
Einen Abend vor unserer Interviewverabredung gab ich mir auf einer Party die Kante, auf der umsonst Alkohol ausgeschenkt wurde. Mit einem fetten Kater kreuzte ich dann zum Interview auf und dachte, ich müsste gleich kotzen. Als ich mir eine Kippe anzündete, wurde mir noch schlechter. Daraufhin bestellte ich einen doppelten Wodka-Shot. Und Walter fragte mich, so aus dem Nichts heraus und komplett ohne Wertung: Wie viel trinkst du? Ich weiß nicht mehr genau, was ich ihm geantwortet habe. Aber ich weiß noch, dass ich ehrlich zu ihm war. Er hätte gewusst, wenn ich gelogen hätte.
Eine Woche später trafen wir uns noch mal, und er erzählte mir seine Geschichte. Und ich sprach über mein Problem. Vielleicht war Walter so eine Art Mentor für mich. Es war schön, mit ihm darüber zu sprechen. Er hat mich nicht verurteilt für das, was ich bin. Ich denke, das war wohl das Wichtigste, zu sehen, dass es okay ist, dass ich dieses Problem habe, und gleichzeitig zu sehen, es gibt auch einen Weg da raus.
Und es ist krass, dass ich inzwischen den Geschmack von Wasser oder einer Cola viel lieber mag.
Nach dem Gespräch begann ich, mich und meinen Lebensstil zu hinterfragen. Ich verließ Wien und zog nach Barcelona. Auf dem Nachhauseweg von einer Party brachte ich mich und meine Freundin in so eine unangenehme Situation, dass ich mir ein Ultimatum stellte: Entweder du hörst jetzt auf zu trinken, oder du machst weiter und gehst vor die Hunde.
Als ich mich in meinem Onlinemagazin als Alkoholikerin outete, hörte ich endgültig auf. Das war im Oktober 2020. Ich wusste, wenn ich das jetzt veröffentliche, dann gibt es kein Zurück mehr, dann muss ich zu dieser Entscheidung stehen. Der Artikel half mir, nicht rückfällig zu werden. Gleichzeitig litt ich unter den Kommentaren, auch wenn sie nett gemeint waren. Super, dass du diesen Schritt gehst, hieß es da. Oder: Oh, das klingt echt nach einem Alkoholproblem. Solche Aussagen taten weh, und es machte mich wütend, mit meinem Alki-Ich konfrontiert zu werden. Mich selbst zu betrügen war plötzlich nicht mehr möglich.
Mein nüchternes Ich hat mir seitdem ganz schön zu schaffen gemacht. Man wird ernster, klarer, dünnhäutiger. Und dann bekam ich im August 2022 auch noch eine Brustkrebsdiagnose. Plötzlich hinterfragte ich meine Nüchternheit, weil mir die Leichtigkeit in meinem Leben fehlte. Ich musste es einfach noch mal probieren – und nippte an einem Glas. Unglaublich, wie bitter Sekt schmeckt. Und es ist krass, dass ich inzwischen den Geschmack von Wasser oder einer Cola viel lieber mag. Das Verlangen, betrunken zu werden, habe ich auf jeden Fall nicht mehr. Womöglich liegt es daran, dass ich endlich Freundschaft mit mir selbst geschlossen habe. Ich glaube, für meinen Ex-Freund, den Alkohol, ist das okay.
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