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N° 84, Nerven

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Es kann so einfach sein

Ist es denn wirklich so öde in Brandenburg, wie alle sagen? Eine knallharte Recherche in Kyritz an der Knatter

Von Oliver Gehrs

Dafür, dass man ihm gestern 143 Gallensteine entfernt hat, ist der Gast am Fenstertisch im Café Schröder erstaunlich fidel. Typ gemütlicher Angler um die sechzig, wadenlange Cargohose, verschwitztes rotes Polohemd. „Die sahen aus wie Liebesperlen“, grinst er in die Runde Frührentnerinnen, fünf gebannt zuhörende Frauen zwischen sechzig und siebzig in geblümten Blusen. „Eigentlich wollte ich sie mit nach Hause nehmen“, dröhnt der Alleinunterhalter und knallt die letzte Pointe raus: „Aber die waren so giftig, dass die Ärzte sie im Labor weggeschlossen haben.“ Große Freude allerseits über diese herrliche Anekdote aus dem Kyritzer Klinikum mit dem zeitlosen Spruch: „Medizin auf höchstem Niveau“.

Das gilt auch für die Stimmung im Café Schröder. Draußen, unter den Sonnenschirmen, sitzen am Morgen schon um kurz vor zehn weitere Grüppchen fröhlicher Pensionäre – irgendwie scheinen hier alle zwischen sechzig und siebzig zu sein – und genießen Berliner Weiße mit Waldmeister, große Eisbecher mit Sahne oder schon das erste frisch gezapfte Lübzer. Schlechte Laune wegen des Krieges in der Ukraine? Der steigenden Gaspreise? Oder wegen der just an diesem Tag erstmals gesichteten toten Fische in der Oder am anderen Ende des Bundeslandes? Nicht hier in Kyritz an der Knatter.
Gut gelaunte Menschen in Brandenburg – das ist natürlich erklärungsbedürftig. Das Bundesland, das auf der Autobahn mit dem irreführenden Slogan „Es kann so einfach sein“ für sich wirbt, gilt nicht gerade als Heimstatt der Lebensfreude. Eher denkt man an verkniffenes Preußentum, verwaiste Bushaltestellen, an frugale Küche, endlose Servicewüsten und an ein hämisches Lied, in dem Achtzehnjährige vor lauter Langeweile gegen den nächsten Alleebaum gurken.

Und dann trifft man in Kyritz nicht nur auf all die fröhlichen Rentner im Café, sondern auch sonst auf humorbegabte Menschen. Es geht ja schon damit los, dass es in Kyritz an der Knatter gar keine Knatter gibt. Den Namen haben dem Ort einst Durchreisende gegeben, die sich über das Knattern der Ölmühlen am Fluss mokierten – wobei das eine etwas abwegige Beschreibung für das Klappern der Mühlen am rauschenden Bach ist. Egal, das frühe Stadtmarketing in Kyritz wusste diesen Beinamen zu nutzen, und tatsächlich machte er den Ort von einem Tag auf den anderen über die Landesgrenzen hinaus bekannt und verschaffte ihm sogar Eingang in die Populärkultur. So ließ der Comiczeichner Manfred Schmidt seinen Meisterdetektiv Nick Knatterton natürlich von einem Adelsgeschlecht in Kyritz an der Knatter abstammen.
Man muss indes nicht mal selbst ein Knatterton sein, um in Kyritz schnell auf weitere Eulenspiegeleien zu stoßen. Auf dem ordentlich gepflasterten Marktplatz stößt man fast unwillkürlich auf eine Gedenkplatte mit der Inschrift: „Dieser Stein erinnert an den 14.2.1842. Hier geschah um 10.57 Uhr NICHTS.“ Später stellt sich heraus, dass die Platte auf Betreiben eines längst fortgezogenen Dadaisten ins Pflaster eingelassen wurde, der jahrelang ein sogenanntes Lügenmuseum vor der Stadt betrieb. Den Dadaisten und sein Lügenmuseum wussten die rund 9.000 Kyritzer nicht zu schätzen – den Stein aber, den hielten sie in Ehren. Vielleicht ja, weil er der kleinen Stadt schmeichelt. Denn wenn man einzelner Tage gedenken muss, an denen nichts los war, heißt das dann nicht, dass an all den anderen die Post abging?
Das herauszufinden wäre eine recht aufwendige Recherche – aber man kann ja mal gucken, wie es heute so ist. Der Auftakt im Café Schröder war ja schon recht vielversprechend, und es geht gut weiter, denn Kyritz hat – und das ist ja nicht in allen Provinzstädten selbstverständlich – einen Wochenmarkt. Es gibt dort Obst und Gemüse aus Polen und eine Freilichtausstellung mit Bildern, die die Nachwendezeit in Brandenburg dokumentieren, in der alles wirtschaftliche Treiben von Treuhand und Bundespolitik für null und nichtig erklärt wurde – inklusive der Lebensläufe der Arbeitenden. Doch anders als im sehr nahen Neuruppin, wo Bundeskanzler Olaf Scholz unlängst mit Reichsbürgergebrüll und Pegida-Geschrei aus der Stadt gejagt wurde, wird die misslungene deutsch-deutsche Wiedervereinigung in Kyritz ohne Wutschaum aufgearbeitet.

