Die Deadline

Armin Gloor hatte schon vor Jahren beschlossen, nicht älter als siebzig zu werden. Als der Tag näher kam und Gloor nichts fehlte, hofften seine Freunde, dass er es lassen würde. Ein Irrtum

Von Sascha Lehnartz; Fotos: Daniel Auf der Mauer; aus DUMMY „Selbstmord“ / Nr. 66, 2020; neu editiert 4/2024

An einem Donnerstag wollte sich Armin Gloor das Leben nehmen. Das Datum hatte er gesetzt, weil er überzeugt war, dass es für das Gelingen seines Vorhabens entscheidend sei, einen festen Termin vor Augen zu haben. Also hatte er beschlossen: Am 22. Dezember 2016 werde ich sterben.

Es war Armin Gloors siebzigster Geburtstag. Ein „schöneres Datum kann es nicht geben“, sagte er. „Ein Ereignis der Ästhetik.“ Genau der richtige Tag, um seinem Dasein ein Ende zu setzen. Obwohl ihm nichts zu fehlen schien. Er hatte keine tödliche Krankheit. Er wirkte nicht verzweifelt. Er fand einfach, dass es genügte. Deshalb hatte er sich eine tödliche Dosis von dem Gift organisiert, mit dem auch Exit, die Schweizer „Vereinigung für humanes Sterben“, ihre Patienten versorgt. Gloor war kein Exit-Kunde. Er erfüllte ganz einfach die Voraussetzungen für die Sterbebegleitung nicht. Zu Exit kommen Menschen, die psychisch oder physisch so krank sind, dass jeder verstehen kann, dass sie nicht mehr leben wollen. Gloor hingegen war einfach zu gesund.

Der Gedanke, dass sein Leben nicht länger als siebzig Jahre währen sollte, trieb Gloor schon seit langem um. Seit mindestens zwei Jahrzehnten beschäftigte ihn die Frage. In den zwei Jahren vor seinem Tod reifte sein Entschluss, den er allen mitteilte. Seiner Ehefrau, von der er getrennt lebte, Verwandten, seiner engsten Freundin, die er seine „Herzensfreundin“ nannte. Den alten Freunden, die ihm geblieben waren. Seinem Hausarzt. Dem Nachbarn und dessen Sohn. Nicht jeder nahm ihn gleich beim Wort. Erst nach und nach wurde ihnen klar, wie ernst es ihm war. Der eine oder andere versuchte, ihn von seinem Plan abzubringen. Aber die, die ihn lange kannten, wussten, dass Armin Gloor schwer umzustimmen war, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hatte. „Wenn er sagt, er macht etwas, dann macht er das“, sagte ein Studienfreund, der ihn seit mehr als vierzig Jahren kannte. Gloor selbst zitierte gern einen Satz von Max Frisch: „Aus einem lange errungenen Entscheid entspringt eine kühne Tat.“

„Ich sterbe lieber zu früh als zu spät“

Aber hat ein Mensch das Recht, einfach so zu sagen: „Danke, es reicht, ich gehe jetzt“? Was mutet ein Mensch denen zu, die ihn lieben, wenn er ihnen zu verstehen gibt, dass er trotzdem sterben möchte? Wie hält man einen Menschen vom Sterben ab, den nichts mehr am Leben zu halten scheint? Und was hält einen Menschen eigentlich am Leben? „Ich sterbe lieber zu früh als zu spät“, sagte Armin Gloor. Seine Horrorvorstellung war, eine Treppe hinunterzustürzen, irgendwie zu verunglücken, danach hilflos zu sein. An Schläuchen und Apparaten zu hängen. Ärzten und Maschinen ausgeliefert zu sein. Dann wäre es zu spät gewesen.

Man darf vielleicht sagen, dass sich Armin Gloor mit dem Tod ganz gut auskannte. Sein vier Jahre älterer Bruder hatte sich vor 23 Jahren vor einen Zug geworfen. Er selbst hatte seine 91 Jahre alte Mutter 2009 beim Sterben begleitet, als diese nach dem Tod ihres Ehemannes nicht weiterleben wollte. Der Tod war nicht sein Freund, aber doch steter Begleiter.

Armin Gloor war eloquent, es mangelte ihm nicht an Selbstbewusstsein. Er erzählte gern – und mit Genuss über sich selbst. Er war auf nicht unangenehme Weise eine Plaudertasche. Zuweilen konnte er auch ruppig werden. Sein Urteil war scharf. Es gab nicht viele Autoritäten, die er akzeptierte. Religionen hielt er für ausgemachten Schwachsinn. Ärzte und Psychiater größtenteils für überschätzte, korrumpierbare Idioten. „Arschlöcher“, brach es dann und wann aus ihm heraus. Er war ein Freund von Kraftausdrücken. Jähzornig? „Ich würde eher sagen ›impulsiv‹“, antwortete er auf diese Frage. 

