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Am Balaton ist Allah fern

In Sachen Rassismus ist Ungarn immer noch der Goldstandard – und für Menschen, denen Deutschland viel zu viele Flüchtlinge aufnimmt, ein Sehnsuchtsort. Ein Besuch am Plattensee

Von Daniela Gassmann und Cathrin Schmiegel (Foto); aus DUMMY Nr. 57; „Zuhause“ 2017/18; neu editiert am 13.11.2025

Sie sind Ottmar Heides letzter Trumpf. Im Schatten des Nussbaums fischt er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche. Wie immer trägt der Makler Kurzarmhemd, heute in Weiß. Hinter ihm liegen Weinfelder, vor ihm stehen die Kunden: ein Ehepaar aus Deutschland. Die beiden blicken sich skeptisch um. Von dem Haus, das sie sich angesehen haben, bröckelt der Putz. Das Grundstück riecht nach nassem Holz. Ottmar Heide steckt seine Zigarette an, nimmt den ersten tiefen Zug. In Ungarn, beginnt er, gebe es kaum Türken, wenige Russen. „Nur in Budapest ein paar Flüchtlinge“, schiebt er hinterher. Seiner Kundin entfährt ein Lachen, ihr Mann nickt. Es ist der Moment, der Ottmar Heide mit dem Ehepaar vereint.

Der Zaun an der ungarischen Grenze hält Flüchtlinge fern. Auswanderer zieht er an. Ihr Paradies suchen sie in Orten mit Namen, die die wenigsten von ihnen aussprechen können: Cserszegtomaj heißen sie, Somogyfajsz und Somogyszentpál. Sie alle liegen am westungarischen Plattensee, dem Balaton. Das Wasser kann man dort nicht mehr sehen, dafür sind die Häuser lächerlich günstig. Viele Deutsche kaufen sie aus Angst vor Überfremdung.

„Was da jetzt für Zeuch rüberkommt“

Ottmar Heide – 62 Jahre alt, Goldkettchen auf der grau behaarten Brust – ist so etwas wie ihre gute Fee. Immobilien vermittelt er schon ab 10.000 Euro. Gute Ratschläge und eine Einweisung in die deutsche Gemeinde bekommen seine Kunden gratis dazu.

Heide und seine Frau Claudia zogen vor 14 Jahren von Worms nach Ungarn. Ihr Zuhause liegt eine halbe Autostunde südlich vom Plattensee, wo es, anders als auf der Nordseite, kaum Hügel gibt. Dafür Thermalbäder und Massagestudios, von denen Claudia Heide jeden Mittwoch eines besucht. Hier hat das Ehepaar eine Immobilienfirma aufgebaut. Seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ läuft das kleine Geschäft so gut wie nie zuvor. Im letzten Jahr haben die Heides in sechs Monaten 20 Eigenheime verkauft, so viele wie früher in zwölf.

„Was da jetzt für Zeuch rüberkommt“, sagt Ottmar Heides Kundin. Petra Görtz presst die Beine zusammen wie eine Soldatin. In ihren rosa Sandalen leuchten die Fußnägel dunkelrot. Mit „Zeuch“ meint sie Flüchtlinge, mit „rüber“ Deutschland. Genauer: ihre Heimatstadt Düsseldorf, die sie und ihr Ehemann Friedhelm satthaben. „Der Orbán“, sagt Heide, den linken Daumen im Hosenbund, „der hat sein Volk befragt, was es von Flüchtlingen hält. 86 oder 89 Prozent sagen: Nein, die wollen wir nicht.“ Petra Görtz, gepresst: „Wir möchten die auch nicht!“ Mit ihrer Sonnenbrille kämmt sie sich den Pony zurück. Ihren Zopf trägt sie zweifarbig: blondes Deckhaar, darunter schwarz.

