Wie so oft in New York stand auch hier am Anfang das Geld. Eine Hundert-Dollar-Note glitt im 11 Howard, einem eleganten neuen Boutique-Hotel in SoHo, über die polierte Platte des im Stil der Fünfziger-Jahre gehaltenen Empfangstresens. Als Neffatari Davis, genannt „Neff“, die fünfundzwanzig Jahre alte Rezeptionistin, aufblickte, sah sie zu ihrer Überraschung, dass das Geld von einer jungen Frau etwa in ihrem Alter stammte. Das herzförmige Gesicht mit dem Schmollmund war von einem Wirrwarr aus rotem Haar eingerahmt, die Augen von einer gigantischen Sonnenbrille. Sie sei, sagte sie mit einem vage europäischen Akzent, auf der Suche nach dem „besten Essen in SoHo“. „Wie ist Ihr Name?“, fragte Neff. „Anna Delvey“, sagte die junge Frau.
Sie wolle einen Monat bleiben, sagte sie, und auch das überraschte Neff: Normalerweise buchten nur Prominente für einen so langen Zeitraum. Aber Neff sah nach, und tatsächlich: Delvey wohnte im Howard Deluxe, einem Zimmer mittlerer Preislage, 400 Dollar pro Nacht, Keramikskulpturen an den Wänden und übergroße Fenster mit Blick auf die Straßen von SoHo. Es war der 18. Februar 2017.
„Danke“, sagte Delvey. „Man sieht sich.“
Das war wirklich so gemeint. In den nächsten Wochen kam Delvey immer wieder vorbei, um Neff nach Tipps zu fragen, und jedes Mal schob sie ihr hundert Dollar über den Tresen. Neff stellte fest, dass Delvey bereits alle coolen Locations kannte – und nicht nur das, sie kannte auch die Namen der Barkeeper, der Kellner, der Besitzer. „Dieser Gast braucht nicht meine Hilfe“, dämmerte es ihr. „Dieser Gast will meine Zeit.“
Das war nicht ungewöhnlich. Neff aus Washington, D.C., mit Wedge-Frisur, mit Augen so riesig wie die auf Bildern von Margaret Keane, mit einem zahnlückigen Lächeln, hatte sich daran gewöhnt, die Therapeutin für Hotelgäste zu spielen: Ehemänner, die ihre Frauen betrogen, Ehefrauen, die ihre Männer verließen. „Man sitzt herum und hört zu, das ist der Job einer Rezeptionistin“, sagt sie.
Im Allgemeinen kehrten diese Gäste in ihr Leben zurück und überließen Neff sich selbst. Aber aus dem Februar wurde März, und Delvey schaute immer wieder vorbei. Sie brachte Essen mit oder ein Glas sehr trockenen Weißwein, dann setzte sie sich neben Neffs Tresen und unterhielt sich mit ihr. Einigen Hotelangestellten ging Anna gehörig auf die Nerven. Für eine so reiche Person konnte sie ausgesprochen unhöflich sein: Bitte und danke gehörten nicht zu ihrem Wortschatz, und manchmal gab sie Sätze von sich, „nicht rassistisch“, sagt Neff, „sondern klassistisch.“ („Na, ihr Schlampen, seid ihr pleite?“, fragte Anna einmal sie und eine Kollegin.) Aber für Neff klang das nicht bösartig. Eher, als wäre sie eine altmodische Prinzessin, die aus einem antiken europäischen Schloss in die moderne Welt verpflanzt worden war, obwohl Anna sagte, sie komme aus dem Deutschland von heute und ihr Vater besitze eine Fabrik für Solaranlagen.
Sie sei dabei, ein Business aufzuziehen, einen Club, ein bisschen wie das Soho House, erzählte sie Neff, für die Kunstszene, mit Dependancen in L.A., London, Hongkong und Dubai. Neff wurde praktisch zu ihrer Sekretärin und organisierte Geschäftsessen und Dinner in Restaurants. „Darum geht es bei den Reichen doch, ums Essen“, sagt Neff.
Manchmal erschien Delvey, wenn am Empfang gerade viel zu tun war. Dann stellte sie sich an den Tresen und blätterte Geldscheine auf die Platte, bis Neff auf sie aufmerksam wurde. „Ich sagte: ‚Anna, da sind acht Leute.‘ Aber sie ließ sich nicht stören.“ Und auch wenn Neff Anna allmählich nicht mehr nur als Hotelgast, sondern als Freundin sah, eine echte Freundin, nahm sie ihr Geld, ohne zu zögern. „Ein bisschen selbstsüchtig von mir“, räumte sie später ein. „Aber … tja.“
Wer wollte ihr das vorwerfen? Es war das Manhattan des 21. Jahrhunderts, und Geld hat mehr Macht als je zuvor. Welcher Städter würde nicht die Hände ausstrecken, wenn es plötzlich Bargeld regnet? Natürlich hängen fast immer Ketten an diesem Geld, manchmal fast unsichtbare.
1. Gebot: Gib ordentlich Trinkgeld, geh auf die wichtigen Partys und in die angesagten Restaurants
Eine Zeitlang speiste Anna Delvey beachtliche Summen in die New Yorker Szene ein. „Sie gab allen etwas“, sagte Neff. „Zum Beispiel hundert Dollar Trinkgeld für den Uber-Fahrer.“
Anna gab Geld aus, als könnte sie es nicht schnell genug loswerden. In ihrem Zimmer stapelten sich Einkaufstüten von Acne und Supreme, und zwischen ihren Meetings spendierte sie Neff Fußmassagen, Kryotherapie und Maniküren.