Gloor hatte Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert und promoviert. Eine Zeit lang war er Lehrer, dann Hochschuldozent, bevor er als freiberuflicher Berater Assessment-Center abhielt. Er hatte viele Jahre seines Berufslebens damit verbracht, Führungskräften zu zeigen, was sie falsch machen. Zu seinen Veröffentlichungen gehört ein Buch mit dem Titel „Jesus im Persönlichkeitstest“. Das ist kein humoristisches Buch. Es ist ein Assessment-Center für den Sohn Gottes. Bewertungsgrundlage sind dessen Worte und Taten laut Johannesevangelium. Der Coach Armin Gloor kommt darin zu dem Schluss, dass Jesus als Führungskraft vollkommen ungeeignet ist.

Es war nicht leicht, Armin Gloors Ansprüchen gerecht zu werden. Am wenigsten vielleicht für ihn selbst. „Ich bin sehr beschäftigt mit dieser Sterberei. Sterben ist nämlich extrem aufwendig. Ich sollte nach meinem Tod ein Seminar anbieten: ›Selbstständig sterben – aber wie?‹ Könnte eine Bombe werden.“ So sprach Gloor kurz vor seiner Tat. Er hatte sein Testament abgefasst und hinterlegt. Er redigierte in diesen Tagen seine jüngsten Tagebücher. Seit Jahren schrieb er beinahe jeden Tag. Am Ende eines jeden Jahres ließ er sie drucken. Zu sagen, dass Gloor nichts dem Zufall überließ, ist eine Untertreibung. Er plante alles bis ins Detail, erst recht seinen Tod. Schon aus Rücksicht auf die Angehörigen. Deren Leben sollte möglichst „ruhig und störungsfrei weitergehen“. Deshalb hatte Armin Gloor ein Drehbuch zu seinem Suizid verfasst. Sein dreiseitiges „Sterbe- Drehbuch“ überarbeitete er permanent. Die „Version 05“ beginnt unter Punkt 1 „Ausgangslage“ mit dem Unterpunkt 1.1 „Am Donnerstag, dem 22. Dezember 2016, will ich in meinem Haus sterben“. Es folgt eine minutiöse Liste mit „zu erledigenden Jobs“ bis zum Tag X. Darunter finden sich Anweisungen für seinen Hausarzt, seinen Nachlassverwalter und seine Herzensfreundin, die ihm am Todestag beistehen sollte. Es folgen Hinweise für den Druck der Todesanzeigen, die Bereitstellung von 20.000 Franken „Operationsgeld“ zur Begleichung sämtlicher Kosten, die Abfassung der nötigen Dokumente für Polizei und Bestatter, die Organisation der Gartenpflege nach dem Ableben, die Umleitung der Briefpost, die Aktualisierung der Schenkungsliste und unter 4.5 der Punkt: „Einen kleinen Vorrat an Knabbereien anlegen, die den ­Besuchern am 22. Dezember gereicht werden können.“

Gloor lebte in einem kleinen Dorf im Blenio-Tal, einem rustikal-charmanten Alpental im nördlichen Tessin. Vor zwanzig Jahren hatte er hier die Villa Giuditta gekauft, ein dreistöckiges Landhaus. Der Blick von der Terrasse über das Tal ist postkartenidyllisch. Er hatte das Haus über Jahre hinweg gemeinsam mit seiner Ehefrau geschmackvoll und behutsam restauriert, nach der Trennung machte er damit allein weiter. Armin Gloor hatte künstlerische Talente. Die Jugendstilschablonen für die Wandverzierungen hatte er selbst angefertigt. Und als er mit dem letzten Zimmer fertig wurde, da hat er über den Türrahmen einen großen Stempel-Schriftzug gemalt: „Erledigt“.

Vor seinem Tod klebten auf vielen Sachen grüne Punkte: auf den Blechschirmen der Industrielampen, über dem großen Esstisch, auf fast allen Möbeln. Auf den Punkten standen Namen. Gloor hatte Freunde und Verwandte gebeten, die Dinge zu markieren, die sie gern aus seinem Nachlass erhalten würden. Anfangs haben sich manche gesträubt. Auch seine Ehefrau. Aber dann machten alle mit.