Im nächsten Haus, zwei Ortschaften entfernt, läuft es so gut, dass sich Ottmar Heide verschluckt beim Lachen. Das Huhn im Garten und der frei stehende Metallofen gefallen Friedhelm Görtz. Über die herausgebrochenen Sockelleisten, das stumpfe Laminat und die Größe des Hauses sieht er hinweg. Wenn Heide den Preis noch etwas herunterhandeln kann, wird das Ehepaar zuschlagen. „Bei Ihnen“, sagt Heide, „bringe ich das durch.“ Friedhelm Görtz breitet die Arme aus, als wolle er seine neue Welt begrüßen. Der Anker auf dem Unterarm in Moosgrün und Rot ist verblasst. Ein Relikt aus seiner Jugend. Zur Rente in drei Jahren will Görtz mit seiner Frau in das einstöckige Haus einziehen. Um am Balaton „die Misere Deutschland“ zu vergessen.

Abseits von der Partymeile in Siófok und touristischen Strandpromenaden leben etwa 2.000 Deutsche am größten See in Mitteleuropa. Es gebe Auswanderer, die Veränderung eigentlich gar nicht mögen, sagt Zoltán Kiszelly, Politologe in Budapest. „Sie wollen nur Wälder, Hügel und Seen.“ Am Balaton bekommen sie all das und stoßen nicht einmal auf kulturelle Unterschiede. Die meisten Einheimischen haben in der Schule Deutsch gelernt, in jedem größeren Ort gibt es Lidl oder Aldi. Dinge wie diese machen Ungarn für manche zur Märchenwelt.

Solange Victor Orbán Regierungschef ist, haben sie die Garantie, dass keine Flüchtlinge kommen

Einen viertel Tank braucht Ottmar Heide für eine Rundfahrt durch das Paradies. Sein schwarzer Volvo holpert über Straßen, die an den Seiten ausfransen. Im Auto riecht es nach Hund. Vorbei ziehen Mischwälder, Weizenhalme und Kürbisplantagen. Unterbrochen wird die Landschaft nur von Ortschaften mit Einfamilienhäusern und Heiligenfiguren. Heide zeigt auf ein Haus – verputzter Schornstein, gusseiserner Gartenzaun. „Hier wohnt ein Deutscher“, prahlt er. „Habe ich ihm verkauft.“

So geht es alle 200 Meter. Dazwischen tun sich Abgründe auf: nackte Backsteine, eingeschlagene Fenster, wuchernder Rasen. Die Gegend um den Balaton hat die unterschiedlichsten Gesichter. Vier, vielleicht fünf Sekunden lang ist ein schmaler Streifen See zu sehen, kaum erkennbar zwischen blauem Himmel und kilometerweiten Grünflächen. Dann beginnen die nächsten Dörfer, an deren Zäunen Pappschilder hängen. „Eladó!“ steht darauf: „Zu verkaufen!“.

Die leer stehenden Häuser ziehen Menschen an, die in ihrer Heimat unzufrieden sind. „Wenn sie Deutschland sowieso verlassen möchten, entscheiden sie sich bewusst für Ungarn“, sagt der Politologe Kiszelly. „Solange Victor Orbán Regierungschef ist, haben sie die Garantie, dass keine Flüchtlinge kommen.“ In Ungarn wurden 2024 nur 25 Erstanträge auf Asyl gestellt, in Deutschland waren es 230.000. Bis heute stellt sich Orbán gegen europäische Aufnahmequoten.

Bei der ungarischen Parlamentswahl hat Ottmar Heide keine Stimme. Doch wenn er von Orbán spricht, entfleucht ihm stets ein hessisch eingefärbtes „Subba“. Begleitet wird es von einem sehr speziellen Lächeln. Wissend, siegessicher, ein wenig kokett: sein Vertreterlächeln. Es funktioniert auch im kurzärmeligen Druckknopfhemd. Eine Krawatte trägt der Makler nur bei Häusern im Wert von mindestens 100.000 Euro. Oder wenn ihn das Fernsehen besucht.

Im Mai 2016 filmte der Bayerische Rundfunk Heide im Nadelstreifenjackett bei einer Hausübergabe. Danach meldeten sich ungarische Sender und die „Demokrata“, ein rechtsradikales Blatt und drittgrößte Wochenzeitung des Landes. Seitdem steht Heides Arbeitshandy nicht mehr still. In Gesprächen kommt er nach ungefähr neun Minuten auf die gefühlte Überfremdung zu sprechen. „Ich mein, ich wollte eigentlich nicht so gern darüber reden“, sagt Heide dann von selbst. „Aber in der Altstadt von Worms: Vor 30 Jahren waren da kleine Caféchen und Kneipchen, überall Stühle draußen. Heute: Dönerladen, Dönerladen, Dönerladen.“

Doch nicht jeder Deutsche am Balaton sucht einen Zufluchtsort vor Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Für manche ist es auch eine Frage des Geldes. Der Euro ist in Ungarn viel mehr wert, Grundstücke und Lebensmittel sind billiger. Ein Kilo Brot kostet umgerechnet etwa 50 Cent. „In Ungarn lebt man wie in Deutschland vor 20 oder 30 Jahren“, sagt Zoltán Kiszelly.