Neffs Freund verstand nicht, warum sie so viel Zeit mit dem komischen Mädchen verbrachte. Anna verstand nicht, wieso Neff einen Freund hatte. Aber er ist reich, protestierte Neff. Er hatte ihr versprochen, ihren ersten Film zu finanzieren. „Schick ihn in die Wüste“, riet Anna ihr. „Ich hab mehr Geld.“ Sie würde den Film finanzieren.
Neff trennte sich von ihrem Freund. Nicht, weil Anna das gesagt hatte, behauptete sie. Anna kannte jeden. Abends gab sie im Le Coucou große Dinnerpartys für Unternehmer, Künstler, Sportler und andere Berühmtheiten. Eines Abends saß Neff neben dem Schwarm ihrer Kindheit, dem Schauspieler Macaulay Culkin („Kevin – Allein zu Haus“).
Anna verhielt sich wie eine Nomadin, dabei gehörte sie schon lange zur New Yorker Szene. „Sie ging zu den besten Partys“, sagte Marketingchef Tommy Saleh, der sie bei der Fashion Week 2013 in Paris kennengelernt hatte. Delvey hatte ein Praktikum bei dem europäischen In-Magazin „Purple“ gemacht und kannte den Chefredakteur offensichtlich sehr gut. „Sie stellte sich vor, sie war angenehm und sehr höflich“, sagte Saleh. „Und plötzlich hingen wir zusammen mit meinen Freunden ab.“
Schon bald war Anna überall dabei. „Sie schaffte es, immer an den angesagten Plätzen zu sein“, erinnert sich eine Bekannte, die Anna 2015 bei der Party eines Start-ups kennengelernt hatte. „Sie trug immer Designerkleidung – Balenciaga oder auch Alaïa –, und jemand erzählte, sie sei mit einem Privatjet hergekommen.“ Es war unklar, woher Anna eigentlich stammte – sie sagte, sie sei aus Köln, aber ihr Deutsch war nicht so gut – oder wie sie zu Geld gekommen war. Aber das war nicht ungewöhnlich. „Hier laufen so viele Kids mit Treuhandkonten rum“, sagte Saleh. „Jeder ist dein bester Freund, aber im Grunde weiß man über keinen etwas.“
Nachdem ein Galerist sie mit Michael Xufu Huang, dem sehr jungen, sehr schicken Sammler und Gründer des M Woods Museum in Peking, bekannt gemacht hatte, schlug Anna eine gemeinsame Reise zur Biennale in Venedig vor. Huang fand es „ein bisschen seltsam“, dass Anna ihn bat, die Flugtickets und das Hotel mit seiner Kreditkarte zu buchen. „Aber ich dachte: Okay, von mir aus“, sagte er. Er fand es auch merkwürdig, dass Anna dort nur bar zahlte und nach ihrer Rückkehr wohl vergaß, dass sie versprochen hatte, ihm das Geld zurückzuzahlen. „Es war nicht viel“, sagte er. „Zwei- oder dreitausend Dollar vielleicht.“ Nach einiger Zeit dachte Huang kaum noch daran.
Als Superreicher kann man sich Vergesslichkeit leisten. Womöglich fiel es deshalb niemandem auf, dass Annas Verhalten ungewöhnlich für reiche Leute war: eine Freundin bitten, dass sie ihr mit ihrer Kreditkarte ein Taxi zum Flughafen schickte; jemanden nach einem Schlafplatz auf der Couch fragen; in die Wohnung von Bekannten ziehen mit der stillschweigenden Übereinkunft, dass sie Miete zahlen würde … und es dann nicht tat. Vielleicht hatte sie so viel Geld, dass sie einfach den Überblick verloren hatte.
Im folgenden Januar beauftragte Anna eine PR-Agentur, ihre Geburtstagsparty in einem ihrer Lieblingsrestaurants in SoHo zu organisieren. „Viele sehr coole, sehr erfolgreiche Leute waren da“, sagte Huang, den es nicht weiter kümmerte, dass Anna ihm immer noch das Geld für den Venedig-Trip schuldete, bis ihm der Restaurantchef, der bei Instagram Polaroids von ihm und Anna auf der Party gesehen hatte, ein paar Tage später eine SMS schickte. „So was wie: ‚Haben Sie ihre Kontaktdaten? Sie hat ihre Rechnung nicht bezahlt.‘ Und plötzlich wird mir klar: O Gott, sie ist ein Fake.“
Während Anna um den Globus reiste, spekulierte man, woher ihr Geld kam, auch wenn es niemanden so wirklich interessierte.
Delveys Vater war Diplomat in Russland, wusste ein Freund. Nein, insistierte ein anderer, er war Ölmagnat. „Soweit ich wusste, gehörte sie zum Delvey-Clan, einflussreiche Antiquitätenhändler in Deutschland“, sagte ein anderer Bekannter, Hightech-Millionär und Firmenchef. Es ist nicht klar, welchen Clan er meinte. Er hatte Anna durch deren Freund kennengelernt, mit dem sie eine Weile gesehen wurde, ein Zukunftsforscher im Umfeld der TED-Talks, der im „New Yorker“ porträtiert worden war. Etwa zwei Jahre lang waren sie als Team aufgetreten, sie zogen mit dem Wanderzirkus der Reichen herum, wohnten in angesagten Hotels und gaben hippe Dinnerpartys, bei denen der Futurist über seine App sprach und Delvey über den privaten Kunstclub, den sie eröffnen wollte, sobald sie fünfundzwanzig Jahre alt war und an ihr Treuhandkonto kam.
