Berlin wacht
Man glaubt ja nicht, was in der Hauptstadt nachts für ein Alarm gemacht wird. Gut, dass es hellwache Personen wie Sabine Berlin gibt, die dafür sorgen, dass wir alle gut schlafen können
Von Oliver Geyer; Fotos: Marzena Skubatz
„Achtung! Sektorengrenze!“ So ein historisches Schild aus Zeiten der Teilung hätte hier unten im Süden Berlins nahe dem U-Bahnhof Alt-Mariendorf auch heute noch seine Berechtigung. Denn hier, an diesem Ort, scheint die Stadt abrupt verändert. Urbanität weicht einem Siedlungsbrei aus gedrungenen Siebzigerjahre-Mietskasernen, Baumärkten, Tankstellen und Reihenhäusern in allen Farben und Klinkervarianten. Und dann wartet knapp dahinter noch eine handfeste Überraschung: ein richtig großes Industriegebiet. Hier in diesem Bezirk der Stadt wird tatsächlich produziert und echter ökonomischer Mehrwert generiert. Würde sich ein amerikanischer Neukölln-Hipster in diese Gegend verirren, er erschiene wie ein bunter Tropenvogel, der sich ins winterliche Sauerland verflogen hat.
Oft ist es nur eine Spinne, die den Alarm auslöst
Ebendiese Vielzahl an Gewerbegrundstücken aber ist es, wegen der Sabine Berlin jede Nacht gut zu tun hat und unentwegt ausrücken muss. Irgendwo heult hier ständig eine Alarmanlage los, die es wieder zu entschärfen gilt. Gelegentlich auch in den Privathäusern des wohlhabenden Bezirks Zehlendorf, der ebenfalls in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. „Oft ist es nur eine Spinne, die an der Linse der Überwachungskamera vorbeigekrabbelt ist“, sagt Berlin. Aber weiß man’s? Es könnten eben auch Einbrecher sein. Dass die aufgescheuchten Villenbesitzer nach dem Alarm meist ruhig weiterschlafen können, liegt an der unerschrockenen, nimmermüden Art von Sabine Berlin und ihren Kollegen und Kolleginnen vom Sicherheitsdienst Securitas. Mit dem Auto fahren sie an den Ort des Geschehens, schauen nach dem Rechten und verständigen im Fall der Fälle schnell die Polizei.
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten: Sabine Berlin ist ein Unikum. Zumindest fast. Denn die 44-Jährige ist eine von zwei Frauen in der Mariendorfer Zweigstelle des größten Security-Anbieters Deutschlands – von den insgesamt dreißig Mitarbeitern hier. An ihrer besonnenen Art, sich im Hintergrund zu halten und erst mal nur zu beobachten, deutet sich ihre besondere Eignung für den Job schon in Uwe Nagels Büro an. Der erfahrene Bereichsleiter erläutert gerade noch mal ganz grundlegend, wofür der Branchenriese aus Schweden steht, für den er seit dreißig Jahren arbeitet. Anhand der drei roten Punkte im Logo, die auch groß auf den bekannten Securitas-Fahrzeugen prangen: „Die symbolisieren unsere Werte. Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft.“ Jonas Timm, der junge PR-Verantwortliche bei Securitas Deutschland, sekundiert ihm mit weiteren Darlegungen. Da geht es um die Bedeutung dieser Branche, die kritische Infrastrukturen absichere, die nach strengen Normen arbeite und im Falle von Securitas viel Aufwand betreibe, um die Mitarbeitenden zu qualifizieren. Um nur vertrauenswürdige Leute zu bekommen, schaue man nicht nur auf das polizeiliche Führungszeugnis. Nein, Securitas unterziehe Bewerber einer strengen behördlichen Sicherheitsüberprüfung, bei der Auskünfte von der Polizei und dem LKA eingeholt werden. Und: „Eine gewisse Belastbarkeit muss natürlich auch gegeben sein angesichts der vielen Nachtschichten, die von zwanzig bis sechs Uhr gehen.“
Sabine Berlin, auf das Thema Müdigkeit angesprochen, handelt die Sache knapper ab: „Ich liebe Nachtarbeit, immer schon, ist für mich kein Problem.“ Sie hat sich bewusst für die Abteilung „Alarmverfolgung“ entschieden, weil das so abwechslungsreich sei. Securitas betreut allein von dieser Zweigstelle aus 9.000 Kunden mit Alarmanlagen, jede Nacht heult an sieben bis acht Objekten eine los. Für Berlin sind das immer neue Orte, die sie ansteuern und mit der Taschenlampe in der Hand begehen muss. Hat sie dabei denn nie Angst? „Nö, hab ich nicht. Nur wenn man in einem großen dunklen Baumarkt alle Gänge so ganz allein ablaufen muss, ist das manchmal schon ein komisches Gefühl.“ Meist war es aber auch da nur eine Maus, die den Sensor ausgelöst hat, erklärt Berlin. Sie setzt dann die sogenannte Einbruchmeldeanlage zurück und fährt wieder in die Zentrale. Da sitzt sie schließlich wieder zusammen mit den anderen im neonhellen Aufenthaltsraum, trinkt Kaffee und wartet, bis ihr PDA (ein kleines smartphoneartiges Gerät, das sehr unangenehme Geräusche absondert) den nächsten Alarm meldet. In manchen Nächten kann das auch mal ein paar Stunden und mehrere Tassen Kaffee dauern. Häufig geht es aber Schlag auf Schlag.

