Trotz strömenden Regens folgen am frühen Abend des 17. Oktober 1961 im Zentrum von Paris zahlreiche Algerier einem Aufruf ihrer Befreiungsorganisation FNL, um gegen verschiedene repressive Maßnahmen des französischen Staates zu demonstrieren. Die rund 30.000 Teilnehmer, die hauptsächlich aus den Vororten der Hauptstadt stammen, machen ein Drittel der gesamten, dort unter ärmlichen, zum Teil elenden Bedingungen lebenden Bevölkerung aus. Sie wollen vor allem gegen das zu Beginn des Monats vom Pariser Polizeipräfekten verhängte Verbot, sich zu mehreren Personen durch die Straßen zu bewegen, nach 19 Uhr öffentliche Lokale zu besuchen und insbesondere ein generelles Ausgehverbot nach 20 Uhr protestieren. Ihnen stehen mehr als 7.000 Polizei- und Sicherungskräfte gegenüber, die bereits seit Tagen zusammengezogen worden sind.
Der Umzug verläuft zunächst völlig friedlich und ohne irgendwelche Zwischenfälle. Die Demonstranten, unter ihnen auch Frauen und Kinder, ziehen schweigend über die Boulevards. Auf den von ihnen mitgeführten Transparenten sind Parolen zu lesen wie „FLN au pouvoir“ (FLN an die Macht) und „Algérie algérienne“ (Für ein algerisches Algerien). Es gelingt ihnen jedoch lediglich, bis zur Oper, der Place de l’Étoile und den Champs-Élysées zu gelangen. Denn plötzlich fallen Polizeitruppen, unter ihnen die gefürchteten „Harki“, Mitglieder einer ausschließlich aus Muslimen zusammengesetzten Polizeiformation, die bereits seit langem gezielt gegen die Algerier eingesetzt wird, in großen Scharen über sie her und prügeln auf die wehrlose Menge ein.
Die staatlichen Schläger haben es vor allem auf die Gesichter der Algerier abgesehen. Hunderte von ihnen erleiden in nur kurzer Zeit Platzwunden, Nasenbeinbrüche und schwere Schädelverletzungen. Dies ist jedoch nur der Auftakt zu einer beispiellosen Hetzjagd, die sich über mehrere Stunden hinweg bis in die Nacht in den Gassen ebenso wie auf den Prachtstraßen der Metropole abspielt. An einer Stelle wird sogar von einem Gebäude aus mit Maschinenpistolen das Feuer auf die Flüchtenden eröffnet. Viele von ihnen brechen unter den Schüssen zusammen. Doch es gibt niemanden, der ihnen hilft. Die zahlreichen Verletzten bleiben stundenlang auf dem nassen Straßenpflaster liegen. Kein Krankenwagen, kein Arzt, kein Sanitäter taucht auf. Nicht wenige verbluten im Rinnstein. Die Polizisten haben offenbar eine einzige Priorität – sich durch nichts von ihrer Jagd auf flüchtende Algerier abhalten zu lassen. Um sie besser fassen zu können, werden die Brücken über die Seine gesperrt. So erweist sich ein Fluchtweg nach dem anderen als Sackgasse. Im Halbdunkel spielen sich gespenstische Szenen ab. Diejenigen, die ihren Häschern nicht entkommen, werden zusammengeschlagen und zum Teil mit gebrochenen Gliedmaßen von den Brückenumrandungen und Ufermauern aus in die Seine geworfen.
Noch Tage danach werden Leichen, manche an Händen und Füßen gefesselt, aus dem Fluss gefischt. Während ihre Anzahl zunächst völlig im Dunkeln bleibt, wird die Zahl derjenigen, die die Polizei verhaftet hat, bald darauf mit bürokratischer Genauigkeit bekannt gegeben. Innerhalb von vier Stunden sind 11.538 algerische Demonstranten festgenommen worden. Da es keine Möglichkeit gibt, eine solche Anzahl in den Zellen der Polizeigefängnisse unterzubringen, werden sie in Sportarenen transportiert. In dem nach dem Begründer der Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, benannten Stadion und dem auch durch andere Großveranstaltungen bekannten Sportpalast, in dem nur wenig später ein Ray-Charles-Konzert stattfindet, werden Tausende, unter ihnen zahllose Verletzte, zusammengepfercht.
