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N° 84, Nerven

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Meine drei Väter

Von Leyla Lewitt

Teil 1: Ferrari statt Anrufen – mein Erzeuger

Irgendwann fand ich mich einfach ab mit der Onkel-Nichte-Beziehung. Der Onkel, der ziemlich selten vorbeikommt, doofe, plumpe Bemerkungen macht und an Geburtstagen den Anruf vergisst. Wären wir nicht verwandt, würde dieser Onkel zu der Sorte Mensch gehören, mit der ich nach dem ersten Gespräch auf jedes weitere verzichten könnte. Aber Familie kann man sich schließlich nicht aussuchen. 

Und eigentlich ist das wirkliche Problem auch viel weitreichender: Denn obwohl es sich so anfühlt, ist der von mir beschriebene Mann nicht mein Onkel, sondern mein Vater. 

Es gibt diese Fotos von uns: wir zusammen auf einem Motorrad, in einem roten Ferrari und ich lachend auf seinem Schoß vor einem mit Lametta geschmückten Weihnachtsbaum. Wir sehen beide glücklich aus. Es scheint, als würden wir die perfekte Vater-Tochter-Beziehung leben, eine Beziehung, die ich später nur aus Filmen kennen werde. In meiner Erinnerung gibt es kaum innige Momente, stattdessen immer wieder das Gefühl, nicht perfekt genug für meinen Vater gewesen zu sein. Weil ich als Kind nicht höflich genug „Wie bitte?“ sagte, sondern „Was?“. Weil ich als junger Teenager keine besseren Noten mit nach Hause brachte und ich, als sich meine Leistungen in der Schule endlich besserten, zu dick wurde. Mein Vater möchte mit mir nämlich vor allem eins: angeben – mit meinem Zeugnis vor Kollegen, mit meinem Aus­sehen vor Freunden. Doch mit einer Sechs in Französisch und dicken Beinen war beides schwer möglich. 

Bei all diesen Erwartungen an mich sieht mein Vater sich selbst nur selten in der Verantwortung. Meine Nachhilfelehrerin lernte er nie kennen, bei meinem ersten Umzug in eine neue Stadt bot er mir nicht nur keine Hilfe an, sondern meldete sich gleich gar nicht mehr. Wahrscheinlich dachte ich mir deswegen noch nie in meinem Leben: „Jetzt kann mich nur noch mein Vater retten!“ Außer dem einen Mal, als in meiner ersten WG nach einer Party das Bad ver­schlos­­sen war. Am Telefon erklärte mir mein Vater, der selbst ernannte MacGyver 2.0, wie man einen Dietrich bastelt und eine Tür knackt. Es war der Höhepunkt unserer Beziehung.

Manchmal glaube ich, er war mit dem Vatersein überfordert. Vielleicht weil er seinen eigenen Vater selbst nicht oft sah. Mittlerweile glaubt er sogar, dieser sei gar nicht sein biologischer Vater, da er der einzige Blonde in einer Familie dunkelhaariger Jungs ist. Vielleicht auch, weil mein Vater kein Kind haben wollte und er meine Mutter, eine kurze Bekanntschaft, um eine Abtreibung bat. Vielleicht bereut er es noch heute, vor 28 Jahren kein Kondom gekauft zu haben. Mich lässt dieser Gedanke kalt, denn vor ein paar Jahren entschied ich mich, keine Trophäe mehr sein zu wollen, und minimierte den Kontakt auf eine „Frohe Weih­nachten!“-SMS. Wenigstens ein bisschen Austausch kann nicht schaden, dachte ich damals noch. Dieses Jahr werde ich keine schicken.

Teil 2: Camel & Weißbier – mein Stiefvater

Von einem auf den anderen Tag wohnte ich mit meiner Mutter bei ihrem Freund, ihrem jetzigen Mann, im Vorort. Bis heute sehe ich ihn vor meinem inneren Auge am Tischende sitzen – seinem Thron. Statt eines Zepters in der rechten Hand hielt er ein Weißbierglas und statt des Reichsapfels in der Linken klemmte zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger permanent eine Camel-Zigarette. 

Dass ich in seinem Haus nicht willkommen war, sondern nur geduldet wurde, machte er mir schnell klar. Im Märchen vom Aschenputtel zwang die böse Stiefmutter sie dazu, das Haus zu fegen und die Erbsen penibel von den Linsen zu trennen. Meine Linsen waren die Anti-Kalk-Flaschen, die mein Stiefvater mir regelmäßig reichte, um die Badewanne von unansehnlichen Rändern zu befreien. Kann man sich mit seinen Stiefeltern überhaupt gut verstehen, schließlich verändern sie eine eingespielte Dynamik? 