2. Gebot: Denk dir ein teures Kulturprojekt aus, das alle toll finden
Dann kam das Jahr 2016. Der Zukunftsforscher, der mit seiner App nie fertig geworden war, zog in die Emirate, und Anna kehrte allein nach New York zurück, wild entschlossen, ihren Kunstclub auf die Beine zu stellen. Zu Marc Kremer, einem Londoner Kreativdirektor, der ihr mit der Markenentwicklung half, sagte sie, ihre Namensidee – Anna Delvey Foundation oder ADF – sei womöglich „zu narzisstisch“.
Schon bald fanden Anna und der Architekt Ron Castellano ein Gebäude in der Lower East Side. Allerdings lag es zu nah an einer Schule, um eine Ausschanklizenz zu bekommen, und so begann Anna sich eher für die besseren Stadtviertel zu begeistern. Über Freunde hatte sie Gabriel Calatrava kennengelernt, einen Sohn des berühmten Architekten Santiago Calatrava. Mithilfe der Immobilienfirma seiner Familie habe sie sich „den Mietvertrag gesichert“, erzählte sie, für eine perfekte Location: 4.200 Quadratmeter auf sechs Etagen im alten Church Missions House, einem denkmalgeschützten Gebäude Ecke Park Avenue und 22nd Street. Das Herz des Clubs solle ein „dynamisches Zentrum für Visual Arts“ bilden, mit wechselnden Pop-up Läden, mit Ausstellungen und Installationen von hochkarätigen Künstlern wie Urs Fischer, Damien Hirst, Jeff Koons und Tracey Emin. Für die Eröffnung habe Christo sich bereit erklärt, das Gebäude zu verhüllen, erzählte Anna. Manche Leute hoben die Augenbrauen angesichts eines derartigen Projekts, aber andere fanden, dass es gut zu New York passte. Der Hausbesitzer, der Bauunternehmer Aby Rosen, kannte sich mit Privatclubs aus: Ein paar Jahre zuvor hatte er im Stadtzentrum ein Haus gekauft und den Core Club gegründet, der auch eine Kunstsammlung beherbergte.
Calatravas rechte Hand Michael Jaffe unterstützte Anna und vermittelte ihr Kontakte zu Gastronomiegrößen, mit denen sie über das Potenzial ihres Projekts diskutierte. Aber ein Plan dieser Größenordnung erforderte mehr Kapital, als Anna mit ihren angeblich so enormen Ressourcen aufbringen konnte: etwa 25 Millionen Dollar, „zusätzlich zu den schon vorhandenen 25 Millionen“, schrieb Anna 2016 an einen bekannten Journalisten im Silicon Valley. „Falls Sie uns behilflich sein können und jemanden kennen, der gut zu diesem Projekt passen würde.“ Doch im Herbst wollte Anna von privaten Investoren nichts mehr wissen, auch weil sie jede Art von Einmischung ablehnte.
Um beim Mietvertrag zu helfen, hatte einer von Annas „Finanzfreunden“ sie an Joel Cohen verwiesen, der vor allem als Ankläger von Jordan Belfort alias „Der Wolf der Wall Street“ bekannt geworden war. Cohen arbeitete jetzt bei einer großen Kanzlei mit Schwerpunkt Immobilien. Er vermittelte ihr den Kontakt zu Andy Lance, einem Partner mit genau der fachlichen Kompetenz, die Anna suchte. Sie hatte sich manchmal bei Freunden beklagt, sie fühle sich als Frau und wegen ihrer Jugend von älteren Anwälten herablassend behandelt. Aber Lance war anders. „Er weiß, wie man mit Frauen redet“, sagte sie. „Und er hat mir genau erklärt, was ich wissen muss, und das kein bisschen überheblich.“ Anna ließ durchblicken, dass sie jeden Tag mit Lance sprach. „Er war immer für mich da. Ich konnte ihn mitten in der Nacht anrufen, auch Weihnachten, als er auf den Turks- und Caicosinseln war.“
Nachdem Anna das Mandantenformular ausgefüllt hatte, in dem man auch ankreuzen musste, dass man die Honorare bezahlen konnte und der Firma nichts schuldig bleiben würde, vermittelte Lance sie an mehrere große Geldinstitute, unter anderem die City National Bank in Los Angeles und die Fortress Investment Group. „Unsere Mandantin Anna Delvey plant eine sehr interessante Neugestaltung der Immobilie 281 Park Avenue South und wird dabei von einem großartigen Team unterstützt, das sich mit derartigen Immobilien bestens auskennt“, schrieb Lance in einer E-Mail, in der er erklärte, dass Anna das Darlehen benötigte, weil „ihre bedeutenden Finanzmittel außerhalb der USA fest angelegt sind, einige in Treuhandfonds der UBS.“ Das Darlehen würde durch einen Kreditbrief der Schweizer Bank „in voller Höhe abgesichert“.
Als der Banker von der City National nach den Unterlagen der UBS fragte, bekam er Listen mit Zahlen von einem gewissen Peter W. Hennecke. „Bitte begnügen Sie sich für den Moment mit diesen Angaben“, schrieb Hennecke in einer E-Mail. „Am Montag sende ich Ihnen die Kontoauszüge.“
„Frage: Sind Sie von der UBS?“, antwortete der Banker, der sich über Henneckes AOL-Adresse wunderte.