Am Tag darauf gibt Innenminister Roger Frey die Anzahl der Demonstranten und der Verhafteten bekannt. Er kündigt an, dass etwa 2.000 von ihnen so bald als möglich nach Algerien abgeschoben würden. Aufseiten der Ordnungskräfte seien neun Personen und auf der der Demonstranten 64 verletzt worden. An Todesopfern nennt er zwei – zwei Demonstranten seien getötet worden. Am Abend desselben Tages demonstrieren erneut Tausende von Algeriern gegen den vom französischen Staat praktizierten Ausnahmezustand. Nach offiziellen Angaben sollen 1.850 weitere von ihnen verhaftet, 136 verletzt und wiederum zwei getötet worden sein. Doch auch diesmal liegt die Zahl der tatsächlichen Opfer im Dunkeln.
Zwei Tage später versammeln sich vor dem Rathaus von Paris mehrere Tausend Algerierinnen mit ihren Kindern, um die Freilassung ihrer verhafteten oder zumindest Nachricht über ihre verschwundenen Männer zu fordern. Sie ahnen nicht, dass die Polizeikräfte auch diesmal auf alles vorbereitet sind. Kaum dass die Frauen die nahe gelegenen Metro- und Autobus-Stationen verlassen haben, werden sie ebenfalls festgenommen und abtransportiert.
Sie können nicht verhindern, dass die ersten 500 der am 17. Oktober Verhafteten bereits wenige Stunden später per Schiff beziehungsweise Flugzeug nach Algerien abgeschoben werden. Die Provisorische Regierung der Algerischen Republik hat kurz zuvor in Tunis ein Kommuniqué veröffentlicht, in dem es heißt, dass bei der Demonstration vom 17. Oktober in Paris mindestens fünfzig Algerier, darunter auch Frauen, ums Leben gekommen und mehrere Hundert verwundet worden seien. Die Anzahl derjenigen, die seitdem als verschwunden gelten würden, sei nur schwer festzustellen, belaufe sich aber ebenfalls auf mehrere Hundert.
Als der Bürgermeister von Nanterre, Raymond Barbet, zusammen mit seinem Amtskollegen aus Gennevilliers, Waldek Huillier, Anfang November eine Pressekonferenz durchführt, bei der Journalisten, Rechtsanwälte und Ärzte von den Misshandlungen der Algerier berichten, wird erahnbar, wie hoch die Anzahl der in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober Umgekommenen tatsächlich sein muss. Mehrere Vertreter der kommunistischen Gewerkschaft CGT schildern, dass bei den Renault-Werken mehr als zwei Wochen danach immer noch zahlreiche algerische Kollegen an ihren Arbeitsplätzen fehlen würden. Seit jener denkwürdigen Nacht seien sie nicht mehr zurückgekehrt.
Ein Journalist, der deutsche Korrespondent Walter Blasig, kommentiert das Geschehen in der „Anderen Zeitung“ mit den Worten, was in Paris am 17. Oktober und den folgenden Tagen geschehen sei, sei „eine von Rassenhass getragene Polizeiaktion“ gewesen. Doch was für ausländische Korrespondenten evident zu sein scheint, darf in der französischen Öffentlichkeit kaum erwähnt werden. Lediglich das kommunistische Parteiorgan „L’Humanité“, die aus der Résistance stammende „Libération“ und der „France-Observateur“ halten sich nicht an die verbreitete Offizialversion von der für die Staatsorgane gegebenen Notwendigkeit, den von algerischen Untergrundorganisationen angeblich praktizierten Terror abzuwehren. Als Claude Bourdet, der Chefredakteur des „France-Observateur“ berichtet, dass ihm zwei Polizisten noch in der Nacht unter Tränen geschildert hätten, dass im Hof des Polizeipräsidiums die Leichen von fünfzig Nordafrikanern lägen, erhält er postwendend eine Klage des Polizeipräfekten wegen Beamtenbeleidigung. Eine Ausgabe der von Jean-Paul Sartre begründeten Zeitschrift „Les Temps Modernes“, die über das Massaker berichtet, wird kurzerhand beschlagnahmt. Ein Film, der unter dem Titel „Octobre à Paris“ über die dramatischen Ereignisse gedreht worden ist, darf nicht gezeigt werden.