Manche kommen auch einfach, weil es hier so irre günstig ist

Andreas Bielmeier ist Ende 30 – und damit sehr jung für einen Auswanderer am Balaton. Wäre er nicht gegangen, er würde noch immer in einem Apartment leben und 800 Euro kalt bezahlen – für ein 30-Quadratmeter-Zimmer am Münchner Marienplatz. Als Freiberufler würde er zwölf Stunden am Tag arbeiten, keine Zeit und keinen Platz haben für ein Haustier.

Doch Bielmeier hat sich ein anderes Leben ausgesucht. In einem ungarischen Straßendorf teilt er sich die Ruhe mit einem Weimaraner, schlank, rehgraues Fell. Nicht weit vom Ufer des Plattensees liegt ihr 10.000 Quadratmeter großer Rückzugsort. Mit Hängematte, gemähtem Rasen und, seit Neuestem, einem Pool. Seine Eltern haben ihm Haus und Grundstück geschenkt. „Sie sind nicht sehr begeistert von meinem Einsiedlerdasein in diesem Alter“, sagt Bielmeier. „Aber das Leben ist zu kurz.“ Alles an ihm strahlt: sein Zahnpastalächeln, seine braun gebrannte Haut, der Glitzerstein im Ohr. Noch kommt er gut zurecht mit der gelegentlichen Arbeit auf dem benachbarten Weingut und seinem Ersparten.

Das Geld der Deutschen ist in Ungarn willkommen. Sie kaufen Immobilien, sitzen in Cafés und Restaurants, gehen auf die Märkte in Seenähe. „Es gibt keine Probleme“, sagt Kiszelly. „Die Leute bekommen überall Hilfe, finden manchmal Freunde. Man passt auf das Haus auf, mäht den Rasen.“ Die Einheimischen haben die unterschiedlichsten Eindrücke. Die Deutschen seien höflich und zuverlässig, sagen die einen. Die anderen: Sie seien arrogant und gäben kaum Trinkgeld.

In Somogyfajsz teilen sich 11 Deutsche und 39 ungarische Familien eine Straße. Wer dort über eine kleine Betonbrücke und durch das Gatter in der Mauer fährt, gelangt in das Heide’sche Reich: gemähter Rasen, Teich, holzverkleidetes Haus mit Ziegelsteindach. Auf der Veranda frühstückt das Ehepaar täglich. Für Ottmar Heide Blutdrucktabletten, für beide Kaffee und Zigaretten. In einem Bohnenglas schwimmen Kippenstummel. Normalerweise raucht er zwei Schachteln am Tag. Zurzeit sind es mehr. Auf dem Kalender im Büro gibt es keinen unbeschriebenen Tag, nicht einmal am Wochenende.

Die Termine organisiert Claudia Heide, blasse Haut, ungeschminkt. Von ihrem Mann wird sie „ma Fra“ oder „Chefin“ genannt. Durch die Wohnzimmerfenster der Heides fällt wenig Licht. Fast alle Bilder zeigen die Berner Sennenhunde der Heides und nicht die Kinder aus ihren ersten Ehen. Claudia Heide besucht ihren Sohn alle zwei Jahre in Köln. „Auf dem Weg zum Dom bin ich angemacht worden“, sagt sie. „So ein … na, so ein Asylant hat mich dumm angesprochen. Da hab ich mich schon bedroht gefühlt.“ Ottmar Heide kommt überhaupt nicht mehr nach Deutschland. Heute sei alles noch schlimmer als damals, habe er gehört.