„Nein“, antwortete daraufhin Anna. „Peter leitet das Büro meiner Familie.“
Im April wurde es Frühling in New York und so warm, dass man auf dem Dach Rosé trinken konnte – eine von Annas Lieblingsbeschäftigungen, auch wenn ihr Kreis kleiner geworden war, wie Neff feststellte: Er bestand hauptsächlich aus ihr, Rachel Williams, Bildredakteurin bei „Vanity Fair“, und einer Personal Trainerin und Lebensberaterin, die mit Prominenten wie Dakota Johnson arbeitete und wesentlich älter als Anna war, weshalb sie ein mütterliches Interesse an ihrer Klientin entwickelt hatte. „Ich kenne viele solche Treuhandbabys, und es beeindruckte mich, dass Anna wirklich etwas tun wollte, statt zu leben wie zum Beispiel eine Kardashian“, sagte die Trainerin. Außerdem fand sie, dass Anna einsam wirkte. Das war auch Neff aufgefallen. „Was ist mit deinen Freunden passiert?“, fragte sie Anna, nachdem sie einen Abend ausgegangen waren. „Ach“, sagte Anna vage. „Sie waren alle sauer, als ich von ‚Purple‘ weg bin.“ Sie habe sowieso keine Zeit mehr für Partys, sagte sie, sie müsse das Business aufbauen.
Anna arbeitete tatsächlich sehr viel, beobachtete ständig stirnrunzelnd ihren E-Mail-Eingang, knurrte ins Telefon. „Sie telefonierte die ganze Zeit mit Anwälten“, sagte Neff, die am Empfangstresen zuhörte.
3. Gebot: Bleib cool, wenn die ersten Schecks platzen, und tu so, als seien die anderen schuld
Im folgenden Dezember lehnte City National Annas Kreditantrag ab – eine Entscheidung des Managements, so Anna. Während der stets loyale Andy Lance sich auf der Suche nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten um Hedgefonds und Banken bemühte, drängte die Rosen-Gruppe, das Geld nun rasch einzuzahlen. Sonst würden sie die Immobilie anderweitig vermieten, Gerüchten zufolge dem schwedischen Museum Fotografiska.
Inzwischen hatte Anna auch im Alltag Geldprobleme. Eines Abends lud sie Neff zum Essen in SoHo ein. Anders als sonst waren sie nur zu zweit. Und anders als sonst wurde Annas Kreditkarte beim Bezahlen abgelehnt. „Hier“, sagte sie zum Kellner und gab ihm eine Liste mit Kartennummern. Neff erinnert sich nicht genau, ob sie in einem kleinen Heft oder in einer App standen. Aber sie erinnert sich genau, was dann passierte. „Der Kellner ging zur Kasse und gab die Zahlen ein, eine nach der anderen. Es waren ungefähr zwölf, und er probierte alle“, sagte sie. „Er tippte sie ein und schüttelte schließlich den Kopf. Und mir brach der Schweiß aus, weil ich wusste, dass ich die Rechnung zahlen musste.“ Während die 286 Dollar ein Bruchteil von dem waren, was Anna normalerweise ausgab, waren sie für Neff sehr viel. Ihr wurde fast übel, aber nachdem Anna so viel für sie ausgegeben hatte, war jetzt sie an der Reihe.
Kurze Zeit später rief Neffs Manager sie zu sich: Anscheinend hatte das Hotel keine Kreditkartendaten von Anna Delvey. Weil das 11 Howard bei ihrer Ankunft gerade erst eröffnet hatte und weil Anna so ungewöhnlich lang blieb und sie eine Geschäftspartnerin von Aby Rosen war, hatte das Hotel einer Überweisung zugestimmt. Aber sechs Wochen später war immer noch kein Geld da, und Anna schuldete dem Hotel nun rund 30.000 Dollar.
Neff wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie war überzeugt, dass Anna zahlen würde. Am Tag nach dem Debakel in SoHo hatte sie ihr den dreifachen Betrag zurückgegeben. Bar.
Als Anna am nächsten Tag zu ihr an den Empfang kam, nahm Neff sie beiseite und sagte, das Management wolle, dass Anna ihre Rechnung bezahle. Anna nickte, hinter der Sonnenbrille waren ihre Augen nicht zu erkennen. Das Geld sei bereits überwiesen, sagte sie. Es würde bald eintreffen. Später in der Schicht kam Anna wieder zu Neff und sagte mit einem verschmitzten Lächeln, ein Paket sei unterwegs. Als Neff es öffnete, war es eine Kiste mit 1975er Dom Pérignon und einer Nachricht von Anna, ihn an die Angestellten zu verteilen. Neff zögerte. Geschenke, besonders in flüssiger Form, mussten von der Direktion genehmigt werden. „Sie sagten: ‚Wie sollen wir das genehmigen, wenn sie die Rechnung nicht bezahlt?‘ Also sprachen sie Anna an. ‚Wir brauchen das Geld, oder Sie kommen nicht mehr in Ihr Zimmer.‘“
Eines Morgens kam Anna völlig aufgelöst zum Treffen mit ihrer Trainerin. „Können wir heute Lebensberatung machen?“, bat sie. Sie versuche, etwas aufzubauen, etwas auf die Beine zu stellen, und kein Mensch nehme sie ernst. „Weil ich so jung bin …“, schluchzte sie. „Ich habe doch gesagt, dass das Geld bald da ist. Ich lasse es überweisen.“
Die Trainerin sagte, sie solle tief einatmen. „Ich habe den Eindruck, du bist gerade ziemlich überfordert“, befand sie. „Vielleicht brauchst du einfach eine Pause.“
Dann geschah ein Wunder. Die Citibank überwies 11 Howard im Auftrag von Ms. Anna Delvey 30.000 Dollar. Neff rief Anna an. „Wo bist du?“, fragte sie. „Auf der anderen Straßenseite im Rick Owens“, antwortete Anna. Neff sah auf die Uhr: Es war ihre Mittagspause. Als sie das Geschäft betrat, hielt Anna ein T-Shirt hoch. „Schau mal, was ich gefunden habe“, sagte sie strahlend. „Es passt perfekt zu dir.“ Sie hatte recht: Das Shirt hatte genau die orangerote Farbe wie in der gruseligen Badezimmerszene in „The Shining“, einem von Neffs Lieblingsfilmen, und die Signalfarbe der Marke, die Neff lancieren wollte. Und es kostete 400 Dollar. „Ich möchte es dir schenken“.
