
Lene ist groß für ihr Alter. Sie mag keine Kuhmilch. Sie glaubt, dass alle Frauen Babys im Bauch haben. Lene isst Blumen, guckt zu lang ins iPad. Sie schiebt sich den Finger ins rechte Nasenloch und die Rigatoni ins linke. Kommt sie in Rage, schlägt sie die kleine Stirn an die Wand und reißt sich Haare aus. In acht Monaten wird sie drei. Sie wünscht sich einen Muffin.
Manchmal sitze ich mit meinem Freund Pilz zusammen und erzähle aus diesem schädelgroßen Königreich, das meine Tochter Lene I. mit harter Hand regiert. Pilz nickt. Er hat selbst Kinder, fünf an der Zahl. Allem Anschein nach sind das ausnehmend zivilisierte kleine Leute, richtige Katalogkinder. Sie tragen wettergemäße Kleidung, basteln stimmige Collagen, reißen nicht an Haaren. Und keines der Pilz-Kinder würde austicken, wenn man ihm verbietet, die Verpackungschips aus der DHL-Kiste zu essen.
Nach dem vielen Rumgevater müssen Pilz und ich ein Bier bestellen. „Wegrennen möchte man manchmal“, sage ich. „Hilft ja nichts“, sagt Pilz. „Eigentlich könnt ihr nur abwarten – das gibt sich.“ „Ja, ja“, sage ich. „Noch zwei Bier“, sagt Pilz. „Mir auch zwei Bier“, sage ich.
Ich habe oft erklären müssen, was bei Lene los ist, ohne es je selbst zu verstehen. Ich habe Bücher gelesen über kleinkindliche Wutanfälle, über autonome Kinder und Systemsprenger. Meine Freundin und ich lassen uns in Familienhilfen und von Kinderpsychologen beraten, auf YouTube von Experten belehren. Manchmal liegt auf dem Küchentisch ein Zettel für mich. Da stehen Sätze drauf wie „Sie meint es nicht, sie fühlt es“, „Keine Angst vorm wachen Kind“ oder „Sie macht es nicht gegen dich, sondern für sich“. Meine Freundin und ich durchforsten Podcasts und Erziehungsblogs füreinander. Aber das Rätsel, das unsere Tochter ist, können wir meist nicht lösen.
Ihr Ego saß schon zwischen uns, da war sie noch gar nicht geboren. Die meisten Kinder kommen in Schädellage zur Welt, also mit dem Kopf zuerst. Lene entschied sich für die umgekehrte Richtung: Kopf oben, Po unten – Beckenendlage nennt das die Geburtsmedizin. Früher starben Frauen häufig bei diesen „Steißgeburten“. Heute ist oft ein Kaiserschnitt die Lösung. „Das ist übrigens nur ihr Problem“, sagte die Frauenärztin zu uns, wenige Tage vor dem Geburtstermin, „nicht das ihrer Tochter. Die findet’s urgemütlich so.“
Und tatsächlich hat sich Lene Zeit gelassen, viel Zeit. Nach neun Monaten und drei Wochen, eine davon mit geburtseinleitenden Bädern und Salben, ist sie dann doch aufgekreuzt. Wir hatten eine Klinik ausgesucht, die sich auf natürliche Geburten aus Beckenendlage versteht. Sie kam natürlich trotzdem per Kaiserschnitt. Gesund und kein bisschen hutzelig. Da war keine Schmiere, nicht eine Falte, Lene sah irgendwie fertig aus. Die Hebamme, gut vierzig Jahre im Beruf, schlug das Baby vorsichtig in ein Handtuch und nickte. „Beckenendlage, die kommen gut klar.“
Wie recht sie hatte. Einen Nuckel wollte Lene nie, vielleicht war ihr das zu kindisch. Kleinkindnächte auch nicht: drei, auch mal vier Stunden Schlaf am Stück, okay, dann aber: weiter. Mit einem halben Jahr konnte sie ihren Kopf nicht gerade halten. Sie bekam Krankengymnastik. Schließlich klappte es. Seitdem geht es nur noch durch die Wand.
Im ersten Jahr schnurrt jedes Murren des Babys auf Hunger, Nähe, Verdauen oder Schlaf runter. Diese Grundbedürfnisse zu stillen kann sogar Spaß machen, geht man es wie ein detektivisches Rätsel an. Nur wurden Lenes Bedürfnisse rasch komplexer.
Heute wütet sie, weil es draußen ein bisschen windet. Weil das Badewasser zu nass ist. Weil der Sandmann ein grünes Mäntelchen trägt statt des üblichen roten. Weil ich ihr Brötchen längs statt quer aufschneide. Hänge ich einen Rucksack an ihren Kinderwagen: Wutanfall.
Ihr Wahnsinn kann aus jeder Richtung kommen. Noch schlimmer ist, wenn wir nicht wissen, woher. So wie neulich. Sie saß hinten im Auto in ihrem Kindersitz. Und aus dem Nichts explodierte das Innere unseres Škodas. Wasserfälle, Knaller und Heuler, mächtige Blitze. Als sie keuchend innehielt, bot ich ihr einen brutal ungesunden Snack an, um sie zu beruhigen. Wandel durch Handel. Doch es folgte nur eine neuerliche Ladung von Blitzen, die die Luft zerrissen, in maximaler Stärke.
