Wer jung ist, sucht sich jemanden, der ihm den Weg weist. Und sei es, dass der Weg ins Nirgendwo führt. Erinnerungen an einen Haschischdealer und seine nebulösen Worte
von Dirk Gieselmann; aus DUMMY „Drogen“
Als wir jung waren, auf eine radikale, inzwischen etwas peinlich erscheinende Weise jung, hatten wir einen Meister mit Namen Stoffel. Er lebte in einer Hütte am Rande der Heide, war so mager wie ein japanischer Dichter, der in den Hochtälern des Hotaka-dake den Regentropfen beim Fallen zusieht, und sprach in Rätseln. Rauchschwaden und äthiopischer Ethio-Jazz waberten aus seiner Behausung, er lag darin auf einer erstaunlich mondänen Chaiselongue, dem einzigen Möbelstück von Wert, das er besaß. „Drogen-Andi“, so nannten ihn die Leute aus dem Dorf, und dass er einen echten Vornamen hatte, war der letzte Rest einer bürgerlichen Existenz. Er sei, so hieß es, einmal Landmaschinenschlosser gewesen. Nun war er Haschischdealer. Und unser enigmatischer Ratgeber.
Worin sein Rat bestand, ist heute nicht mehr klar und war es wohl auch damals nicht.
In einer Kurzgeschichte von Shaun Tan gehen ein paar Kinder immer wieder zu einem leeren Grundstück in der Vorstadt, um einen Wasserbüffel, der dort lebt, um Rat zu fragen. „Meistens schlief er und ignorierte jeden, der vorbeiging, außer wenn wir mal stehen blieben und ihn um Rat fragten. Dann kam er langsam zu uns her, hob den linken Huf und wies uns die Richtung. Aber nie sagte er, worauf er zeigte oder wie weit man gehen musste oder was man tun sollte, wenn man dort war.“ So war auch Stoffel: der Meister, der uns den Weg ins Nirgendwo wies.
Seine Sätze klangen wie falsch übersetzte Glückskeksweissagungen
Seine Sätze klangen wie falsch übersetzte Glückskeksweissagungen, aber sie hatten eine geradezu magische Wirkung und ermunterten uns zu ebenjener radikalen, inzwischen etwas peinlich erscheinenden Weise, jung zu sein. „Come on, die young“, so hieß eine Platte der Band Mogwai, die wir rauf und runter hörten. Natürlich wollte niemand von uns frühzeitig den Löffel abgeben, aber auch nicht gerade Gesundheitsvorsorge betreiben.
Wir waren eine Handvoll Heranwachsender, die das gemeinsame Schicksal, in einer Gegend geboren zu sein, in der man nicht geboren sein möchte, zu Freunden gemacht hatte. Sie lag irgendwo im Norden und liegt dort wohl heute noch. Wir wollten fort von diesem Ort, wo einem, wenn man nach Sonnenuntergang noch die Straße entlanglief, die Häuser aus ihren dunklen Fenstern hinterherlugten. Fort aus der seltsam weiten Enge, dem leeren, flachen Land, in dem man, wie die Leute sagten, heute schon sieht, wer morgen zu Besuch kommt.
Aber das konnten wir noch nicht aufgrund von Pflichten, Abhängigkeiten und weil wir ja gar keinen Plan hatten, wohin wir denn eigentlich abhauen wollten. Nach Amerika am liebsten, aber mindestens nach Osnabrück, na, mal sehen, wird sich schon was ergeben. Also schlugen wir die Jahre gemeinsam tot, sprühten uns zu viel Deodorant unter die Achseln, schnitten Löcher in unsere Jeans, die aussahen, als hätten wir Löcher hineingeschnitten, und rasten mit dem Moped durch die verlassene Kiesgrube.
Wir lasen reihum in einem abgewetzten Exemplar von Jack Kerouacs „On The Road“ und malten uns aus, dass die Freiheit hinter dem Kreisverkehr lag, dem Schild folgend, auf dem „Alle Richtungen“ stand. Als wäre diese Zeit, die Jugend, ein Wartezimmer, von dem aus wir bald in die nächste, die bessere Zeit gebeten würden von der gütigen Stimme desjenigen, der unsere wahre Berufung kannte. Wir kannten sie nicht.
