Das verratene Kind

Vor 50 Jahren wurde der DDR-Spion Günter Guillaume enttarnt. Sein Opfer war nicht nur der Bundeskanzler Willy Brandt, sondern auch sein Sohn

Von Markus Jauer

(Aus DUMMY Nr.12, „Osten“, Herbst 2006; neu editiert 1/24)

Wenn alles anders gekommen wäre, hätte Pierre Boom in Bad Godesberg Abitur
gemacht, wäre wie seine Eltern in die SPD eingetreten, und manchmal
hätte er sie in dem südfranzösischen Sommerhaus besucht, in das sie sich
nach der Pensionierung zurückziehen wollten. Wenn alles anders gekommen
wäre, dann hätte er die Wahrheit über sie nie erfahren, und er würde heute
auch nicht Pierre Boom heißen sondern immer noch Pierre Guillaume.
Aber es kam ja nicht anders. Es kam so.

Am 27. April 1974, einem Mittwoch, wird er kurz nach halb sieben von
einem Lärm geweckt. Am Abend hatte er mit Freunden gefeiert, seit einigen
Tagen ist er siebzehn, es war spät geworden, aber noch sind Ferien. Er dachte,
er kann ausschlafen. Nun hört er fremde Stimmen aus der Wohnung, und
im Fenster spiegelt sich das Blinken eines Blaulichts.
Die Guillaumes wohnen in einem Mehrfamilienhaus, Bad Godesberg,
Ubierstraße 107. Vor vier Jahren sind sie aus Frankfurt am Main hierhergezogen.
Günter Guillaume hat sich ins Bundeskanzleramt hochgearbeitet, er ist Referent von
Willy Brandt. Seine Frau Christel bewirbt sich gerade um eine Stelle im
Verteidigungsministerium. Beide sind sie unauffällige Leute,
Staatsdiener eben. Pierre ist ihr einziges Kind.

„Wie Sie unschwer feststellen konnten,
hat hier eben die Festnahme Ihrer Eltern stattgefunden.“

Er steht auf, geht zum Fenster, auf der Straße stehen Polizeiwagen und
Männer mit Maschinenpistolen. Er geht zur Tür, öffnet sie und sieht seinen
Vater im Flur, an der Tür zum Schlafzimmer, er trägt seinen gestreiften Bademantel
und unterhält sich mit Männern in dunklen Anzügen. Mehr sieht er
nicht. Dann drängt ihn einer der Männer zurück. „Bitte bleiben Sie in Ihrem
Zimmer!“ Also schließt er die Tür, setzt sich auf das Bett und wartet.
Kurz darauf werden die Eltern hereingebracht. Sein Vater nimmt ihn wortlos
in den Arm, seine Mutter sagt, er solle sich keine Sorgen machen. Dann
führt man sie ab, und ein Mann, der einen Dienstausweis des Bundeskriminalamtes
in der Hand hält, sagt zu ihm: „Wie Sie unschwer feststellen konnten,
hat hier eben die Festnahme Ihrer Eltern stattgefunden.“ Es ist der Moment,
in dem das Leben, wie Pierre Guillaume es kannte, zu Ende ging.

Wenn man ihn über 30 Jahre nach der Enttarnung fragte, wie er seine Eltern bis
dahin sah, und ob das irgendwie passte zu dem, was er danach über sie erfuhr, musste er lange
überlegen. Im Grunde brachte er es noch immer nicht richtig zusammen.
Er saß damals in einem Büro in Berlin, Schöneberg, Hinterhaus. Er hatte eine
PR-Agentur, es lief gut, er machte Broschüren für Ministerien und das Europaparlament,
sie füllten die Regale und seinen Schreibtisch. Er war ein großer, schlanker Mann,
damals Ende vierzig, mit dunklen Augen und einem Blick, der seltsam nach innen fällt.
Er ähnelte seinem Vater gar nicht.
Es gibt diese Fotos von Günter Guillaume, wie er auf einer Konferenz
ist, einem Parteitag, einer Reise, vorn Willy Brandt, der Bundeskanzler, dahinter
er, ein kleiner Mann mit Brille. Er flüstert ihm etwas ins Ohr, er legt ihm
eine Mappe hin, er läuft hinter ihm her. Lange, nachdem sie aufgenommen
wurden, werden diese Fotos um die Welt gehen.