4. Gebot: Die anderen erwarten Demut? Du machst deinen Lifestyle noch teurer und extravaganter
Einige Wochen darauf erzählte Anna Neff, sie würde nach Omaha reisen. „Ich treffe mich mit Warren Buffett“, kündigte sie bedeutungsvoll an. Einer ihrer Banker hatte sie auf die Gästeliste der jährlichen Investment Conference von Buffetts Berkshire Hathaway Inc. gesetzt.
Allerdings gab es immer noch ein Problem mit 11 Howard. Obwohl die Direktion sie wiederholt darum gebeten hatte, hatte sie dem Hotel keine gültige Kreditkarte gegeben, und ihre Ausgaben nahmen weiter zu. Das Hotel machte seine Ankündigung wahr, und so wurde der Code von Annas Zimmertür geändert und ihre Sachen in einen Lagerraum gebracht. Neff schickte Anna eine SMS mit den schlechten Nachrichten nach Omaha.
„Wie können sie nur?“, fragte Anna wütend, wobei ihr Schock nicht lange anhielt. Die Konferenz sei super gelaufen. Das Beste war am letzten Tag passiert, als Anna und ihre Banker, nachdem sie allen Luxus genossen hatte, den Omaha zu bieten hatte, den Rat eines Taxifahrers befolgten und den Zoo besuchten. Sie hatten nicht viel erwartet, aber als sie herumfuhren, fanden sie sich bei einer privaten Dinnerparty wieder, die Buffett für einen Haufen VIPs gab. „Jeder war da“, sagte sie. „Leute wie Bill Gates.“
Als Anna ins 11 Howard zurückkam, ließ sie ihrem Zorn freien Lauf. Sie wollte Webdomains auf die Namen aller Manager kaufen, ein Trick, den sie von Shkreli gelernt hatte: „Eines Tages werden sie mich dafür bezahlen.“ Und sie wollte ausziehen – sobald sie von Marokko zurückkam. Nach dem Vorbild von Khloé Kardashian hatte sie im La Mamounia, einem Luxusresort in Marrakesch, eine 700-Quadratmeter-Privatvilla für 7.000 Dollar am Tag inklusive Pool und privatem Butler gebucht und fragte Neff, ob sie sich ihr, der Trainerin, Rachel Williams und einer Videofilmerin anschließen wolle, die „eine Hintergrunddokumentation“ darüber drehen sollte, wie sie im Urlaub ihre Kunststiftung ins Leben rief. Sie würden mit Massagen geweckt werden und tagsüber den Souk erkunden und am Pool abhängen. Neff wollte unbedingt mit, aber das Hotel lehnte acht Tage Urlaub kategorisch ab. „Kündige doch einfach“, sagte Anna leichthin.
Ein, zwei Tage dachte Neff darüber nach. Schließlich blieb sie zu Hause und verfolgte die Reise ihrer Freunde trübsinnig auf Instagram. „Ich war total eifersüchtig“, sagte sie.
Später fand sie heraus, dass die Bilder nicht die ganze Wahrheit zeigten. Schon zwei Tage nach ihrer Ankunft war die Trainerin mit einer üblen Lebensmittelvergiftung nach New York zurückgekehrt.
Etwa eine Woche später bekam die Trainerin einen Anruf von einer hysterischen Anna, die allein im Four Seasons in Casablanca saß. Es gebe ein Problem mit der Bank, weinte sie. Ihre Kreditkarten wurden nicht akzeptiert, und das Hotel drohte ihr mit der Polizei. Die Trainerin beruhigte Anna und sprach dann mit der Direktion. „Sie sagten so was wie: ‚Sie wird verhaftet‘“.
Die Trainerin war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite war das nicht ihr Problem. Auf der anderen Seite war Anna ihre Klientin, ihre Freundin und fast wie ihre Tochter. Mit einem Stoßgebet gab die Trainerin dem Hotel ihre Kartennummer und rief ihre Bank an, als die Karte abgelehnt wurde. Als sie danach immer noch nicht funktionierte, tat die Trainerin noch mehr: Sie rief eine Freundin an und ließ sich deren Kartennummer geben. Als auch die nicht akzeptiert wurde, gab der Hotelmanager zu, dass das Problem bei ihnen liegen könnte.
Damals versicherte die Trainerin dem Hotel in Casablanca, dass Anna die Forderung ausgleichen würde. „Vertrauen Sie mir“, sagte sie dem Management. „Ich weiß, dass sie es tun wird. Ich war gerade zwei Tage mit ihr in Marrakesch.“ Als Anna wieder am Telefon war, sagte die Trainerin ihr, dass sie ihr ein Ticket nach New York buchen würde. Anna bedankte sich schniefend. Dann bat sie um einen letzten Gefallen: „Könntest du mir erste Klasse buchen?“
5. Gebot: Wenn es irgendwo zu heiß wird, zieh einfach weiter
Ein paar Tage später fuhr ein silberner Tesla vor dem 11 Howard vor. Neff war am Empfang und fühlte ihr Handy vibrieren. „Schau aus dem Fenster“, sagte die Stimme mit dem bekannten deutschen Akzent. Die Flügeltüren hoben sich, und Anna stieg aus dem Wagen. „Ich will mein Zeug abholen“, sagte sie.