Wann genau einer von uns zum ersten Mal raunte, er habe „was dabei“, einen braunen Klumpen aus der Jacke zog, ihn über der Feuerzeugflamme erhitzte und aus den Krümeln und etwas Tabak eine ungefähr zylindrische Zigarette zusammenfummelte, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Es muss etwa nach Abschluss der zehnten Klasse gewesen sein, als unsere Köpfe voll waren vom Ablativus absolutus, den binomischen Formeln und den Lebensdaten Napoleon Bonapartes, von einer ganzen Schutthalde toten Wissens. Voll von verklemmten Fantasien, kreuzunglücklicher Verliebtheit, unausgesprochener Wut, alten und neuen Ängsten vor Gespenstern und der Zukunft. Als uns das dringende Bedürfnis überkam, all das zu vergessen und einen neuen Weg einzuschlagen, zur Not ins Nirgendwo.
Wir nannten den Zustand, in den wir uns versetzten, schlicht „dicht sein“. Aber wir entdeckten unter dem Einfluss des Wirkstoffs unsere Gehirne, die bislang nur als Speicher gedient hatten, als eigenständige, sich selbst genügende Organe und schauten ihren Vorgängen zu.
So lagen wir auf dem Rücken, bei Nacht auf einer Wiese am Waldrand, und versuchten, die Sterne zu zählen, bis jemand sagte, es bringe doch nichts, es seien schließlich unendlich viele Sterne. Und wir sagten „Ja, okay, stimmt eigentlich“, fuhren verkehrsuntauglich mit unseren Autos nach Hause und hatten Angst vor der Polizei, nicht aber davor, gegen einen Baum zu knallen.
Banales erschien uns mit einem Mal interessant, Idiotisches genial. Jemand, der auf der Gitarre zwei Akkorde beherrschte, kam uns und sich selbst vor wie Jimmy Page, und zutiefst Unlustiges avancierte zum tödlichen Witz, der nicht enden wollende Lachanfälle nach sich zog. Die Gedanken waberten und leuchteten, ähnlich den Lavalampen, die wir uns auf die Nachtschränke stellten.
Je öfter jemand „was dabei“ hatte, desto schlechter wurden unsere Schulnoten, desto mehr hielten wir uns aber für Bewusstseinserweiterte im Vorgefühl der Erleuchtung.
Zugleich verwandelte sich unser Übermaß an körperlicher Energie in bodenlose Schlaffheit, jegliche Ambition sickerte aus uns heraus. Je öfter jemand „was dabei“ hatte, desto schlechter wurden unsere Schulnoten, desto mehr hielten wir uns aber für Bewusstseinserweiterte im Vorgefühl der Erleuchtung. Und desto größer wurde das Bedürfnis, immer „was dabei“ zu haben. Das Bedürfnis nach einer sicheren Quelle.
Sie lag am Rand der Heide, in jener halb verfallenen Hütte. Jemand kannte jemanden, der Stoffel kannte, und so wurden wir schließlich dorthin mitgenommen, im Golf Bon Jovi eines Zwölftklässlers, der selbst noch irre jung gewesen sein muss, uns aber vorkam wie ein Veteran, kurz davor, in die Freiheit auszubrechen. Er verlor wenig später seinen Führerschein wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Stoffel begrüßte uns nie, wenn wir seinen Verschlag betraten, vielleicht nahm er uns gar nicht wahr, vielleicht war jeder Einzelne auch nur ein zu vernachlässigender Teil einer an seiner Chaiselongue vorüberziehenden Prozession. Es war unklar, ob er wusste, wer wir waren und wie wir hießen, ob er uns hasste oder mochte. Wir jedenfalls mochten ihn. Nicht nur, weil er unser Dealer war. Sondern weil er auf irre, erschöpfende und geradezu unerträgliche Weise anders war als jeder, den wir kannten.
