Einmal im Jahr, immer am 31. März, wird nachgezählt. Ein paar Monate später ver­öffentlicht das Statistische Bundesamt eine Broschüre, in der „demografische und kri­minologische Merkmale der Strafgefange­nen“ erfasst sind. Man erfährt etwas über ihr Alter und ihren Familienstand, ihre Vergehen und die verhängten Haftzeiten. Und: über ihr Geschlecht. Am 31. März des vergangenen Jahres saßen 48.026 Män­ner in deutschen Gefängnissen. Und 2.931 Frauen. Von allen Inhaftierten waren also nur 5,75 Prozent weiblich.

Sind Frauen zu schlau, um Straf­taten zu begehen? Oder zu blöd? Sind sie gesetzestreuer? Oder lassen sie sich nur seltener erwischen? Und hat das alles mit Genetik zu tun oder mit Erziehung und Umwelt?

Auf den ersten Blick ist die Welt des Verbrechens eine androzentrische: Der Mann ist die Norm. Das beginnt schon mit dem Ort, an dem die Delin­quenten ihre Strafen verbüßen: Es gibt Gefängnisse, und es gibt Frauengefäng­nisse, so wie es Fußball und Frauenfuß­ball gibt, Literatur und Frauenliteratur. Hat sich diese Sichtweise, die den Mann zum Maß macht, erst einmal durchgesetzt, dann gewinnt sie einige Gestaltungskraft. Die Realität formt sich nach dem Vorur­teil. So kommen auch Menschen, die mit straffälligen Frauen und Männern arbei­ten oder zu Kriminalität forschen, ziem­lich übereinstimmend zu erwartbaren Ein­schätzungen: Der Mann macht Ärger, die Frau eher nicht.

Das bleibt auch so, wenn Frauen doch mal ins Gefängnis kommen: In der Frau­en­-JVA Berlin-­Lichtenberg gibt es ei­nen Innenhof mit Sportplatz, Gewächs­häusern und Sitzgruppen. Nur eine Ecke des Hofes ist durch niedrige Zäune abge­trennt. Von hier gelangt man in den Ge­bäudeteil, der zum Ausgang führt. „Die Ecke“, sagt Sandra Rodrigues Silva, „ist unser Sicherheitsbereich, die Frauen be­wegen sich frei im Hof und dürfen nicht über diesen Zaun gehen – und sie machen das auch nicht.“ Wozu Rodrigues Silva, die in dieser Einrichtung die Öffentlichkeits­arbeit verantwortet und die sozialpädago­gische Arbeit leitet, noch anzumerken hat: „Das funktioniert bei den Männern nicht.“

In Männergefängnissen sind diese Zäune höher, man muss schon drüberklet­tern. Das versucht auch immer mal wie­der einer, obwohl es sinnlos ist, weil hin­ter dem Zaun nicht die Freiheit, sondern die nächste versperrte Tür wartet. „Frauen im Gros“, sagt Rodrigues Silva, „sind bes­ser darin, sich anzupassen.“ Wozu über ei­nen Zaun springen, wenn das nur zu Ärger führt? Wozu überhaupt das Risiko einge­hen, etwas Verbotenes zu tun und erwischt zu werden?

Frauen wird von Kriminolo­gen durchweg eine größere Impulskont­rolle zugesprochen. Demnach lassen sich Frauen weniger zu unüberlegten oder auch illegalen Handlungen hinreißen. Dass nur knapp sechs Prozent der Gefängnisinsas­sen weiblich sind, bedeutet allerdings nicht, dass sie tatsächlich nur knapp sechs Prozent aller Straftaten begehen.

Von allen Tatverdächtigen ist sogar ein Viertel weiblich. Die Polizeiliche Krimi­nalstatistik zählt für das Jahr 2017 zum Beispiel 2.112.715 Tatverdächtige, davon 536.578 Frauen. Und von allen dann vor Gericht zu Geld­ oder Freiheitsstrafen ver­urteilten Delinquenten sind rund zwanzig Prozent Frauen. Ihre Delikte sind aber ten­denziell weniger schwer und ziehen, wenn überhaupt, eher kürzere Haftstrafen nach sich. Extrem selten kommt es zur schwers­ten Bestrafung, der Sicherheitsverwahrung. Am 31. März 2018 saßen in Deutschland 564 Männer in Sicherungsverwahrung, aber nur zwei Frauen.