In meinem Fall brachte mein Stiefvater die bereits angeknackste Beziehung zu meiner Mutter zu Fall. Bevor wir zu ihm zogen, standen wir uns zwar nicht nahe, aber verstanden uns zumindest als Team, das gemeinsam versucht, das Leben zu meistern. In seiner Gegenwart war ich die Zielscheibe jeglicher Streitereien zwischen den beiden. Jeder Kratzer im Boden war von nun an meine Schuld und die steigenden Haushaltskosten ein Zeichen dafür, wie verschwenderisch ich sei. Plötzlich waren meine Mutter und er das Team und ich die Fünfzehnjährige, die den Fußboden ruinierte und Klopapier und Wasser im Überfluss benutzte. Mir wurde in dieser Zeit immer bewusster, dass ich weder Teil einer Familie noch einer neu gegründeten Wohngemeinschaft war. Stattdessen war ich die Putzfrau, die für Kost und Logis ein­gezogen war und ihrem Job nicht nachkam. Nach den Sommerferien gab es diese eine Autofahrt, während der mir meine Mutter erzählte, dass sie beide sich wieder gestritten hatten und sie sich nun von ihm trennen wolle. Erst konnte ich es nicht glauben, dann zeigte sie mir die Adresse einer neuen Wohnung, nur für uns beide. Und für einen kurzen Moment war unsere Dynamik zurück, wir waren wieder wir. Die Hausnum­mer der neuen Wohnung war die Zahl meines Geburtstags. In meiner kindlichen Naivität sah ich das als Zeichen und träumte schon von unserem neuen gemeinsamen Leben, überlegte mir bereits, welche U-Bahn ich auf meinem neuen Schulweg nehmen müsste. Doch bevor ich googeln konnte, welche Bahn mich pünktlich um kurz vor acht am Schultor ankom­men ließ, kam alles anders.

Sie ging nicht – also ging ich in der Mittagspause von der Schule nach Hause, packte meine große schwarze Stepptasche mit Kleidern, Röcken, Pullovern, Strumpfhosen, Unterhosen, Unterhosen und noch mehr Unterhosen. Ich drehte mich nicht um, als die Tür hinter mir zufiel. Wochen später ließen die beiden mir den Rest meiner Sachen, vor allem meine Bücher, zukommen. Ich öffnete den Karton und schloss ihn genauso schnell wieder. Jede einzelne Buchseite roch nach Zigarette.

Teil 3: Schnitzel und Scheine – mein Pflegevater

Was passiert mit Kindern, die nicht bei ihrem Vater wohnen können und nicht mit ihrer Mutter wohnen wollen? Das Jugendamt kümmert sich um sie, mir ging es nicht anders. Als ich meinen Pflegevater zum ersten Mal traf, dachte ich: „Er ist so alt, er könnte mein Opa sein!“ Ich erwartete beige Hosen und Werthers Original, Alte-Leute-Zeug eben. 

Tatsächlich lernte ich einen liebevollen Ersatz­vater kennen. Am Wochenende las er die „Süddeutsche Zeitung“ und gab mir das Magazin. Beim Kartenspielen schaute er lieber zu und amüsierte sich dabei über kleine Zänkereien zwischen mir und meiner Pflegemutter. Oder er klaute hinterlistig die Joker aus den Rommé-Karten. Nach einer Weile hörte ich ihn dann so sehr auf dem Sofa in sich hineinlachen, dass er nach Luft schnappen musste. Das war so gar nicht das Lachen eines älteren Herrn, sondern eher das eines Jungen. 

An eine Szene in unseren ersten gemeinsa­men Wochen erinnere ich mich noch gut. Wir waren in einem Restaurant essen. Verunsichert sprach ich kaum ein Wort, bestellte eine Kinderportion Wiener Schnitzel und bekam ein halbes paniertes Kalb serviert, das sicher vier Kinder gesättigt hätte. Mein Pflege­vater freute sich, er aß meine Reste so selbst­ver­ständ­lich zum Nachtisch wie ein Dessert. In Zukunft war mein Teller immer leer nach dem Essen, er vertilgte all das Fleisch, das ich nicht schaffte, ob Geflügel, Schwein oder Rind. Es war unsere erste gemeinsame Routine. Ich kenne niemanden, der mit so einer Hingabe über jegliche Art von Fleisch sprechen kann wie mein Pflegevater. Und das liegt nicht nur daran, dass ich und die meisten meiner Freunde uns mittlerweile vegetarisch ernähren.

Wenn ich meine Pflegeeltern heute besuche, steht er mit dem Auto am Bahnsteig. Und obwohl mir meine Pflegemutter nach dem Mittagessen und vor unserem Kartenspiel immer ein Kuvert mit Geld schenkt, steckt mir mein Pflegevater mit der letzten Umarmung noch ein paar Scheine zu. „Kauf dir etwas Schönes davon!“ Ich nehme an, er meint ein Steak, meistens wird es jedoch ein Kleidungsstück. 

Von all den Vätern in meinen Leben ist er der einzige, den ich vermisse, weil ich ihn wegen der über 600 Kilometer, die uns trennen, nicht oft sehen kann. „Es gibt nichts Schöneres, als mit Menschen zu sein, die sich aufrichtig darüber freuen, Zeit mit dir zu verbringen“, sagte mein Freund neulich. Ich denke, er hat recht. Denn jedes Mal, wenn ich aus der Bahn steige und in das grinsende Gesicht meines Pflegeva­ters sehe, weiß ich, ich bin einem dieser Menschen ganz nah. Man kann sich Eltern oder Väter nicht selbst aussuchen, heißt es, in meinem Fall stimmt es. Schließlich hat es das Jugendamt für mich getan.

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