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N° 86, Müde

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Der Körper meiner Mutter

Was macht so ein Arbeitsleben mit einem Menschen? Die italienische Fotografin Eleonora Agostini hat darauf eine Antwort gesucht – und ihre Mutter, die über Jahrzehnte als Kellnerin gearbeitet hat, genaustens studiert

Von Bodo Wengefeld

Hinaus in den Gastraum, Lächeln an. Rein in die Küche, Lächeln aus. Tablett zum Tisch bringen, Lächeln an, leeres Tablett zurück, Lächeln aus. Wie oft hat Eleonora Agostini als kleines Mädchen ihrer Mutter dabei zugeschaut, wie sie im familieneigenen Restaurant die Gäste bediente. Wie sie viele Stunden auf den Beinen stand, immer bemüht, den Menschen zu Diensten zu sein, auch wenn’s manchmal wehtat. „Ihre Freundlichkeit hat mich manchmal irritiert“, sagt Agostini. „Diese Fähigkeit, nahtlos zwischen den Emotionen zu wechseln, von Ärger zu Höflichkeit, von Wut zu Freude.“ 

Jahre später, Agostini hatte mittlerweile in Mailand und London Fotografie studiert, nahm sie sich dieses Teils der Familiengeschichte an. Sie sichtete Bilder von früher, sortierte Schnappschüsse aus dem Restaurant und stellte ihre ganz eigenen fotografischen Studien an: Nahaufnahmen von Händen, Armen und Füßen ihrer Mutter, von den Spuren eines Körpers, der jahrelang hart gearbeitet hat. Dazu Ganzkörperporträts – ihre Mutter nackt, die üblichen Posen einer Kellnerin einnehmend.

„A Study on Waitressing“ ist nicht nur ein persönliches Werk der Tochter über ihre Mutter, sondern eine vielschichtige Auseinandersetzung mit den zahlreichen Rollen, die Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten einnehmen. Wie prägt uns unser Beruf und unser Alltag im physischen und psychischen Sinn – und vor allem: Wie hängt das mit unserem Geschlecht zusammen? Wo ist die Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Körper? Fragen, die sich für Frauen – aufgrund der besonderen gesellschaftlichen Erwartung an sie – noch mal ganz anders stellen. Schließlich ist der Gastraum immer auch Bühne, auf der sich die Kellnerinnen präsentieren. Und auf der Grandezza möglich ist, aber gleichzeitig auch Demütigung lauern kann. 

Agostini hat ihre Mutter Posen einnehmen lassen, die ihr im wahrsten Sinne des Wortes in Fleisch und Blut übergegangen sind
Auftritt La Mamma: Die Fotografin hat für ihre Arbeit neue Bilder mit alten aus den Familienalben kombiniert
Immer nur lächeln: Der strahlende Ausdruck ihrer Mutter hat Agostini durch ihre Kindheit begleitet
Standfest: Die Arbeit als Kellnerin spiegelt sich auch an den Füßen wider

Mehr Bilder von Eleonora Agostini gibt es im neuen DUMMY zum Thema „Müde“

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