Gibt es weibliches Verbrechen? Und wenn ja, wie lässt es sich beschreiben? Professor Thomas Bliesener, Leiter des Kri­minologischen Forschungsinstituts Nie­dersachsen, nähert sich ex negativo an: „Je gefährlicher die Tat, je mehr Gewalt, des­to weniger sind Frauen vertreten.“

Das Delikt mit dem höchsten Frauenanteil ist einfacher Diebstahl. 2014 wurden in Deutschland laut Strafverfol­gungsstatistik 64.500 erwachsene Männer und 27.024 erwachsene Frauen nach dem entsprechenden Paragrafen 242 des Straf­gesetzbuches verurteilt. Das entspricht ei­nem Anteil von fast dreißig Prozent weib­licher Täter. Bei Schuldsprüchen wegen bewaffneten Diebstahls hingegen stan­den 2.000 Männern lediglich 168 Frau­en gegenüber.

All dies sind Zahlen aus dem so­genannten Hellfeld. Das Gegenstück dazu nennt man das Dunkelfeld, also Ta­ten, die gar nicht angezeigt wurden oder zu denen sich keine Täter oder Täterin­nen ermitteln ließen. Sind es überpro­portional viele Frauen? Bliesener: „Stu­dien geben keine Hinweise, dass das An­zeigeverhalten anders ist.“

Wenn sich also nicht massenhaft unentdeckte Verbrecherinnen im Dun­kelfeld tummeln, wie lassen sich dann die quantitativen und auch qualitativen Un­terschiede zwischen den Geschlechtern er­klären? „Eine auf der Hand liegende Frage“, findet Bliesener. Allerdings eine, „die sel­ten aufgegriffen wird in der Wissenschaft“.

Gelegentlich aber doch. In ih­rer Dissertation „Straffällige Frauen“ hat die Kriminologin Tanja Köhler 2012 Er­klärungsansätze für den Gender-­Gap zu­sammengetragen. Ein kurzer, unvollstän­diger Streifzug: Im 19. Jahrhundert waren biologische und anthropologische Theo­rien beliebt, die Frauen schlicht intel­lektuell, mental und physisch die Fähig­keit zu Verbrechen absprachen. Die Ano­mie­Theorie aus dem 20. Jahrhundert kap­rizierte sich auf die gesellschaftliche Rolle der Frauen. Sie beschreibt die Motivation für Kriminalität, verkürzt gesagt, so: Wer ein gesellschaftlich erstrebenswertes Ziel nicht mit legalen Mitteln erreichen kann, greift eben zu illegalen. Weibliche Geset­zestreue wird in diesem Modell damit er­klärt, dass die Ziele, nach denen Frauen angeblich streben – Ehe und Familie –, eher nicht durch Verbrechen zu erreichen sind. Auch an dieser These lässt sich eini­ges aussetzen, mindestens, dass heutzutage ziemlich viele Frauen von mehr träumen als von Küche und Kindern.

Durchweg wird Frauen von Kri­minologen mehr Selbstbeherrschung zu­gesprochen als Männern. Was im Ergeb­nis gleich aussieht, lässt jedoch diametral entgegengesetzte Erklärungsmuster zu: Zeigen Frauen konformeres, also auch ge­setzestreues Verhalten, weil sie so geboren sind, oder fügen sie sich in erlernte oder auch aufgezwungene Rollen? Die feminis­tische Theorie betont hier die patriarchale Unterdrückung, die Frauen auch im Ver­brechen passiv macht. Die Kavaliersthe­orie argumentiert konsequent sexistisch: Sie unterstellt, dass Frauen, die delinquent geworden sind, lügen wie gedruckt und von Männern milder beurteilt werden.

Was schließlich die genetische Disposition als solche betrifft, sind wissen­schaftliche Erkenntnisse zur Geschlechter­differenz eher vage. Zwillingsstudien geben zwar Hinweise darauf, dass Veranlagung auch bei Kriminalität eine Rolle spielt. Aber das gilt gleichermaßen für Frauen wie für Männer. Dem X­-Chromosom als sol­chem lässt sich bislang auf valide Weise kei­ne kriminelle Energie zuschreiben.

Was diese Theorien gemeinsam haben, wie seriös oder verschroben sie auch sind: Sie vereinfachen und genera­lisieren – und das ist immer heikel. Eine Frau zu sein ist zwar ein wichtiges, aber eben nur eines von vielen Merkmalen, die einen Menschen ausmachen. Gerade wenn es um Straffälligkeit geht, spielen auch Mi­lieu und Bildung, familiäre und finanzielle Lage, psychische und physische Gesund­heit eine wichtige Rolle. „Viele Frauen bei uns sind substanzabhängig“, sagt Rodrigu­es Silva aus der JVA Berlin, die Frauen sit­zen also oft wegen Beschaffungsdelikten ein. Aber: „Das ist bei Männern genauso.“ Und doch bleibt da diese überdeutliche Diskrepanz zurück zwischen vielen Män­nern, die auf schwierige Lebensverhältnis­se mit Verbrechen reagieren, die sie ins Ge­fängnis bringen – und vergleichsweise we­nigen Frauen, denen das passiert.

