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N° 84, Nerven

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Das glaube ich auch

Über einen Mann, der sehr gut von Verschwörungstheorien lebt

Von Anina Ritscher

Ein groß gewachsener Mann steht in Sommerhemd und Rucksack in der Innenstadt Berlins. Um ihn drängen sich Menschen und tragen Schilder, auf denen steht „Gib Gates keine Chance!“. Es ist der 1. August 2020, und mehrere Tausend Menschen haben sich hier versammelt, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. 
Viele sind überzeugt, dass Politiker und Konzernchefs manipulieren und lügen, dass Corona erfunden oder übertrieben wird. Wahlweise sehen sie Bill Gates, die „Mainstreammedien“ oder die Rothschilds als Drahtzieher der Weltgeschicke. Auf jeden Fall: die da oben. 
Vielleicht wollte der Mann in der Menge unerkannt bleiben. Seine Fans haben ihn dennoch entdeckt. Sie bilden eine Menschentraube um ihn, hängen an seinen Lippen, nicken zustimmend, machen Selfies mit ihrem Idol. So ist es später auf unzähligen Handyvideos zu sehen. 
Jetzt, wo ein unsichtbares Virus die Welt in Bann hält, haben Propheten und Verschwörungsideologinnen besonders viel Zulauf. Doch der Mann in der Menge ist anders. Seine Fans nennen ihn stets „Dr. Daniele Ganser“. Seine Kritiker nennen ihn einen Verschwörungstheoretiker. 
Ganser publiziert Bücher über das „Imperium USA“ und die „illegalen Kriege der NATO“ und hält Vorträge mit dem Titel „Können wir den Medien vertrauen?“. Reichsbürger lieben ihn, aber auch linke Zeitungsverleger, Antisemiten, aber auch Friedensaktivisten. 
Wer ihn zu fassen versucht, dem zerrinnt er zwischen den analytischen Kategorien: knapp vorbei am Image des durchgeknallten Verschwörungsmythologen. Von einer Reputation als anerkannter Forscher ist er jedoch auch weit entfernt. Ist Ganser ein echter Subversiver, der gegen die da oben kämpft? Oder ein geschickter Demagoge, der das Publikum unten im Saal belügt? 

I. 
Daniele Ganser steht in einem Seminarraum der Uni St. Gallen. Es ist Herbst 2012, und die Studierenden lieben seinen Kurs zur Zukunft der Energiegewinnung. Sie lieben sein charismatisches Auftreten, aber vor allem seine Präsentationen, die er mit emotionalen Geschichten und witzigen Pointen spickt. Gansers Vorlesungen sind so beliebt, dass einige aufgezeichnet und auf YouTube hochgeladen werden. „Die Unis werden mit Steuergeldern finanziert, also sollen die Inhalte auch allen zugänglich sein“, sagt er. Oder: „Mich inspirierten Mahatma Gandhi und Sophie Scholl.“ 
Der 1972 geborene Basler legte eine solide akademische Karriere hin: Studium und Promotion an der Universität Basel, Forschungsprojekt an der ETH Zürich, Berater für ein Bundesamt und einen Thinktank. Mit den Mächtigen geriet er schon früh aneinander. Insbesondere interessieren ihn geheime Machenschaften der NATO und der US-Geheimdienste. 
Gansers Doktorarbeit dreht sich um Geheimarmeen der NATO im Kalten Krieg und erscheint 2008 als Buch. Damit kommt er besonders in linken Kreisen gut an. Noam Chomsky schreibt eine begeisterte Rezension. Die „taz“ findet, das Buch sei „gründlich recherchiert“ und „wohltuend nüchtern“. Spätere Bücher tragen die Titel „Illegale Kriege“ und „Die Welt im Erdölrausch“. Beide werden Bestseller. Ganser wird zu dieser Zeit manchmal vom Schweizer Fernsehen als „Experte für verdeckte Kriegsführung“ eingeladen, Zeitungen bezeichnen ihn als „angesehenen Historiker“ und verweisen auf seine Forschung. 
Doch Gansers Karriere beginnt früh zu bröckeln. Von der ETH Zürich fliegt er 2006, nachdem er einen Artikel veröffentlicht hat, in dem er die These aufstellt, der Terroranschlag vom 9. September 2001 könnte eine von der US-Regierung geplante Operation gewesen sein. Die Uni Basel lehnt sein Vorhaben zur Habilitation 2008 ab, weil es keinen wissenschaftlichen Standards genüge – und lädt ihn bald nicht mehr als Dozenten ein. Selbst sein Doktorvater wendet sich irgendwann ab. 
Im Seminarraum in St. Gallen 2012 interessiert das noch niemanden. Zu unbekannt ist Ganser und zu beliebt sein Kurs. Das wird sich erst 2017 ändern.