„Da sind Sie auf einen Scherz meines Vater reingefallen“

1956 kommen Günter und Christel Guillaume in die Bundesrepublik.
Der Legende nach sind sie aus der DDR geflohen, ihrem Auftrag nach sind
sie Kundschafter. Das Ministerium für Staatssicherheit hat sie geschickt, beide
sollen sich um die SPD kümmern. Doch während sie bald als Sekretärin
im Vorzimmer der hessischen Staatskanzlei sitzt, hängt er noch in irgendeinem
Unterbezirk fest. 1970 schafft er es ins Kanzleramt, Verkehrsminister
Leber empfiehlt ihn, Guillaume hatte ihm den Wahlkampf organisiert, nun
organisiert er Brandt die Reisen. Das Bundeskriminalamt wird lange nicht
auf die Guillaumes aufmerksam. Erst ein Treffen mit einer Agentin, die überwacht
wird, verrät sie.
Als man Günter Guillaume in der Wohnung festnimmt, enttarnt er
sich selbst. „Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier“, sagt er.
„Da sind Sie auf einen Scherz meines Vater reingefallen“, sagt Pierre
Guillaume, als er den Satz einige Stunden später von einem
Bundeskriminalbeamten hört. „Er hat sich schon so bezeichnet, bevor
man ihm überhaupt erklärt hat, was man ihm vorwirft“, antwortet ihm der Mann.

Das Bundeskriminalamt durchsucht die Wohnung, nimmt sogar Pierres
Musikkassetten mit, holt seinen Deutschaufsatz aus der Schule. Am
nächsten Tag stehen Reporter vor der Tür. Ständig klingelt das Telefon. Alle
haben nur Fragen, aber Fragen hat er selbst. Er ist ein 17-Jähriger, dessen Eltern
als Spione verhaftet wurden. Erst später hat er erfahren, dass Rut Brandt
versucht hat, ihm zu helfen, aber offenbar durfte sie es nicht. Sie war die
Frau des Bundeskanzlers, des zurückgetretenen Bundeskanzlers um genau
zu sein. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sich damals jemand
aus dem Westen um ihn gekümmert hätte, aber aus dem Westen kümmerte
sich niemand um ihn.
Als Pierre Guillaume die Eltern zum ersten Mal im Gefängnis besucht,
darf er nicht fragen, ob sie wirklich Spione waren. Der Bundeskriminalbeamte,
der dabei sitzt, verbietet es ihm. Er erfährt nichts von dem, was er wissen
will, und so wird es bleiben, jahrelang. Der Anwalt, der seine Eltern betreut,
ist der einzige, der sie allein sprechen kann, darum vertraut er ihm. Eines Tages
erzählt ihm der Anwalt, es sei der ausdrückliche Wunsch seines Vaters,
dass sein Sohn die DDR besuche, das Land, aus dem die Guillaumes stammen.
Allerdings, sagt er, dürfe er mit niemandem darüber reden.

In den folgenden Monaten besucht Pierre Guillaume mehrmals die DDR.
Die Verwandten bemühen sich um ihn, zeigen ihm Ostberlin und Rostock,
zelten an der Ostsee. Sie scheinen stolz auf seine Eltern zu sein. Zum ersten
Mal hört er etwas von „unserer Sache“. Sie ist etwas, für das sich alle hier begeistern
und das offenbar auch seine Eltern überzeugt hat.
Natürlich sieht er, dass das Land grau ist, dass in den Kaufhäusern „Jugendmode“
verkauft wird, die er nie anziehen würde, und auf dem Zeltplatz
wundert ihn, dass plötzlich alle losrennen, wenn es heißt, es gebe frische
Wassermelonen. Aber gut, er will ja nicht hier leben.
„Warum eigentlich nicht?“, fragt ihn der Anwalt, als Pierre wieder zurück
ist. Seine Eltern würden bald ausgetauscht, dann könne er im Osten
wieder mit ihnen zusammen sein. Sie würden es nicht verstehen, wenn er
im Westen bliebe. Außerdem gingen hier langsam die Ersparnisse zur Neige.
Zuerst fragt der Anwalt nur, dann stellt er ein Ultimatum.
Pierre Guillaume weiß nicht, was er tun soll. Seine Eltern kann er nicht
fragen. Immer steht entweder ein Bundeskriminalbeamter zwischen ihnen
oder der Anwalt, und seine Schulfreunde können ihm nicht helfen, sie sind
ja auch erst 17.
Wenn man ihn damals, im Spätsommer 2006 fragte, ob er freiwillig in die DDR
gegangen sei, kann er das schwer sagen. Er wusste, dass er seine Eltern,
so lange sie im Westen im Gefängnis saßen, weiter besuchen kann, aber er
wollte ihnen in den Osten vorausgehen. Bisher hatte er es nicht so gesehen,
dass die ganze Welt in Ost und West geteilt war und jeder sich entscheiden muss, aber
vielleicht war das wirklich so, dann musste er es eben auch.