Angesichts der gezielten Gegenreaktionen und des Stillschweigens der französischen Massenmedien verwundert es nicht, dass die Oktobernacht rasch in Vergessenheit gerät. Dies ändert sich erst zwanzig Jahre später. Als die satirische Wochenzeitung „Le Canard Enchaîné“ die Vergangenheit des Ex-Ministers Maurice Papon aufzudecken beginnt, wird deutlich, dass der Mann, der als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux für die Deportation der Juden zuständig war, als Polizeipräfekt von Paris auch der Hauptverantwortliche für das Massaker vom 17. Oktober gewesen sein muss. Jedoch weder unter der Präsidentschaft Charles de Gaulles, der fast ein Jahrzehnt lang auf die Effektivität des von dem Vichy-Politiker installierten Unterdrückungsapparats baute, noch unter der Georges Pompidous oder Giscard d’Estaings, in dessen Ära Papon noch zum Budgetminister aufsteigen darf, ist es möglich, den Schleier, der über dem Staatsverbrechen liegt, zu zerreißen.
Erst nachdem insgesamt dreißig Jahre vergangen sind, legt der Historiker Jean-Luc Einaudi unter dem Titel „La bataille de Paris“ eine detaillierte Untersuchung über die Vorfälle in jener ominösen Nacht vor. Er hat rund hundert Zeugen befragt und kommt zu dem Ergebnis, dass damals über 200 Algerier umgekommen sein müssen. Als jedoch fünf Jahre darauf, im Oktober 1996, die größte algerische Tageszeitung „Liberté“ unter der Überschrift „Als die Seine voller Leichen war“ einen Artikel über die barbarischen Vorfälle publiziert, schlägt die Zensur des französischen Staates noch einmal kompromisslos zu. Die Zeitungspakete, die am Flughafen in Lyon auftauchen, werden vom französischen Grenzschutz beschlagnahmt und umgehend nach Paris ins Innenministerium transportiert. Was in Algerien für Aufsehen sorgt, bekommt in Frankreich kein Leser zu Gesicht. Im Untertitel des Artikels heißt es: „Die Repression war von demjenigen angeordnet worden, der für die Nazis die Judendeportationen organisiert hatte“.
Kein Zweifel, es geht wiederum um Maurice Papon. Er war derjenige, der Anfang Oktober 1961 die Ausgangssperre für Algerier verhängt und am 17. Oktober persönlich den Befehl gegeben hatte, die Demonstration der Algerier gegen seine Maßnahme zu unterdrücken. Er hatte den Polizisten vor ihrem Einsatz die volle Rückendeckung zugesichert. Falls sie sich bedroht fühlten, sollten sie, hatte er erklärt, von ihrer Waffe Gebrauch machen und schießen. „Sie werden gedeckt sein, ich gebe Ihnen mein Wort.“ Deutlicher konnte ein Mann in der aufgeheizten Atmosphäre am Ende des Algerienkrieges nicht werden. Seine Beamten bewiesen unmittelbar darauf, dass sie verstanden hatten, was er tatsächlich damit meinte – sie hatten einen staatlich autorisierten Freibrief zum Jagen und Morden einer wehrlosen Minderheit erhalten.
Am 2. April 1998 spricht ein Schwurgericht in Bordeaux Papon wegen seiner Mitverantwortung für die Deportation französischer Juden nach Auschwitz der Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig und verurteilt ihn zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren. Die Akten, die sich auf den 17. Oktober 1961 beziehen und die das französische Innenministerium den Archives Nationales in Paris übergeben hat, bleiben auch weiterhin verschlossen. Das Dossier mit der Signatur MI 1455, das den Titel „Polizeiliche Übergriffe 1961“ trägt, ist bis zum Jahr 2021 gesperrt. Um nach dessen Öffnung für ein ganz offensichtliches Staatsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden zu können, hätte der mutmaßliche Hauptverantwortliche, der 1910 geborene Maurice Papon, mindestens 111 Jahre leben müssen. Papon stirbt jedoch im Jahr 2007 im Alter von 96 Jahren.
Von Wolfgang Kraushaar erschien zuletzt die illustrierte Chronik „Die 68er-Bewegung“, ein vierbändiges Mammutwerk, das die Entwicklung einer globalen Prostestkultur erzählt (Verlag Klett-Cotta)