II. 
Es ist Herbst 2014, und Bill Heidenreich steht auf dem Jorge-Gomondai-Platz in Dresden. Hier organisiert er die erste „Mahnwache für den Frieden“ der Stadt. Er stellt ein Mikrofon bereit, trommelt Mitdemonstrierende zusammen, redet mit den Menschen, die erschienen sind. Sie sind hier, um sich gegen einen vermeintlichen US-Angriffskrieg einzusetzen und Frieden mit Russland zu fordern. Denn kurz zuvor war in der Ukraine der Krieg ausgebrochen, der die Öffentlichkeit spaltete: Die einen sehen Russland als Aggressor, die anderen als Opfer. 
Es ist auch die Zeit, in der Anhänger der islamfeindlichen Organisation Pegida erstmals durch die Straßen Dresdens laufen und „Lügenpresse“ skandieren, als immer mehr Menschen den öffentlich-rechtlichen Sendern und den großen Zeitungen zu misstrauen beginnen. Wäre die Stimmung damals nicht so gekippt – Ganser wäre vermutlich als gescheiterter Wissenschaftler in der Versenkung verschwunden. 
Auch der Politikstudent Heidenreich bekommt zu dieser Zeit das Gefühl, dass die Medien einseitig über den Konflikt berichten. „Russland wurde in den Mainstreammedien als einziger Schuldiger dargestellt. Dieses Bild hat sich mir nach eigenen Recherchen nicht ergeben“, sagt er. Deswegen organisiert er die Mahnwachen, die zu dieser Zeit in ganz Deutschland stattfinden. Beobachter sind verwirrt über die Allianz aus Linksalternativen und Rechtspopulisten, Esoterikern und Friedensaktivisten, die sich dort wöchentlich versammeln. „Wir wollten den kleinsten gemeinsamen Nenner finden: Wir alle wollen Frieden“, sagt Heidenreich. 
Auch Antisemiten, Verschwörungsideologen und Rechtsextreme schließen sich den Mahnwachen an. Ihnen gefällt der Anti-Establishment-Ton. Der wegen antisemitischer Äußerungen gefeuerte RBB-Journalist Ken Jebsen ist ein gern gesehener Gast, genauso wie der rechte Publizist Jürgen Elsässer. Letzterer wettert in Redebeiträgen oft gegen die sogenannte „Finanzoligarchie“, die von „Soros, Rockefeller und Rothschild“ dominiert sei. Viele von damals finden sich mittlerweile zu Anti-Corona-Demos zusammen. 
Freunde versuchen Heidenreich anfangs noch von den Demos abzubringen, machen ihn auf deren Teilnehmer aufmerksam. Doch ohne Erfolg. Auf seine Fragen zur Geopolitik sucht er Antworten im Internet – und stößt irgendwann auf einen Vortrag von Daniele Ganser. „Mich überzeugte seine freundliche Art. Der Mann will wirklich Frieden“, erklärt Heidenreich. 
Im Zuge der Ukrainekrise stoßen immer mehr Leute auf Gansers YouTube-Videos. „Ohne YouTube könnte ich nie so viele Leute erreichen“, sagt Ganser heute. „Jederzeit schaut jemand ein Video von mir an, 24/7, auch in diesem Moment.“ 
Besonders unter dem Publikum der Friedensmahnwachen stößt Ganser auf Zuspruch, denn auch er bezeichnet den Ukrainekonflikt 2014 als „US-gesteuerten Putsch“, fragt „Können wir den Medien vertrauen?“ und verweist auf das russische Propagandamedium RT Deutsch und Jebsens KenFM – die ihn im Gegenzug gern interviewen und seine Vorträge verbreiten. 