Bei der Psychotherapie begegnet er Stasileuten, die Angst haben, ihre Arbeit nicht gut genug zu machen

Beim nächsten Besuch in Ostberlin bleibt er bei den Verwandten. Es
ist alles vorbereitet. Er geht auf die Erweiterte Oberschule, ein Aufnahmeantrag
für die FDJ liegt auf dem Tisch, er tritt zum Fahnenappell an. Er merkt,
dass das Wort „Diskussion“ hier bedeutet, dass jeder die Meinung des Lehrers
wiedergibt, aber nicht die eigene, so wie am Gymnasium in Bad Godesberg.
Er findet keine Freunde, weil jeder ihn schon beurteilt, sobald er seinen
Namen nennt, Guillaume. Er fängt an, die Schule zu schwänzen, fährt
S-Bahn, stundenlang.
Die Stasi besorgt ihm eine Wohnung in einem Plattenbauhochhaus. Regelmäßig
schauen Betreuer vorbei und fragen, wie es läuft. Als er die Schule abbricht,
bringen sie ihn in einer Druckerei unter. Als er dort keine Lehre machen will,
verschaffen sie ihm einen Platz an einer Fachhochschule für Gestaltung.
Als er merkt, dass ihm das Talent zum Zeichnen fehlt und als er sich
wochenlang in der Wohnung einschließt, schicken sie ihn zur Psychotherapie.
Die Sitzungen finden in der Klinik des Ministeriums statt. Er sitzt
in einer Gruppe mit Männern, die Probleme mit ihrer Arbeit bei der Stasi
haben. Einige fürchten, sie nicht gut genug zu machen, andere halten es
nicht aus, sie ständig vor ihren Familien verschweigen zu müssen. Er geht
ein Mal hin, dann nicht mehr.
„Du hast keine Probleme mit unserem Land“, sagen seine Betreuer, „Du
hast Probleme mit dir selbst.“

Der Sohn mit dem „fremden Vater“ im Schlauchboot

Wenn er in den Westen fährt, um die Eltern im Gefängnis zu besuchen,
erzählt er ihnen davon nichts. Er fragt sie nicht nach ihrer Wahrheit,
sie nicht nach seiner. So werden sie einander fremd.
In dieser Zeit hat er eine Freundin, sie ist siebzehn Jahre älter und die
Halbschwester von Markus Wolf, dem Chef der Auslandsspionage. Er hat sie
bei der Zeitschrift kennen gelernt, bei der er ein Praktikum als Fotograf machte.
Sie versteht ihn, sie ist in Kuba aufgewachsen und mochte die Sonne dort, die
DDR macht sie traurig. Sie trinkt zu viel und nur Monate, bevor die Mauer
fällt, wird sie von einem Hochhaus springen.
„Lass diese Reisen sein“, sagt sie, „das tut Dir nicht gut.“
Das ist der Moment, in dem Pierre Guillaume entscheidet, ein eigenes
Leben zu führen.
Er sagt seinem Betreuer, dass er von der nächsten Reise in den Westen
nicht zurückkehren will. Er weiß, dass er ihn dann nicht wieder fahren lässt.
So ist es auch. Ab jetzt gilt die Mauer auch für ihn. Es soll die letzte Entscheidung
sein, die die Stasi für ihn trifft.
„Im Grunde war ich fertig mit der DDR“, sagte er später, „aber für meine Eltern
bin ich geblieben.“
Er fängt als Hilfsarbeiter in einer Druckerei an, drei Schichten. Er will
nicht mehr der Sohn der Kundschafter sein, er will sein wie alle anderen.
Er nimmt kein Geld von der Stasi mehr an, keine Geschenke, keine Betreuung.
Es ist 1980, er ist jetzt 23 Jahre alt. Im Jahr darauf kommen seine Eltern
frei. Sie werden ausgetauscht gegen acht Agenten und 3.000 DDR-Bürger,
die in den Westen ausreisen dürfen. Markus Wolf empfängt Günter und
Christel Guillaume in seinem Gästehaus, Kameras halten die Szenen fest, sie
sind alle gestellt, das Ministerium dreht einen Propagandafilm. „Auftrag erfüllt“,
wird er heißen.
„Willkommen daheim“, sagt Markus Wolf.