„Ich kann so viele Sachen nicht mehr, die ich einmal konnte und über die ich mich freute, zum Beispiel Vögeln.“

Vor dem Kamin stand ein Sessel, mit ­Zebramuster bezogen. In diesem Sessel wollte Armin Gloor aus dem Leben scheiden. Es war derselbe Sessel, in dem seine Mutter am 17. April 2009 starb. Doch wie war Armin Gloor zu der Antwort gekommen, dass sich sein Leben nicht mehr lohne? „Ich weiß es ja selbst nicht“, sagte Gloor. Angesichts der Akribie seiner Vorbereitungen ist das eine unbefriedigende Antwort. Er merkt es selbst und legt nach: „Ich zähle mal auf. In der Hoffnung, Sie können das dann sinngemäß auseinanderkämmen.“ Dann sagte er, dass er nie alt werden wollte. Nie das „Erlebnis der Gebrechlichkeit, der Abhängigkeit“ haben. Glücklicherweise sei er in seinem Leben darum herumgekommen. „Aber ich habe auch alles unternommen, um nicht abhängig zu werden. Alles, was mich in Freiheit ließ.“ Die Vorstellung, sich pflegen zu lassen, „sich den Arsch abwischen zu lassen“, war für ihn ein „No-Go“, wie er sagte, „abartig“. Und wenn man ihn fragte, warum es so unvorstellbar für ihn ist, sich irgendwann einmal von irgendwem helfen zu lassen, dann ist das erste Wort, das ihm einfällt, „Demütigung“. Das Alter fand er schon mit 69 demütigend. „Ich kann so viele Sachen nicht mehr, die ich einmal konnte und über die ich mich freute, zum Beispiel Vögeln.“

Seine Altersversorgung hatte Gloor so angelegt, dass sie bis siebzig reichte. Nicht viel länger. Er hatte gut gelebt und bereute nichts. Schlechte Hotels und zweite Klasse fahren in der Bahn lehnte er ab. Er hatte seine Altersversorgung verbraten und somit jeden Anspruch auf Hilfe verwirkt. So sah er das. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.

Oben im dritten Stock, von seinem Arbeitszimmer aus, sieht man einen Bauernhof. Dort wohnt Armin Gloors Ehefrau. Mit ihrem neuen Mann. Als der Neue auf einmal da war, hatte er kurz erwogen, sich richtig aufzuregen. Den Mann vielleicht zu verprügeln. Aber Armin Gloor war psychologisch geschult. Er kannte Techniken, um mit emotionalen Krisen umzugehen. Er hatte die Lage „analysiert und integriert“, sich mit seiner Ehefrau arrangiert. Sein Nebenbuhler durfte später sogar im Keller einige Werkzeuge mit grünen Punkten versehen. Das Scheitern seiner Ehe trieb Gloor dennoch um. Von „der Niederlage“ seines Lebens sprach er. Dabei konnte er nüchtern beschreiben, was schiefgelaufen war. 2007 gab er seine Beratungsfirma in Zürich auf, um ganz ins Tessin zu ziehen. Seine Frau hatte das einstige Ferienhaus dort längst zu ihrem Ort gemacht. Nun wurde es rasch zu eng für zwei. Armin Gloor hatte in puncto Haushaltsführung konkrete Vorstellungen, seine Frau hatte andere. Er ist zum Beispiel kein großer Fan von Tieren. Seine Frau schon. Sie hält Hunde, Esel und Alpakas. Armin Gloor fand Hundekot im Garten unerträglich und den Geruch von nassen Alpakas problematisch. Seine Frau war zwanzig Jahre jünger als er, und sie liebte das Landleben. Sie baute ein kleines Unternehmen auf, das Trekkingtouren auf Maultieren anbietet. Gloor war damals 61 Jahre alt und dachte mehr und mehr über sein Ende nach. Seine Frau fing gerade noch einmal von vorn an. Das ging nicht lange gut. „Für mich wurde es immer klarer, dass es so kommen würde“, sagte seine ehemalige Ehefrau. „Das war für mich schwierig. Er war irgendwann mit dem Zu-Ende-Gehen beschäftigt, während ich meine Zukunft gestalten wollte. Ich akzeptiere das, aber es war nicht mehr meine Geschichte.“

Sie verstanden sich nicht mehr. Sie stritten sich.

Seine Frau sei unfähig, sich zu entschuldigen, fand Gloor. Er selbst glaubte meistens, dass er recht hat. Eines Tages überließ der Nachbarbauer seiner Frau einen alten Hof, sie baute ihn um und verliebte sich in den Mann, der ihr beim Umbau half. 