Aber nicht nur seine Vorträge, auch Gansers Art weckt bei seinen Fans Vertrauen. Stets im lockeren Hemd und mit offenem Lächeln im braun gebrannten Gesicht federt er durch den Raum. Nie zeichnet sich ein Runzeln auf seiner Stirn ab. Auf konfrontative Fragen reagiert er immer mit einem Schmunzeln. Ganser könnte sich entweder auf einer Bühne oder auf einer Familienfeier befinden. 
Auch deswegen wird er ab 2014 immer öfter als Redner für öffentliche Veranstaltungen gebucht. Mit seinen Vorträgen tourt er durch den deutschsprachigen Raum. Immer sind sie ausverkauft, oft werden sie gefilmt und ins Internet gestellt. Ganser wird als der, der es „denen da oben“ endlich mal zeigt, zur Berühmtheit. 
Sein pièce de résistance ist der Vortrag über 9/11, der zum viralen Hit wird. Jede Pointe sitzt. Jeder Witz kommt im richtigen Moment. Bei einem Bild der Bush-Administration sagt er: „Sieht ein wenig aus wie die Mafia.“ Das Publikum lacht. Nachdem er nur Hinweise auflistet, die seine Theorie vermeintlich stützen, sagt er: „Jetzt müssen Sie selbst nachdenken.“ Tosender Applaus. 
2014 spricht er auf dem „Anti-Zensur-Kongress“ des Sektenführers Ivo Sasek über „verdeckte Kriegsführung“. Der AZK bietet auch Holocaustleugnern eine Plattform. In einem anschließenden Interview sagt Ganser: „Die Leute hier sind wirklich gegen den Krieg. Ich bereue nicht, dass ich mit ihnen geredet habe.“ Heute erklärt er, dass er den Auftritt nicht wiederholen würde. 
Gansers akademische Laufbahn ist 2014 fast vorbei. Nicht nur seine unbelegten und zum Teil wilden Theorien zu 9/11, zur Ukrainekrise oder zum Anschlag auf „Charlie Hebdo“ („Könnte eine Operation unter falscher Flagge sein“) werden kritisiert. Auch Gansers Bücher schaden seinem Ruf. Er stützt sich darin an unzähligen Stellen auf Zeitungsartikel von selbst ernannten Alternativmedien wie „Nachdenkseiten“ und „Zeitpunkt“. „Damit die These flutscht, hat er Teilaspekte ausgeblendet“, sagt Gansers früherer Weggefährte. 
Der Historiker und ehemalige Kollege Gansers an der Universität Basel, Lucas Burkart, erklärt: „Ganser stellt keine Thesen im wissenschaftlichen Sinn auf, weil die müsste man belegen können. Er stellt Fragen, sucht willkürliche Hinweise und impliziert, irgendwas stecke im Hintergrund. Was genau, bleibt diffus. Dennoch ist es für sein Standing zentral, seinen Aussagen die ‚Aura der Wissenschaftlichkeit‘ zu verleihen.“ Der Experte für Verschwörungsideologien Michael Butter nennt das die „Ich stelle ja nur Fragen“-Strategie – eine besonders geschickte Manipulation, weil sie die Zuschauer glauben lässt, sie seien selbst zu einem Schluss gekommen. „Ganser ist entweder ein Getriebener oder ein brillanter Geschäftsmann“, so Butter. 