Pierre Guillaume sieht, wie sein Vater es genießt, im Mittelpunkt zu stehen,
seine Mutter wirkt versteinert. Sieben Jahre hatten die beiden getrennt im
Gefängnis gesessen. Jetzt finden sie nicht wieder zusammen. Am Tag seiner
Rückkehr hat sich Günter Guillaume in die Krankenschwester verliebt, die
ihn für die Stasi untersuchte. Die Guillaumes werden sich scheiden lassen. Die
Familie, für die ihr Sohn in den Osten gegangen war, gibt es nicht mehr.
Ein paar Tage später fährt Pierre Guillaume mit seinem Vater durch
Ostberlin. Sie sitzen in seinem neuen Trabant. Sie sind allein, sie können reden.
Jahre zuvor hätte Pierre Guillaume vor allem wissen wollen, was seine
Eltern getan haben, das hatte er sie im Gefängnis nie fragen können. Jetzt
will er vor allem sagen, dass sie es für den falschen Staat getan haben. Er
fährt durch Straßen mit verfallenen Häusern, fährt zur Mauer, zum Ministerium,
diesem riesigen Komplex. Er hofft, dass seinem Vater die Augen aufgehen
und dann das Herz.
„Ich habe erst später begriffen, dass er genau davor Angst hatte“, sagt
Pierre Boom im Rückblick.

Für das damalige DUMMY-Layout fotografierte Ute Mahler Pierre Boom in Kreuzberg


Vielleicht wäre einiges anders gekommen, hätte Günter Guillaume damals
an seinen Sohn geglaubt und nicht an den Staat, aber das konnte er
nicht. Er hatte sich für den Staat einsperren lassen, jetzt wollte er die Anerkennung
dafür. Günter Guillaume wird befördert, bekommt den Karl-Marx-Orden und
tritt vor Stasioffizieren auf. Seine Frau, die nach der Scheidung ihren Mädchennamen
Boom angenommen hat, tut es ihm gleich. Es ist so eine Art Tournee, und die
Betreuer hätten es gern gesehen, wenn auch der Sohn dabei wäre, darum zeigen
sie ihm den Propagandafilm, der eigentlich geheim ist.
Es gibt in dem Film eine Stelle, in der erzählt Christel Boom, dass sie
sich damals „im Operationsgebiet“ sofort einen Beruf suchen sollte. „Die Realisierung
dieses Plans“, sagt sie, „wurde jedoch dadurch verzögert, dass ich
feststellen musste, dass ich ein Kind erwartete.“
Der Satz trifft Pierre Guillaume, aber er wirft ihn nicht um. Er hat inzwischen
sein eigenes Leben. Er ist Fotograf, hat eine Frau, sie bekommen zwei Söhne und
wollen nicht, dass sie in der DDR aufwachsen. Es gibt nichts, was sie hier hält.
1988 stellen sie den Ausreiseantrag.
Als seine Mutter davon hört, versucht sie zu helfen und spricht beim
neuen Chef der Auslandsspionage vor. Als sein Vater davon hört, sagt er, er
sehe seinen Sohn lieber im Gefängnis als im Westen. Es kommt zu einem
letzten Gespräch, aber sie schweigen einander nur an, irgendwann beginnt
sein Vater leise zu summen. Es ist sinnlos. Innerhalb von Wochen stimmt die
Stasi der Ausreise zu, aber nur unter einer Bedingung: Der Name Guillaume
bleibt da. Man will kein Aufsehen. Erst als die Familie umbenannt ist, darf
sie gehen, und so kehrt Pierre Guillaume als Pierre Boom in die Bundesrepublik
zurück. 17 Monate später fällt die Mauer.

Pierre Boom hat seinen Vater danach noch einige Male gesehen, oft war
es Zufall, sie haben nie richtig miteinander geredet. Von der Beerdigung 1995 erfährt
er durch einen Journalisten. Er ist nicht eingeladen. Als er später zum
Grab geht, liest er darauf den Familienamen der Krankenschwester, die sein
Vater geheiratet hatte. Auch der Spion hieß am Ende nicht mehr Guillaume.

Er hat einige Zeit nach der Wende angefangen, ein Buch zu schreiben.
Er hat Akten gelesen, Stasileute befragt, Freunde, seine Mutter. Sie war so
offen zu ihm, wie jemand sein kann, der das Verstecken gelernt hat. Sie hat
viel erzählt, was er nicht wusste, alles wird er nie erfahren. 2004 ist sie gestorben,
aber sie hat noch erlebt, wie das Buch herauskam. Es heißt: „Der fremde Vater“.

Das Bedauern, dass ihm dieser Vater fremd blieb, hatte er sich bald abgewöhnt.
Er fragte sich nicht mehr, wie es hätte sein können, wenn alles anders gekommen wäre.
Es war schwer genug herauszufinden, wie es alles war.


Dieser Text erschien 2006 in DUMMY-Osten, er wurde neu editiert im Januar 2024. Seit 2009 lebt und arbeitet Pierre Boom als Journalist auf Sylt

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