„Ich will kein Kopftuch. Und ich will nicht fünf Meter hinter meinem Mann mit Tüten herrennen“

Nördlich vom Balaton, wo die Landschaft hügeliger ist als in Somogyfajsz, wohnen Rainer und Andrea Haupt. Auf ihrem Grundstück gibt es ein Haus mit Reetdach, drei Hunde, 13 Hühner, zwei Schweine. Was es nicht gibt, ist Stress. Ganz anders als in ihrem alten Leben im mittelfränkischen Diespeck, wo Rainer Haupt, 51, in der Automobilindustrie arbeitete und sie als Kassiererin. Bald wollen sie sich selbstständig machen, sich ihre Zeit frei einteilen.

Andrea und Rainer Haupt nennen sich „Schatz“, auch wenn sie uneinig sind. Die 39-Jährige trägt pinkfarbene Crocs und ein enges Tanktop, ihre Innenarme sind von den Hühnern zerkratzt. Eigentlich wollen die beiden miteinander nicht über Flüchtlinge sprechen. In der offenen Glastür ihres Gartenhäuschens beginnt Andrea Haupt doch damit: „Wir nehmen alles, was kommt, hurra, die Waldfee. Und als Nächstes kracht’s in Deutschland.“

„Wer sind wir denn?“, widerspricht Rainer Haupt. „In Ungarn sind wir die Ausländer.“ Er sitzt am Tisch, den rechten Fuß aufs linke Knie gelegt, Sportsocken in Sandalen. Wenn es nach ihm geht, soll auf der ganzen Welt jeder dort hingehen können, wo er hinmöchte. „Seh ich genauso“, sagt Andrea Haupt. „Aber ich muss mich auch benehmen und nicht dem Staat auf der Tasche liegen.“ Am Ende der Diskussion wird sie versöhnlicher werden: „Ich hab recht. Und du hast dein Recht.“

In Marcali, zwischen Plattenbauten und deutschen Supermärkten, liegt an einer befahrenen Straße der beliebteste Platz für viele Deutsche: das Café Mester mit Slushy-Maschine und knallgrünen Torten. Fast jeder hier kennt Ottmar Heide. Ein Fensterbauer hupt im Vorbeifahren, einem Bekannten ruft Heide ein „Servus, Großer“ zu, die Kellnerin bringt ungefragt die deutsche Karte. Sie weiß, dass Heide lieber Deutsch als Ungarisch spricht. Er beherrscht die Wörter, aber nicht die Grammatik.

Auf den Rauchertisch haben Heide und Familie Görtz zehn Minuten gewartet. Sie wollen die Details klären. Für Heide ist der Deal längst abgeschlossen. Petra Görtz, die in Deutschland bei einer Reinigungsfirma arbeitet und Schwielen an den Händen hat, bietet er auch gleich noch einen Job an. Sie könne Ferienhäuser putzen, sagt er. „Wir renovieren die Dinger.“ Wieder sein Vertreterlächeln. Wieder knautscht sich die Haut um seine Augen zusammen. Dann bestellt er eine neue Runde.

Friedhelm Görtz sitzt breitbeinig. Um gegen den Motorenlärm anzukommen, muss er laut sprechen. „Mein Gott“, sagt er. „Ich bin nicht rassistisch.“ Heide: „Ich auch nicht.“ Görtz: „Wirklich nicht.“ Das Ehepaar Görtz glaubt nicht an Gott. Doch wenn es um die Religion anderer geht, verwenden beide seinen Namen ständig. An diesem Nachmittag zwölf Mal. Den Islam nennt Friedhelm Görtz „ein einziges Problem“. Zank und Streit seien da vorprogrammiert. „Man muss nur die Nachrichten sehen“, sagt er. „Wie gesagt, ich bin nicht rassistisch.“ Ob er sich in Deutschland trotzdem noch zu Hause fühlt? „Ich bin Deutscher durch und durch. In Ungarn kommen keine Muslime rein. Sonst würde ich von meinem Zuhause nicht flüchten.“

Petra Görtz lässt die Griffe ihrer Kunstlederhandtasche nicht einmal jetzt los. Mit durchgestrecktem Rücken erzählt sie, wie unwohl sie sich in ihrer Heimat fühlt: „Ich will kein Kopftuch. Und ich will nicht fünf Meter hinter meinem Mann mit Tüten herrennen.“ Ottmar Heide zückt seinen Daumen: „Subba.“

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