Den Grund für ihren Anfall begriff ich erst am Abend: Ausnahmsweise waren wir an diesem Tag an der Kreuzung rechts in unsere Straße abgebogen – sonst geht es immer linksherum. Aber gegen die Baustelle war ich machtlos, ich fügte mich, meine Tochter offensichtlich nicht.
Lene verarbeitet die Dinge, wie sie in ihren Kopf passen, und der ist noch in Bewegung. Sie erlebt eine heftige „magische Phase“, so nennt es unsere Kinderpsychologin. In Lenes Welt sei alles möglich, jeder Realismus suspendiert. Es regnet, weil die Wolken traurig sind. Der Löffel liegt unterm Tisch, weil er schlafen will. Kindliche Vorstellungen, die uns Eltern entzücken. Extrem unentzückend dagegen: wenn sie durch Schreien die Baustelle versetzen oder den Besuch nach Hause schicken will, indem sie seine Schuhe anschleppt. Oder denkt, dass ich krank bin, weil sie „böse“ war. In dieser Welt passiert, was Lene will. Kleines wie Großes, Schönes wie Schreckliches. Sie kann es durch Worte, Gefühle oder Gedanken herbeiführen. Die Psychologie nennt das Allmachtsfantasie – eine Wunschvorstellung von grenzenloser Macht.
Wir Eltern lernen, diese Irrationalität zu ertragen. Nicht immer habe ich mich in solchen Momenten kleinkindgerecht verhalten. Es kam vor, dass ich sie mit einem zur Faust gewordenen Gesicht vom Spielplatzboden riss, sie mir wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter warf und durch den Kiez trug, während sie trat und schrie wie die Leibhaftige. Ich schleuderte ihrem Furor Sätze entgegen wie „Jetzt ist aber mal genug“ oder „Als ich in deinem Alter war …“. Ich versuche, mir solche Sprüche abzugewöhnen. Auch weil ich in diesen oft so finsteren Kinderaugen sehe, wie kurios ich selber wirke.
Manchmal werde ich gefragt, was ich von Lene lerne. Von ihr selbst eher wenig, fürchte ich. Ich versuche mich fernzuhalten von dieser Spezies Eltern, die allzu lautstark verkünden: „Du wirst nicht glauben, was mein Dreijähriger heute gesagt hat!“ Mein Verdacht: Eltern überhöhen ihre Kinder, um sich über den Verlust von Zeit, Geld und Freiheit hinwegzutrösten. Wir führen uns dabei auf wie Tierforscher, die stundenlang ausharren, um einen Blick auf einen seltenen Greifvogel zu erhaschen. Und abends erzählen, wie fantastisch diese Vögel sind. Aber nicht, wie ermüdend das Warten war.
Das schließt mich natürlich ein. Und folgt einer Zwangsläufigkeit: Mit Kind tritt man ins Reich der Effizienz ein. Eltern können sich Rumhängen und Ziellosigkeiten schlicht nicht mehr leisten. Kind, Job, Beziehung, Freunde, vielleicht mal zwanzig Minuten für sich: Das verlangt einen strikten Zeitplan. Und genau das wird zum Verhängnis. Denn Effizienz, so praktisch sie ist, bedeutet: dass man schon vorher weiß, was am Ende herauskommt.
Nur logisch, dass man in diesem andauernden Effizienzmodus auch von seinen Jüngsten Kadavergehorsam einfordert. Wenn ich Lene aus der Kita hole, kann ich mich über all die Rosas und Selmins freuen, die galant grüßen, ihr Geschirr ab- und das Spielzeug wieder wegräumen. Aber ich wunder mich auch: Wo sind die Querköpfe, die Nervensägen, die Rotznasen? Hat die jemand aussortiert? Manchmal habe ich nicht nur Mitleid mit den Kindern. Sondern vor allem große Angst, wie die mal als Erwachsene sind.
Noch haben wir eine Chance. Denn ich weiß fast sicher, dass es in Lenes Kopf interessanter zugeht als in meinem. Immer wieder wird mir bewusst: Wir haben großes Glück mit ihr. Lene lacht ein Lachen, mit dem das Familienministerium werben könnte. Sie spricht drei Sprachen fließend (es müssen ja nicht unsere sein). Sie erinnert sich an Geschichten, die ich ihr vor Monaten erzählt habe. Unterbricht man sie beim Spielen, murrt sie „Ich bin beschäftigt“ und schaut geschäftig drein, als gelte es, einen DAX-Konzern zu restrukturieren. Ihre Fragetechnik („Warum???“) lässt auch mich als Journalisten oft alt aussehen.
Manchmal umarmt sie einen von uns vor lauter Überschwang. Da ist dann dieses Gefühl, groß und weich zugleich. Klar ist da ihr Ego. Aber auch wir wollen uns täglich als Eltern beweisen, und sei es nur, dass wir das mit ihr irgendwie hinkriegen.
Nächste Woche sehe ich Pilz wieder. Ich werde Bier bestellen. Und von Lene erzählen. Wir werden uns wieder deutlich mehr für unsere Kinder interessieren als sie sich für uns. So soll es auch sein. Lenes Privileg ist es, einfach da sein zu dürfen, ganz für sich. Sich nicht mit dem rumschlagen zu müssen, was mich beschäftigt. Dieser Text ist dabei vielleicht eine Ausnahme. Aber der handelt ja auch von ihr – einem Thema, das ihr sehr am Herzen liegt.