In mehr als 95 Prozent handelt es sich um Fehlalarme, erläutert Uwe Nagel. Aber in den übrigen paar Prozent der Fälle kann es eben auch mal ernst werden. Wenn eingebrochen wurde, dürfen die Securitas-Leute jedoch nicht eingreifen, sie müssen den Fall umgehend der Polizei melden. Bewaffnet sind sie ohnehin nicht. Mal abgesehen von der langen Taschenlampe, die ein bisschen an einen Schlagstock erinnert, als ein solcher aber nicht eingesetzt werden darf. Gleichwohl kommen allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die normalen Jedermannsrechte zu, sagt Nagel und erläutert ohne Nachfrage, was das bedeutet: „Befindet sich der Eindringling noch vor Ort, dürfen sie ihn festhalten, bis die staatlichen Sicherheitsorgane eintreffen.“ So einen Fall hat Sabine Berlin noch nicht erlebt. Weil man aber nie weiß, ob nicht doch Kriminelle den Alarm ausgelöst haben, gebe es schon ein paar Adrenalinmomente, räumt sie ein. Und wenn diese notorisch laute Stadt nachts erstaunlich still wird, erscheint jeder knackende Ast im Garten einer Villa, jedes raschelnde Tier im Gebüsch hinter einem Bürokomplex plötzlich sehr laut. „Ein bisschen Adrenalin ist immer gut“, sagt Zweigstellenleiter Nagel, „das führt zu sehr aufmerksamer Beobachtung und wohlüberlegten Entscheidungen.“
Auch wenn ein Senior im Bad umkippt, sind Berlins Kollegen zur Stelle
Und es hält wach. Offenkundig liebt Sabine Berlin ihren Job gerade auch wegen des Spannungsfaktors. Jedenfalls hat sie nach eigenem Bekunden immer schon gern Krimi- und Horrorfilme geschaut und konnte danach trotzdem gut schlafen. Während im Büro die männlichen Repräsentanten des Unternehmens bei Filterkaffee und Mettbrötchen wortreich die Anforderungen an Mitarbeiter erläutern, sitzt die wortkarge Frau in ihrer Firmenmontur wie ein Ausbund an Resilienz meist schweigend da. Wo das herkommt, wird klarer, wenn man ihr durch stetes Nachbohren ein paar biografische Fakten entlockt. Vier Kinder hat sie zur Welt gebracht und großgezogen, über zehn Jahre hat sie Schichtarbeit in der häuslichen Pflege geleistet. Mit plötzlichem Aufheulen und Noteinsätzen mitten in der Nacht hat sie so gesehen einige Erfahrung, nur dass man Alarmanlagen ganz einfach ausschalten kann und gleich wieder Ruhe ist. Bei maulenden Senioren und weinenden Kindern ist das oft anders. Vor diesem reichen Erfahrungshintergrund muss Sabine Berlin die Sicherheitsbranche mit ihren nächtlichen Anforderungen gleich halb so wild erscheinen.
Ihr Vorgesetzter Nagel weist an dieser Stelle noch darauf hin, dass die Überwachung von Senioren durchaus mit ins Angebotsspektrum des Unternehmens gehört, weshalb in diesem Job Empathie gefragt ist: Securitas rückt nämlich auch aus, wenn ältere Menschen den Hausnotruf-Knopf ihres Pflegedienstes betätigen. Und hilft den Leuten, die in vielen Fällen einfach nur hingefallen sind und nicht aus eigener Kraft wieder hochkommen, zurück auf die Beine. Wenn es schlimmer kommt, rufen Securitas-Mitarbeiter den Rettungswagen und stehen den Menschen bis zu dessen Eintreffen zur Seite. Eine andere Abteilung, aber Sabine Berlin ist mit ihrem Lebenslauf offenkundig gut gerüstet, um auch dort mal auszuhelfen.
Den Job hier beim Sicherheitsdienst macht sie erst seit September letzten Jahres. Deshalb findet sie es immer noch lustig, wenn Menschen, die im Auto neben ihr an der Ampel stehen, plötzlich hektisch den Gurt anlegen. Wenn man nicht so genau hinsieht, kann man das Auto und die Montur von Securitas mit der Polizei oder dem Ordnungsamt verwechseln. „Manche denken auch, ich verteile Knöllchen“, erzählt sie lächelnd. Es ist nicht frei von Ironie, dass diese freundliche Frau mit ihrer positiven Grundeinstellung ausgerechnet heißt wie unsere Hauptstadt der schlechten Laune.
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