Die international forschende Kri­minologin Professor Susanne Karstedt sagt in einem Interview: „Kriminalität ist eine männliche Domäne. Männer sind deutlich häufiger Täter – aber auch Opfer von Gewalt.“ Frauen hingegen seien eben „angepasster“ und „das konformere Ge­schlecht“, sie würden etwa auch weniger zu Alkoholismus und Suizid neigen. Wo­mit Karstedt mit ihrem Kollegen Bliese­ner auf einer Linie liegt, der konstatiert: „Normenvermittlung ist bei Mädchen in­tensiver und strenger.“ Und das heißt auch: Für Mädchen ist Gewalt ein Tabu. Das gilt zwar auch für Jungen und Männer, aber der Verstoß gilt bei ihnen im Zweifelsfall als Ausweis von Männlichkeit. Was sich wiederum auf soziale Prägung ebenso wie auf genetische Disposition zurückführen lassen könnte. Das bei Männern ausge­prägter auftretende Hormon Testosteron ist immerhin bekannt dafür, aggressions­fördernd und ein Faktor bei dissozialem Verhalten zu sein.

An den Klassikern des Genres Gefäng­nisfilm zeigt sich besonders deutlich, wie Anfällig die Gesellschaft für die Pflege tra­dierte Gendermuster ist: Von „Papillon“ mit Dustin Hoffman und Steve McQueen von 1973 über „Brubaker“ mit Robert Redford von 1980 bis „Dead Man Wal­king“ von 1995 mit Sean Penn werden im­mer die Tragödien von Männern erzählt. Im letzten Fall immerhin darf eine Frau, gespielt von Susan Sarandon, den zum Tode verurteilten Helden begleiten. Ge­fängnisserien hingegen kommen beson­ders gut an, wenn sie sich auf weibliche Gefangene konzentrieren. Erfolgreiche Formate wie „Orange Is the New Black“ oder früher einmal die deutsche RTL­Se­rie „Hinter Gittern – der Frauenknast“ ha­ben wenig mit Heroentum zu tun. Sie un­terhalten mit einem Panoptikum böser Mädchen, die zugleich weiblichen Alltags­mustern treu bleiben: Auch hinter Gittern wird rumgezickt und intrigiert, und die meisten Frauen sind schrecklich nachtra­gend – aber zwischendurch auch herzer­greifend solidarisch.

Gefängnis ist kein Spaß. Und wo­möglich hat die geringere Delinquenz von Frauen in der Realität damit zu tun, dass sie das Drama klarer sehen. Oder viel­mehr: dass sie das weibliche Drama klarer sehen. Bei Männern lässt sich Gefängnis eher in die Biografie einarbeiten, im Zwei­felsfall sogar als Ausweis cooler Männlich­keit. „Knast macht Männer“ ist ein griffi­ger Milieuslogan. „‚Knast macht Frauen‘“, weiß Rodrigues Silva durch ihre Arbeit in der JVA für Frauen in Berlin, „würde man nie sagen.“ Für Frauen ist Gefängnis selten Trophäe, oft aber Demütigung und Stigma.

Besonders deutlich illustriert das die Wahrnehmung inhaftierter Eltern: Straffällige Mütter gelten als Rabenmüt­ter. Väter im Knast sind Männer, um de­ren Kinder sich draußen ja wohl die Müt­ter kümmern.

Auch das ist eine Verallgemeine­rung. So wie jedes Label. Jeder Delinquent ist anders. Das Einzige, was die, die deswe­gen ins Gefängnis kommen, unbestreitbar gemeinsam haben, ist der Umstand, dass sie die große Ausnahme sind. Wenn an einem beliebigen Tag etwa 50.000 Men­schen in Deutschland im Gefängnis sitzen, dann heißt das im Umkehrschluss: Über 99,9 Prozent der Bevölkerung tun es gera­de nicht. Und außer dieser Tatsache haben diese 99,9 Prozent nichts, was sie alle mit­einander verbindet. Egal ob sie nun Män­ner oder Frauen sind.