Anna checkte tatsächlich aus. Sie ziehe ins Beekman Hotel in Manhattan, erzählte sie Neff und fuhr in dem Auto davon, das ihr jemand vermietet haben musste, wie Neff erst später klar wurde. Der Umzug löste die zunehmenden Probleme Annas nicht. Sie hatte nicht nur Schulden beim Hotel, sondern auch Marc Kremers in London, der Designer, den sie für den Aufbau ihrer Marke engagiert hatte, wurde langsam nervös: Das Honorar von 16.800 Pfund, das sie ihm vor beinahe einem Jahr versprochen hatte, stand immer noch aus, und Mails an Annas Finanzberater Peter W. Hennecke kamen zurück. „Peter ist vor einem Monat verstorben“, erklärte Anna.
Im Nachhinein lässt sich erklären, warum Anna Delvey so kurz angebunden war. Ihre Situation in New York verschlechterte sich gerade rapide. Nach zwanzig Tagen bemerkte das Beekman Hotel, dass es keine gültige Kreditkarte in den Unterlagen hatte und dass die zur Deckung der inzwischen 11.518,59 Dollar versprochene Überweisung nicht eingetroffen war. Die Direktion schloss Anna aus ihrem Zimmer aus und konfiszierte ihr Hab und Gut. Am 5. Juli war Anna obdachlos und streifte in abgetragenen Sportklamotten von Alexander Wang durch die Straßen.
Eines Abends rief sie ihre Trainerin an. „Ich bin ganz in deiner Nähe“, sagte sie. „Können wir reden?“
Die Trainerin zögerte: Sie hatte gerade ein Rendezvous. Aber Anna klang so verzweifelt. Vor ihrer Wohnung fand sie eine tränenüberströmte Anna. „Ich will das unbedingt durchziehen“, jammerte sie. „Und es ist so schwer.“
Vielleicht solle sie ihre Familie anrufen, schlug die Trainerin vor. Das würde sie ja tun, antwortete Anna, aber ihre Eltern seien in Afrika. „Ist es dir recht, wenn ich heute Nacht bei dir penne?“ Nein, sagte die Trainerin, sie habe ein Date.
„Ich will einfach nicht allein sein“, schniefte Anna.
Das Date versteckte sich im Schlafzimmer, während die Trainerin ihrem unerwarteten Gast ein Bett machte und ihr ein Glas Wasser anbot. „Hast du zufällig Pellegrino?“, fragte Anna. Eine Flasche war noch da. Anna beachtete die beiden Gläser auf dem Tisch nicht und trank direkt aus der Flasche. „Ich bin so müde.“
Als Anna schlief, besann sich die Trainerin auf ihr Bauchgefühl. „Schließlich bin ich in New York aufgewachsen“, erzählte sie mir später. „Ich bin ja nicht doof.“ Sie simste an Rachel Williams und erfuhr von ihr, was im La Mamounia passiert war: Nachdem die Trainerin nach New York zurückgeflogen war, stellte sich heraus, dass Annas Kreditkarte nicht funktionierte, und als Anna die Rechnung auch nicht anders zahlen konnte und ein paar gefährlich aussehende Schlägertypen auftauchten, musste die Videofilmerin mit ihrer Amex-Karte, die sie manchmal beruflich nutzte, die Summe übernehmen – 62.000 Dollar, mehr, als sie in einem Jahr verdiente. Anna hatte eine Überweisung versprochen, aber nach einem Monat erhielt Rachel gerade 5.000 Dollar und dazu „kafkaeske“ Entschuldigungen.
Am nächsten Morgen entschloss sich die Trainerin zu einem klaren Schnitt. Sie lieh Anna ein sauberes Kleid, in dem Anna verschwand. Aber Anna ließ ihren Laptop zurück. Die Trainerin hinterlegte den Computer am Tresen und schrieb Anna eine SMS, sie könne ihn dort abholen.
Abends bekam die Trainerin einen Anruf vom Portier. Anna war in der Lobby. Er hatte ihr gesagt, die Trainerin sei nicht zu Hause, woraufhin Anna Zutritt zu der Wohnung verlangt hatte. Als er ablehnte, hatte Anna beschlossen, auf ihre Rückkehr zu warten.
„Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie geht“, bat die Trainerin den Portier.
Aber die Stunden gingen vorüber, und Anna rührte sich nicht. „Es hieß: ‚Sie ist immer noch hier. Sie schreibt SMS‘“, erinnert die Trainerin sich. „Ich fühlte mich wie eine Gefangene in meiner eigenen Wohnung.“ Erst nach Mitternacht verschwand Anna.
Die Erleichterung der Trainerin verwandelte sich rasch in Sorge. „Ich rief die diversen Hotels an, und in einigen Hotels sprach man von ‚diesem Mädchen‘“, sagte sie.
Ein paar Wochen später fand sie heraus, dass Beekman und das W Hotel Anna wegen Erschleichung von Dienstleistungen angezeigt hatten. MÖCHTEGERN-PROMI VERHAFTET, WEIL SIE IN TEUREN HOTELS DIE ZECHE PRELLT, verkündete die „New York Post“ und berichtete, wie Anna ein Restaurant verlassen wollte, ohne zu zahlen. „Warum machen Sie denn so ein Theater?“, hatte sie der Polizei gegenüber protestiert. „Geben Sie mir fünf Minuten, und ein Freund zahlt für mich.“
Aber kein Freund tauchte auf. Vielleicht sei alles ein Missverständnis, erklärte Anna dem Anwalt Todd Spodek, der sie in dieser Sache vertreten sollte. Vielleicht war die selbstbewusste junge Frau in dem Audrey-Hepburn-Kleid, die ihn so oft auf dem Handy angerufen und von einem Notfall gesprochen hatte, bis er schließlich am Samstag in sein Büro gekommen war –, vielleicht war sie ja wirklich eine reiche deutsche Erbin, dachte er, vielleicht waren ihre Kreditkarten einfach blockiert, oder jemand hatte sich ihren Treuhandfonds unter den Nagel gerissen. Zur Sicherheit ließ Spodek, zu dessen Mandanten Betrüger, Vergewaltiger, Cyberkriminelle und andere Gangster gehören, Anna ein Pfandrecht auf ihr Vermögen unterzeichnen, sodass er auf jeden Fall sein Honorar bekäme. Auf dem Weg nach draußen bat sie ihn um einen Gefallen. „Ich brauche einen Platz zum Übernachten“, sagte sie. Spodek stellte sich taub. Das Letzte, was seine Frau wollte, war, dass er jemanden mit nach Hause brachte.