Mit seiner Frau war Gloor mehr als zwanzig Jahre zusammen. Keine Kinder. Er wollte nie welche: „Kinder sind ein verpflichtender Vertrag, den man zwanzig Jahre lang erfüllen muss.“ Er zweifelte, ob er ein Vater hätte sein können, auf den Verlass gewesen wäre. Armin Gloor hat keine Kinder, weil er sich selbst nicht über den Weg traut.

Nachdem Armin Gloor entschlossen war, sich zu töten, teilte er dies seinem Hausarzt mit. Der war irritiert. Er versuchte, Gloor von seinem Vorhaben abzubringen. Als er sah, dass es nicht fruchtete, verständigte er den Kantonsarzt. Dieser ließ Gloor vorschriftsgemäß von einem Psychiater untersuchen. Der Psychiater diagnostizierte eine „doppelte narzisstische Kränkung“. Die erste sei für Gloor die Aufgabe seines Berufs gewesen, die zweite die Trennung von seiner Ehefrau. Der Amtspsychiater gab nach der vierten Sitzung auf, nachdem Gloor ihm einen Fragenkatalog vorgelegt hatte, dessen Auswertung ergab, dass der Mediziner methodisch nicht auf der Höhe war. Der Psychiater wies den Fall zurück an den Kantonsarzt. Der resümierte, Gloor sei sich über die Konsequenzen seiner geplanten Tat vollauf bewusst. Das spreche dafür, dass er zurechnungsfähig sei. Gloor hatte nun schriftlich, dass die zuständigen Behörden in seinem Fall zu dem Schluss gekommen sind, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums sei höher einzustufen als die Schutzverpflichtung des Staates. Die Schweiz wollte ihn nicht aufhalten.

Das Gift, mit dem Gloor sich töten wollte, hatte er sich bereits 2007 besorgt. Nur für den Fall. 2008 starb Armin Gloors Vater im Alter von 93 Jahren. Seine Mutter, damals 91, kam in ein Pflegeheim und verlor nach dem Tod ihres Ehemanns bald selbst den Willen weiterzuleben. „Bei mir wird der Ofen auch bald aus sein“, seufzte sie immer wieder. Irgendwann hatte Gloor sie gefragt: „Mutter, willst du mir einen Auftrag zum Sterben geben? “ Die Mutter sagte Ja. Armin Gloor fragte noch einmal. Sie sagte wieder Ja. Da erkundigte er sich bei Exit nach den Voraussetzungen für die Sterbebegleitung. Seine Mutter erfüllte die Kriterien. Sie erhielt die nötigen ärztlichen Atteste. Eine der Bedingungen, die Exit nennt, ist die „Dauerhaftigkeit des Todeswunsches “. Um diesen zu prüfen, empfahl der Exit-Berater, ein festes Sterbedatum zu setzen. „Sterben ist eine Anstrengung “, erklärte der Sterbehelfer. „Es braucht immense Energie. Wenn der Sterbewunsch nicht nur eine Pose sein soll, sondern dauerhaft und ernst zu nehmen sei, dann muss man das prüfen. Dafür braucht man ein festes Datum.“

Die Mutter entschied sich für den 17. April 2009. Den markierte sie in ihrem Kalender. Die Wochen bis zum Tode seiner Mutter beschrieb Armin Gloor als „herzzerreißend intensiv“. „Nie war ich so nah an meiner Mutter dran, mit Heulen, mit Lachen, mit Abschiednehmen. “ Beim Erzählen kamen ihm die Tränen.

Am Tag vor ihrem Tod ging sie in Zürich noch einmal zum Friseur. Das schwarze Seidenkleid, das sie trug, hatten sie einige Tage zuvor gemeinsam ausgewählt. Armin Gloors Mutter trank den Becher mit dem Gift an einem strahlenden Frühlingstag. Draußen blühten Kirschbäume. Ihr Sohn und seine Frau saßen neben ihr und hielten ihre Hand. „Etwas Friedlicheres als das Sterben meiner Mutter kann man sich nicht vorstellen“, sagte Gloor. „Keine Angst, kein lautes Geräusch, keine Schläuche, kein Schieben des Krankenbetts. Sie trank das, und wir schwatzten noch ein Weilchen. Dann fielen ihr die Augen zu. Wie bei Menschen im Zug, die vom Pendelverkehr müde werden.“

„Dreizehn Millionen, ja! Schöne Idee, dann könnte ich rumänische Arschputzer anstellen und sogar fürstlich bezahlen.“

