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N° 84, Nerven

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Angst

Niemand hatte ihn gefragt, ob er wirklich mal in einem Düsenjet mitfliegen wollte

Von Niklas Prenzel

Unerwartet, in schwere Hosen und Kampfhelm gepresst, stand er eines Mittags vor einem übergroßen schlammgrauen Rieseninsekt , einer Gottesanbeterin ähnlich. Rafale hieß es, wie die französische Windböe. Ein Kampfjet, den die Luftwaffe zuletzt in Libyen und Syrien einsetzte. Am Vorabend hatten ihn seine Kollegen, er arbeitete als Testleiter in einer großen französischen Rüstungsfirma, ins Auto gesetzt. Es sollte eine Überraschung sein. Wie Freunde einen Junggesellen in die Ehe wollten sie ihren Kollegen ins Rentnerdasein verabschieden. Gemeinsam fuhren sie in den kleinen Ort Saint-Dizier, zwischen Paris und Straßburg gelegen, übernachteten in einem Hotel und betraten am darauffolgenden Morgen den Luftwaffenstützpunkt. 
Die Soldaten empfingen den Zivilisten wie einen VIP. Die Anweisung, dass er mitfliegen darf, kam von ganz oben: Beim Ministerium hatten seine Kollegen vorher heimlich eine Genehmigung beantragt. Auch hatten sie den Militärarzt überzeugt, den Passagier nicht, wie vorgeschrieben, zehn Tage, sondern lediglich vier Stunden vor dem Start zu untersuchen. Alles war perfekt organisiert: Sogar ein Schild mit seinem Namen hatten die Kollegen besticken lassen, das nun an seiner Uniform klebte. Professionell sah er aus. Ein gänzlich unerfahrener Gast mit heimlicher Flugangst konnte das nicht sein. Noch dazu hatte er zeit seines Berufslebens in der Rüstungsindustrie gearbeitet. Nur logisch, dass er davon träumen musste, in einem Flugzeug zu fliegen, das die doppelte Schallgeschwindigkeit erreichen und 2.500 Schuss pro Minute abfeuern konnte. Nicht logisch war allein: Niemals hatte er den Wunsch geäußert, einen Kampfjet von innen zu sehen. 
Doch jetzt saß der Mann von 64 Jahren auf dem hinteren Sitz der Rafale, eine GoPro-Kamera mit Noppen an den Helm gesaugt. Man ließ ihn die Gurte selbst schließen, übersah, dass Helm und Sauerstoffschlauch nur halbherzig angelegt waren. Kurz bevor sie auf die Startbahn 29 rollten, ermahnte ihn der Pilot, das Visier herunterzuklappen. Was würden seine vier Kollegen und all die Soldaten auf dem Flugfeld von ihm denken, wenn er jetzt Stopp! riefe und Danke sagte, ausstiege und nach Hause führe? Wie der traurig-trottelige Antiheld einer Tragödie blieb er mit gezwungenem Lächeln sitzen und traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen: Er hatte Schiss, la grande peur. Ausweglos war die Situation, die Flucht unmöglich, vorerst. 
Es sollte ein Trainingsflug werden, so sah es das Protokoll vor. Drei Jets würden in der Luft Formationen bilden. Der erste startete. Dreißig Sekunden Pause. Der zweite. Dreißig Sekunde Pause. Panikschnell raste sein Herz, 140-mal in jeder Minute. Dann fuhr der Pilot die Düsen hoch, der gezwungene Gast rief etwas ins Mikrofon seines Helms. So stark wie ein Astronaut beim Start der Rakete presste ihn das Vierfache seines Körpergewichts in den Sitz. Dreimal steiler als ein Passagierflugzeug stieg der Jet in den Himmel. Bei Ungeübten taucht dann ein grauer Schleier vor den Augen auf, und die Farben verblassen. Seine anfänglichen Rufe – waren sie begeistert oder angsterfüllt? – verstummten. Vier Sekunden nach dem Abheben senkte der Pilot das Flugzeug. Kurz fühlte er sich schwerelos, dann so, als ob er einen Handstand machte und dabei in den Himmel gehoben würde. Blut schoss ihm in den Kopf. Zwischen seinen Beinen sah er eine gelb-schwarz gestreifte Schlaufe aus dick gewebtem Seil, ähnlich der lebensrettenden Sicherung von Kletterern. Er hielt sich fest, riss sie an sich. 
Wie von einer höheren Macht wurden seine Beine an den Sitz gepresst, die Gurte stählern angezogen, und unter dem Sitz zündeten zwei Raketen. Er schoss aus dem Cockpit, so schnell, dass man vom Schlag ohnmächtig wird und die Bandscheiben Wochen brauchen, um sich wieder auszudehnen. Vierundsechzig Sekunden später, um einige Zentimeter geschrumpft und den Helm im Schleudern verloren, landete er sanft auf dem Boden. In seinem Sitz befanden sich neben dem Fallschirm Proviant für einige Tage und ein Schlauchboot für alle Fälle. In der Ferne stieg die lädierte Rafale weiter in den Himmel. Eigentlich müsste nun auch der Sitz des Piloten zünden. Doch da die Mechanik klemmte, setzte das Flugzeug wenige Minuten später sicher auf der Landebahn auf.

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