Anna rief wieder die Trainerin an, die sie nicht zu sich einlud, sondern ein Treffen in einem Restaurant in der Nähe organisierte, bei dem sie und Rachel Williams versuchten, Antworten zu bekommen: Warum Anna das alles gemacht hatte, wer sie in Wirklichkeit war, ob sie jemals vorgehabt hatte, ihre Schulden zu bezahlen. Anna druckste herum und stotterte und redete sich heraus und machte Ausflüchte, und als die beiden Frauen immer wütender wurden, ließ sie dicke Tränen über ihre Wangen rollen. „Ich werde bald genug haben, um alles zu bezahlen“, schniefte sie. „Sobald ich den Mietvertrag in der Tasche habe …“
„Anna“, sagte die Trainerin mit einem letzten Rest Geduld. „Das Gebäude ist inzwischen vermietet.“
Sie hielt ihr iPhone hoch und zeigte ihr die Schlagzeile: FOTOGRAFISKA UNTERZEICHNET EINEN VERTRAG FÜR 45.000 DOLLAR MIETE FÜR DAS GEBÄUDE VON ABY ROSEN.
„Fake News“, sagte Anna.
6. Gebot: Bleib dir im Gefängnis treu und versuche, von den Tricks der anderen zu lernen
„Hat Fotografiska das Gebäude wirklich bekommen?“, fragte die dünne Stimme mit Akzent, die von Rikers Island kam, wo Anna Delvey alias Anna Sorokin seit Oktober 2017 in Untersuchungshaft sitzt.
Wie sich herausstellte, waren Annas Hotelrechnungen nur die ersten losen Fäden in einem Geflecht von Betrügereien, das ab November 2016 allmählich aufgedröselt wurde, nachdem sie der City National Bank Dokumente über angeblich 60 Millionen Euro auf Schweizer Konten vorgelegt hatte als Sicherheit für ein Darlehen über 22 Millionen Dollar. Im folgenden Monat zeigte sie Fortress die gleichen Dokumente, um ein Darlehen von 25 bis 35 Millionen Dollar zu bekommen. Nachdem diese Bank für die Überprüfung einen Betrag von 100.000 Dollar gefordert hatte, überredete sie einen Angestellten von City National, ihr einen Überziehungskredit von 100.000 Dollar zu bewilligen, die sie dann an Fortress überwies. Als Fortress jedoch Vertreter in die Schweiz schicken wollte, um ihre Vermögenslage persönlich zu überprüfen, bekam Anna offensichtlich Angst und stoppte das Verfahren. Die von Fortress noch nicht verbrauchten 55.000 Dollar parkte sie auf einem Konto der Citibank und nutzte sie für „persönliche Ausgaben … Einkäufe bei Forward, Elyse Walker, Apple und Net-a-Porter“, so die Staatsanwaltschaft von New York. Im April zahlte sie 160.000 Dollar in ungedeckten Schecks auf dieses Konto ein und schaffte es, 70.000 Dollar abzuheben, bevor die Schecks platzten, und damit nicht nur ihre Schulden beim Hotel 11 Howard zu zahlen, sondern weiterhin mit Bargeld um sich zu werfen.
Im Mai brachte sie die Firma Blade dazu, ihr für 35.000 Dollar einen Privatjet nach Omaha zu chartern, indem sie ihr einen gefälschten Überweisungsbeleg der Deutschen Bank schickte. Wahrscheinlich half es ihr, dass sie die Visitenkarte des Geschäftsführers besaß, den sie im Soho House flüchtig kennengelernt hatte.
Annas verstorbener „Familienfinanzberater“ Peter W. Hennecke war anscheinend ein Phantom. Seine Handynummer gehörte zu einem nicht mehr funktionierenden Wegwerfhandy aus einem Supermarkt. Später im Sommer, als bereits gegen Anna ermittelt wurde, zahlte sie zwei faule Schecks auf ein Konto bei der Signature Bank ein, die ihr 8.200 Dollar einbrachten, die sie für einen „geplanten Trip“ nach Kalifornien einsetzte. Dort wurde sie in einer Entzugsklinik in Malibu verhaftet und nach New York zurückgebracht, wo die Anklageschrift ihr Folgendes vorwarf: schwerer Diebstahl und versuchter schwerer Diebstahl, dazu Erschleichung von Dienstleistungen. „Ich mag Los Angeles“, kicherte sie, als ich sie im März auf Rikers Island besuchte. „L.A. im Winter, New York im Frühling und im Herbst, Europa im Sommer.“
Die Leute sahen neugierig zu ihr herüber. „Sie ist hier ein Paradiesvogel“, hatte ihr Anwalt Todd Spodek mir berichtet. „Die anderen sitzen, weil sie zum Beispiel den Vater ihres Kindes erstochen haben.“ Er hatte erwähnt, dass seine Mandantin das Gefängnis ungewöhnlich locker nahm, und damit hatte er offensichtlich recht.