2017 wird Gansers gescheiterte Karriere zu seinem besten Verkaufsargument – und er zum ungekrönten Star der Verschwörungsszene. In einer Ausgabe der Talkshow „Arena“ des Schweizer Fernsehens wird Ganser im Februar 2017 vom Moderator öffentlich als zweigesichtiger Demagoge entlarvt: Während er auf Twitter über einen Beitrag des Schweizer Fernsehens herzieht, lobt er ihn in einer privaten Mail an die Redaktion. Ganser ist außer sich: „Sie haben etwas weggeschnitten!“ Der Moderator unterbricht, blickt nun direkt in die Kamera: „Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, Daniele Ganser erzählt etwas, was nicht korrekt ist.“ 
III. 
Kurz nachdem die „Arena“ ausgestrahlt wird, verliert Ganser seinen letzten Lehrauftrag an der Uni St. Gallen. Zwar muss sich das Schweizer Fernsehen für den überraschenden Angriff entschuldigen – trotzdem behält der Moderator mit seiner Anschuldigung recht. Gansers akademische Laufbahn ist zu Ende. Seine Karriere als Lichtgestalt der Verschwörungsszene hingegen hat gerade erst begonnen. 
Denn was Gansers Ansehen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft endgültig untergräbt, verleiht ihm bei seinen Fans noch mehr Glaubwürdigkeit. Es gründen sich mehrere Facebook-Gruppen, um Solidarität mit Ganser zu bekunden. Einer schreibt: „Bringen Sie das Lügengebäude zum Einstürzen, die Zuneigung der Wahrhaftigen und Selbstdenkenden ist Ihnen mehr als gewiss.“ 
Gansers Name wird nach 2017 doppelt so oft gegoogelt wie zuvor. Sein Buch, das im selben Jahr erschienen war, wird zu einem Bestseller. Auch auf Social Media ist er ein Star mit über 100.000 Facebook-Followern. Seit 2017 sitzt er im redaktionellen Beirat der Verschwörungsplattform „Rubikon“, die zurzeit Artikel veröffentlicht mit Titeln wie „Die fiktive Pandemie“. 
„Irgendwann hat der Drang zur Selbstdarstellung überhandgenommen. Irgendwann ging es Ganser darum, gehört zu werden, YouTube-Klicks zu bekommen und Bücher zu verkaufen“, meint Gansers ehemaliger Wegbegleiter. Je mehr Zuspruch er von seinem Publikum bekommt, desto mehr passt er sich ihm an. Einmal wirft er in einem Interview das Wort „Lügenpresse“ ein, ein anderes Mal redet er vom „T iefen Staat“. 
Beim Thema Klimaschutz muss er aufpassen: Als er vergangenes Jahr einen Facebook-Post zu Fridays for Future veröffentlichte, hagelte es Kritik. Jemand schrieb unter den Post: „Der erste Post von Ihnen, der mir gar nicht gefällt!“, jemand anderes postete ein Video des Neonazis Nikolai Nehrling zu Greta Thunberg – ohne Gegenrede. Seither äußert sich Ganser nicht mehr zum Klimaschutz. 
Bei anderen Themen lehnt er sich weit aus dem Fenster. So vermutete er zuletzt, die Aufstände in Belarus könnten eine geheime Operation der USA und der NATO sein, um Lukaschenko zu stürzen. Als Quelle gibt er einen Online-Artikel von RT Deutsch an. Als jemand in den Kommentaren darunter die Glaubwürdigkeit von RT anzweifelt, wird er mit Häme überschüttet. 
In einer Telegram-Gruppe mit dem Namen „Deutschlandtreff“, in der sich Reichsbürger und Rechtsextreme vernetzen, werden Gansers Vorträge rege geteilt. Dort kommt besonders Gansers Behauptung gut an, Deutschland sei seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA „besetzt“. Darauf angesprochen, sagt Ganser: „Telegram? Habe ich nicht.“

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