Klar drehen sich Gespräche auf dem Kyritzer Markt auch schnell mal um „die ganzen Flüchtlinge“, denen vermeintlich mehr Empathie entgegengebracht wird als den Brüdern und Schwestern aus dem Osten – aber den meisten scheint klar zu sein, dass es ihnen ziemlich gut geht, zumindest den Älteren. Denn viele beziehen eine auskömmliche Frührente, die ihnen ausgedehnte Cafébesuche ermöglicht. Und einige hier haben gerade sogar ein bisschen mehr Geld auf dem Konto, weil sich den gestressten Berlinern mittlerweile selbst die kleinste Datsche als gemütliches Wochenendhaus verkaufen lässt.

Überhaupt macht die Hauptstadtmüdigkeit aus Brandenburg plötzlich einen veritablen Sehnsuchtsort; und Kyritz strengt sich augenscheinlich besonders an, die alles absorbierende Metropole vergessen zu machen: Es gibt sogar ein Poesiefestival mit dem Namen „Flammende Herzen“ und auf der Bühne des Klostergartens neben Kleist auch Auftritte der selbst ernannten Seherin Rita Hagedorn, die durchs Telefon riechen kann, ob jemand am anderen Ende der Leitung eine Bierfahne hat. Der Einzelhandel in Kyritz gibt sich wiederum Mühe, die Kundschaft mit kreativen Slogans zu locken: Der Weinladen Barrique verspricht „the famous art of spirit“, der Dekorladen Tiziano setzt auf „Design und Emotion“ und die Parfümerie Lorenz auf „schlichte Raffinesse“. Zum Brandenburger Stadtmix gehören natürlich noch ein Italiener, der womöglich gar kein Italiener ist („Piccolo casa nostra“), und ein paar Kleinstadtnazis, bei denen die deutsche Fahne reichsbürgerhaft falsch herum vor der Tür hängt. Kurze besorgte Nachfrage bei der netten Dame im Heimatverein, ob die Rechten in Kyritz Ärger machen. „Ich sag mal so: Es gibt hier auch Aufkleber, auf denen steht: Nazis töten“, so die beruhigende Antwort. „Wir leben hier also in einem gesunden Gleichgewicht.“

Leben und leben lassen also, fast wie im Rheinland, und tatsächlich hat sich der verständnisvolle Umgang auch auf die Zugezogenen übertragen. „In Kyritz leben die besten Menschen der Welt“, sagt der iranische Gastwirt Asadolah Fakhari und ergänzt: „Gleich nach den Polen.“ Fakhari leitet das deutsch-iranische Kulturzentrum, das sich bei näherer Betrachtung als ein Restaurant entpuppt, in dem Fakhari persisch auf seine Art kocht, wie er sagt. Also Scampispieß und Thunfischauflauf, was den Kyritzer Geschmack punktgenau zu treffen scheint. Dass Fakhari im Sinne der Völkerfreundschaft schon mal den damaligen Kyritzer CDU-Bürgermeister mit ein paar Mullahs aus der iranischen Botschaft in Berlin zusammenbrachte, sorgte bei der grünen Opposition im Stadtparlament vor Jahren für große Aufregung.

Mittlerweile sind die Grünen selbst in Regierungsverantwortung – sie unterstützen eine von der SPD aufgestellte parteilose Bürgermeisterin, die vor vier Jahren mit dem schönen Versprechen antrat, dass es in Kyritz nicht nur knattern, sondern „auch brummen“ soll – wirtschaftlich und kulturell.

Es sieht ganz so aus, als hätte sie dieses Vorhaben schon zu einem guten Stück umsetzen können. Denn Kyritz hat das toxische Gemisch aus alten Stasi-Connections und neuer Lust am Umleiten öffentlicher Gelder hinter sich gelassen. Das zumindest deutet Reinhard Zabka an, Spiritus Rector des berühmten Gedenksteins an das Nichts. „Das Kulturunverständnis“ im Kyritzer Rathaus, so der Dadaist im Exil, sei zu seiner Zeit „riesengroß“ gewesen. Am Telefon folgen weitere Erinnerungen an provinzielle Betonköpfe und schließlich Zabkas Ferndiagnose, dass es sich bei Kyritz nach der politischen Wende im Rathaus um die kommende Stadt im Havelland handele.

Allerletzte Frage an den Fachmann: Wie kam ausgerechnet das Datum des 14. Februar 1842 auf den Gedenkstein? In Wirklichkeit, so Zabka, das aber nur unter vier Augen, hätten Recherchen im Stadtarchiv etwas viel Gravierenderes ergeben. Etwas, was wohl nicht mal den Kyritzer Schildbürgern zuzumuten war. Es war nämlich nicht nur der 14. Februar, an dem nichts los war. Im ganzen Jahr 1842 sei nichts passiert.

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