Seitdem war Armin Gloor überzeugt, dass ein festes Datum hilft, wenn man vorhat zu sterben. Er hatte auch schon erlebt, wie es anders geht – als sich sein Bruder umbrachte. Kurt Gloor war vier Jahre älter als Armin, ein Künstler, der sich vom Grafiker und Plakatmaler zum Filmemacher entwickelt hatte. In den Siebzigern galt er als „leuchtender Stern“ des jungen Schweizer Kinos. Sein bekanntester Film heißt „Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner“. Er handelt von einem alten Mann, der in ein Heim abgeschoben werden soll. Die Karriere des Älteren verlief nicht geradlinig. 1987 verlor er sein Vermögen beim Börsencrash, drehte fortan Dokumentarfilme fürs Fernsehen. In den Neunzigern hatte er zunehmend mit Depressionen zu kämpfen. Armin versuchte ihm zu helfen, entwickelte ein verhaltenstherapeutisches Konzept für den Bruder. Es wirkte nicht. Kurt Gloor wies sich selbst ins Burghölzli ein, die psychiatrische Klinik der Universität Zürich. Nach einigen Tagen bat er seinen Bruder, ihn wieder abzuholen: „Wenn man noch nicht verrückt ist, wird man es hier“, sagte Kurt. Armin fuhr an einem Freitag zu seinem Bruder, ging mit ihm mittagessen, ermahnte ihn, abends noch einmal anzurufen. Kurt rief nicht an. Am nächsten Tag meldete sich die Polizei. Sie hatte Kurt an den Gleisen gefunden, in seiner Brieftasche ein Post-it-Zettel. Man möge seinen Bruder verständigen. 

Armin Gloor identifizierte die Leiche, überbrachte die Nachricht Kurts Frau und seiner Tochter. Dann seinen Eltern. Alle waren „völlig konsterniert“. Es war eine Erfahrung, die er seinen eigenen Hinterbleibenden ersparen wollte. Auch deshalb gab er sich mit der Organisation seines Todes große Mühe.

Fragte man Armin Gloor, ob seine Lebensmüdigkeit von Depressionen herrühre, antwortete er: „Ich war immer irgendwie depressiv. Ein Leben lang. Ich bin nicht so begabt fürs Glücklichsein. Das lag mir nie.“ Sein Tagebuch habe ihm stets gute Dienste geleistet, wenn das „Selbstmitleid“ zu groß wurde. „Eine klinische Diagnose Depression würde ich mir absprechen “, sagte Gloor. „Kneif dich in den Arsch, und los geht’s. Das wäre meine Therapie.“

„Als desillusionierter alter Sack“ glaubte er nicht mehr an Verliebtheit. Mögliche andere Gründe, die ihn hätten bewegen können, weiterzumachen? Ein Lottogewinn? „Dreizehn Millionen, ja! Schöne Idee, dann könnte ich rumänische Arschputzer anstellen und sogar fürstlich bezahlen. Dazu zwei, drei junge Damen engagieren, die alles für mich tun würden.“ Eine „machistische Luxusfantasie“ nannte Gloor das, nachdem er sie kurz in grellen Farben lustvoll ausgemalt hatte. „Spätestens am zweiten Abend“ würde ihm das keine Freude mehr bereiten können.

Die Frau, die ihn in seinen letzten Stunden begleitete, war seine Herzensfreundin. Eine ehemalige Studentin von ihm, noch mal zwanzig Jahre jünger als seine Ehefrau. Sie reisten gemeinsam. An die Oder-Neiße-Grenze oder ins Friaul. Sie fuhr Fahrrad. Gloor mit dem Auto hinterher. Sie redeten viel. Irgendwann weihte Gloor sie in seinen Plan ein. „Als er mich fragte, ob ich ihn begleite, war das kein Schock, sondern ein Vertrauensbeweis “, sagt sie. Sie hat nicht versucht, ihn umzustimmen. „Das ist seine Entscheidung. Er will das. Die Vorstellung, dass er bedürftig werden könnte, ist für ihn eine schreckliche.“

Die Menschen, die Armin Gloor vielleicht am nächsten standen, schienen seine Entscheidung zu verstehen. Weil sie fanden, dass sie zu ihm passt. Um sie zu akzeptieren, mussten sie sich von ihm trennen wie seine Frau, Distanz wahren wie sein ältester Freund oder ihm vertrauen wie seine Herzensfreundin. Keiner hat versucht, ihn umzustimmen.●

Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. 

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