„Hier ist es gar nicht so übel“, sagte Anna, und ihre Augen funkelten hinter ihrer Céline-Sonnenbrille. „Die Leute finden es hier wohl ziemlich schrecklich, für mich ist es eher ein soziologisches Experiment.“
Natürlich hatte sie Freundinnen gefunden. „Hier sitzen auch ein paar Mädchen wegen Wirtschaftskriminalität“, erzählte sie mir. „Ein Mädchen hat fremde Identitäten gestohlen. Ich hatte keine Ahnung, dass es so einfach ist.“
Drei Monate lang telefonierte ich immer wieder mit Anna und besuchte sie auch ein paar Mal, wobei ich ihr auf ihren Wunsch „Forbes“, „Fast Company“ und das „Wall Street Journal“ mitbrachte. Sie trug einen beigen Overall; ihre 800 Dollar teuren Strähnchen waren verblasst, ihre 400-Dollar-Wimpernverlängerungen längst abgefallen, und sie sah wie ein normales Mädchen von siebenundzwanzig Jahren aus.
Anna Sorokin wurde 1991 in Russland geboren und kam 2007, mit sechzehn Jahren, mit ihrem jüngeren Bruder und ihren Eltern nach Deutschland. Ihre Eltern wollen anonym bleiben, da die Verhaftung ihrer Tochter sich in ihrer Kleinstadt auf dem Land noch nicht herumgesprochen hat.
Anna besuchte das Gymnasium im sechzig Kilometer von Köln entfernten Eschweiler, nahe der belgischen und niederländischen Grenze. Ihre Klassenkameraden haben sie als ruhig in Erinnerung, ihr Deutsch als unbeholfen. Ihr Vater hatte als Lkw-Fahrer gearbeitet, später als Geschäftsführer einer Transportfirma, die 2013 Konkurs anmeldete, woraufhin er einen Betrieb für energieeffiziente Geräte eröffnete. Er machte sich Gedanken wegen der finanziellen Lage der Familie, vielleicht weil er nicht ganz zu Unrecht fürchtete, man könne ihn für die Schulden seiner Tochter haftbar machen, die um ein Vielfaches höher und umfassender sind als offiziell bestätigt. „Im Prinzip hat sie jeden über den Tisch gezogen“, sagt eine Bekannte in Berlin und zählt mehrere Menschen auf, von denen Anna angeblich größere und kleinere Summen geliehen oder gestohlen hatte, die sich jedoch zu sehr schämen, um Anzeige zu erstatten.
Die Familie, das sagt ihr Vater, habe Anna auch nach ihrem Abitur 2011 unterstützt. Sie zog nach London, wo sie das Central Saint Martins College besuchte, brach aber ab und ging nach Berlin, von wo sie nach einem Praktikum in einer Werbeagentur nach Paris zog. Dort ergatterte sie eines der begehrten Praktika beim Magazin „Purple“ und wurde Anna Delvey. Ihre Eltern sagen, sie hätten diesen Namen nie gehört. „Wir sind immer für ihre Miete und andere Ausgaben aufgekommen. Sie hat uns versichert, das sei die beste Investition. Wenn sie mal mehr brauchen würde, hätte das nichts zu bedeuten. Sie sah die Zukunft immer rosig.“
Im Gefängnis erzählte mir Anna: „Meine Eltern hatten immer hohe Erwartungen an mich, und sie haben meinen Entscheidungen immer vertraut. Wahrscheinlich bereuen sie das jetzt.“
In unseren Gesprächen zeigte Anna nie auch nur die kleinste Spur von Schuldgefühl. Sie war nur frustriert, dass sie kein Geld für eine Kaution hatte – und weil sie von der „New York Post“ als „Möchtegern-Promi“ bezeichnet wurde. „Ich wollte nie ein Promi sein“, betont sie. „Ich habe Dinnerpartys gegeben, aber das waren Arbeitsessen. Ich wollte ernst genommen werden. Wenn ich das Geld wirklich gewollt hätte, hätte ich gewusst, wie ich es mir schneller und besser besorge“, schimpfte sie. „Ausdauer ist schwer aufzubauen, Kapital aber nicht.“
Besonders wichtig war ihr, dass ihr Plan für die Anna Delvey Foundation Hand und Fuß hatte. Sie habe all diese Gespräche geführt, Meetings einberufen, E-Mails geschickt, weil sie gedacht hatte, sie werde die Stiftung ins Leben rufen. „Ich hatte ein großartiges Team aufgebaut, und es hat Spaß gemacht“, sagte sie. Sicher habe sie auch ein paar Fehler gemacht. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich tausend Sachen richtig gemacht habe.“
Vielleicht hätte wirklich etwas daraus werden können. Warum auch nicht – in dieser Stadt, wo jeden Tag riesige Mengen unsichtbares Geld gehandelt und Glastürme allein auf der Grundlage von Unterschriften gebaut werden? Wenn die Kardashians ein Milliarden-Dollar-Imperium aus dem Boden stampfen konnten, wenn ein Filmstar wie Dakota Johnson ihr Gesicht so einsetzen konnte, dass es ihr zu einem größeren Franchise-Unternehmen verhalf, warum sollte es nicht auch Anna Delvey schaffen? Während meiner Recherche wurde ich immer wieder gefragt: Wieso gerade dieses Mädchen? Sie war nicht besonders sexy, wurde mir gesagt, oder besonders attraktiv, sie war nicht mal nett. Wie konnte sie dermaßen viele erfolgreiche Leute überzeugen, dass sie eine ganz andere war als die, die sie wirklich war?
Sie verstand etwas, das anderen verborgen blieb. Anna sah die Seele von New York und begriff, dass die Menschen, wenn man sie mit Bling-Bling, mit fetten Geldbündeln, mit dem Stallgeruch von Reichtum ablenkt, praktisch außerstande sind, noch etwas anderes wahrzunehmen.
Aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Thielicke