Niemand wusste, ob er vor unserer Ankunft bereits geredet hatte, mit sich, mit anderen, die schon gegangen waren, oder erst anfing, wenn wir an ihn herantraten, jedenfalls gerieten wir ganz unmittelbar in seinen Redeschwall, einem Flusshochwasser gleich, in dem die Wörter kollidierten wie mitgerissene Baumstämme, Autos und ertrunkene Tiere. Beinah nichts ergab Sinn, alles war ein Rätsel, ein endloses Prosagedicht dieses mageren Dichters, von dem kaum etwas im Gedächtnis haften blieb, bloß dass es ähnlich klang wie das Haiku „Nur die Melone / Weiß nichts vom scharfen Winde / Am frühen Morgen“ von Yamaguchi Sodo.
Wohin, meinte er, sollten wir gehen? Was war die Richtung? In einer Ecke flimmerte stumm ein Fernseher, in dem hinter einer dichten Schneedecke vage alte Zeichentrickfilme zu erkennen waren. War auch das vielleicht eine Botschaft? Wir waren stets geneigt, das zu glauben.
Doch je öfter wir kamen und je länger wir blieben, desto mehr kristallisierte sich ein wiederkehrendes Motiv heraus, das Stoffels uferlosem, von äthiopischem Jazz, Krautrock oder Reggae untermalten Monolog zugrunde lag: die Verschwörung. Er sah sich als die Zielperson von im Verborgenen operierenden Mächten, von Geheimdiensten, Illuminaten, Außerirdischen, dem Finanzamt, der Polizei. Man wolle ihn fertigmachen, glaubte er, weil er so intelligent sei, zu intelligent, als dem System lieb sei. War es eine Warnung? Wenn ja, wovor? Vor Wachtmeister Holtkamp, dem Dorfbullen? Oder vor dem Wahnsinn, dem er selbst, Stoffel, anheimgefallen war? Währenddessen zog er mit einer solchen Heftigkeit an der Wasserpfeife, dass es uns beim bloßen Zusehen die Lungen zerriss.
Nach zwei, drei oder zehn Stunden Monolog, inzwischen eingehüllt in dichten Nebel, sagte er plötzlich: „Wie viel wollt ihr haben?“ Er kniff dann von einer großen Platte Haschisch, die aussah wie die Schokoladentafel eines Riesen, mit einer Astschere eine Portion ab und warf sie uns hin. „Jetzt haut endlich ab, ich bin müde.“ Wir verließen die Hütte, geschlaucht und durcheinander, und fuhren davon, den Klumpen Haschisch in der Tasche und mit dem guten, unverwundbaren Gefühl, in den kommenden Wochen immer „was dabei“ zu haben.
Nur einer schaffte es nach Amerika, zwei oder drei immerhin nach Osnabrück.
So ging das über Jahre, bis wir die Gegend verließen – nur einer schaffte es nach Amerika, zwei oder drei immerhin nach Osnabrück. Stoffels Sätze wurden immer orakelhafter, der Zustand seiner Hütte und seines Körpers desolater. Seine Nieren seien kaputt, hieß es, er müsse sich mehrmals wöchentlich einer Dialyse unterziehen. Er selbst sagte, wenn man ihn fragte, wie es ihm gehe: „Das Leben ist wie eine Hühnerleiter: kurz und beschissen.“
An einem Sonntag im Frühling kam der alte Freundeskreis noch einmal zusammen, der kleine Bruder von einem von uns feierte seine Konfirmation. Wir saßen an der Kaffeetafel, als eine alte Dame aus dem Dorf in die gute Stube kam. „Habt ihr schon gehört?“, rief sie in die Runde, sichtlich erfreut, die Überbringerin dieser Nachricht zu sein. „Drogen-Andi ist tot. Sie haben ihn in seinem Stall gefunden.“
Weil niemand wissen sollte, dass wir Haschisch rauchten, sagten wir nichts und starrten nur auf den Butterkuchen vor uns. Auch später, bei einer Zigarette hinterm Haus, sagten wir nichts, aber nun, weil wir nicht wussten, was. Stoffel, erfuhren wir später, war einfach nicht mehr zur Dialyse gegangen. Er wurde nur ungefähr fünfunddreißig Jahre alt.
Es war seine letzte rätselhafte Botschaft. Noch heute, viele Jahre später, fragen wir uns manchmal, was er uns mit seinem Tod wohl sagen wollte.
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