Kein Sterbenswort

Ein Mann sagt nicht, dass er stirbt und stürzt seine Familie damit ins Unglück

Von Alex Raack

Frank ist siebenundvierzig, immer noch halbwegs sportlich, kleiner Wohlstandsbauch, volles Haar, glatt rasiert, durchschnittlich groß, durchschnittlich gekleidet, durchschnittlich frisiert, fünffacher Vater, Hobbyfußballer, Biertrinker, Hip-Hop-Fan und Autohaus-Mitbesitzer. 
Und bald tot. 

Sein Arzt hat es ihm eben gesagt. Frank hatte vor Jahren mal Hautkrebs, keine große Sache, kleiner Eingriff, und der Krebs war weg. Einfach rausgeschnitten. Frank war anschließend zu zwei Nachsorgeuntersuchungen gegangen und hatte sie von da an geschwänzt. Jetzt hat er überall Metastasen. Der Krebs hat gestreut. Frank muss bei diesem Wort immer an die Salzmaschinen auf vereisten Straßen denken. Nach einigen Begrüßungsminuten war sein Arzt zur Sache gekommen.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich eine schlechte Nachricht für Sie habe“, hatte der Arzt gesagt. „Der Krebs hat sich deutlich mehr ausgebreitet, als ich es befürchtet hatte.“ Frank war sich vorgekommen wie in einer Serie. Scheiß-Netflix. „Und was heißt das jetzt?“, hatte er schließlich gefragt. „Das heißt, dass Sie bald daran sterben werden“, hatte sein Arzt geantwortet. Und sein Patient war mit dem Blick in die Ferne geschweift und hatte versucht zu verstehen, was ihm da gerade gesagt worden war.

Jetzt steht Frank im Aufzug und sieht im Spiegelbild einen Anästhesisten von Station 14, eine Krankenschwester, die in acht Monaten in Rente geht, und sich selbst: Frank, 47, fünffacher Vater, Autohaus-Mitbesitzer, Biertrinker. Als er aus dem Aufzug steigt, von links der Krankenhauskaffeegeruch, rechts drei Männer im Rollstuhl auf dem Weg zur nächsten Zigarette, versteht Frank die Welt nicht mehr.

Er war dreiundzwanzig, als sein erster Sohn zur Welt kam, fünfundzwanzig bei der Geburt von Jonas. Mit dreiunddreißig hat er sich von Sabine scheiden lassen, die zog mit den Söhnen dreihundert Kilometer in den Norden, der Kontakt ist schlecht. Mit vierzig hat er die fünf Jahre jüngere Jutta kennengelernt, auch zwei Kinder, auch geschieden. Und weil Jutta unter anderem auch auf den Rapper Torch steht und es eigentlich ganz lustig findet, Männer beim Fußballspielen und Biertrinken zuzugucken, kamen die beiden zusammen, kauften zwei Jahre später ein Haus und brachten noch einmal drei Jahre später einen Sohn zur Welt. Zweite Familie, neuer Versuch. Nur heiraten wollen die beiden nicht mehr. Frank hat vor zehn Jahren mit einem alten Bekannten ein Autohaus übernommen. Das Autohaus lief nicht mehr so gut, er hat sich erst vor wenigen Wochen von seinem Geschäftspartner auszahlen lassen, die zwanzigtausend Euro gingen gleich in den Kredit für das Haus. Zweihunderttausend hat das damals gekostet, aktuell ist es fünfzigtausend weniger wert, Frank hat nicht mal die Hälfte abbezahlt.
 
Das kann nicht sein, denkt Frank, als er in sein Auto steigt. Das kann einfach nicht sein. Er fährt langsam, er weiß, dass er gerade eigentlich kein Auto fahren sollte. Aber er weiß nicht, wie er es Jutta sagen soll. Was er Jutta sagen soll.
Frank ist eigentlich ein rationaler Typ. Einer, der die Sachen geregelt bekommt. Ob als Sechser in der Ü40-Fußballmannschaft, als Partner, als Vater, als Kumpel, als Kollege. Keiner, der sich drückt. Der um zwei Uhr morgens auf der Party dem Gastgeber beim Aufräumen hilft. Bei dem nicht immer alles glatt lief, aber der das Leben im Griff hat. 
Das Leben im Griff haben, denkt Frank und öffnet die Haustür. Jutta ist auf der Terrasse und raucht. 

„Hey“, sagt Frank.
„Hey“, sagt Jutta. „Wie ist es gelaufen?“
„Ganz gut“, sagt Frank. 
„Er war so doof“, sagt sein Bestatter ein Jahr später.

Denn Frank erzählt Jutta nicht, dass er bald sterben wird. Er erzählt ihr nicht, dass der Hautkrebs zurück ist. Er erzählt ihr ein Märchen. Dass alles gut ist. Und Jutta glaubt ihm, weil sie ihm vertraut. Weil Frank Frank ist und sich nie drücken würde. Dann bestellen sie sich eine Familienpizza. Zwei Erwachsene, drei Kinder, Einfamilienhaus. Lebbe geht weider, hat der große Philosoph und Fußballtrainer Dragoslav Stepanović mal gesagt.
 
Also macht auch Frank einfach weider, geht zwei Tage später zum Training, spendiert eine Kiste, trinkt zwei Bier zu viel und hört im Auto „Kapitel 29“ von Torch in Dauerschleife, an dessen Anfang Klaus Kinski spricht: „Ich spiele nicht, ich bin das, verstehen Sie? Und deswegen bin ich nichts.“ Und weiter: „Obwohl ich weiß, dass die Welt untergeht, das ist klar, schreib ich diesen Text, damit ihr versteht, wer ich war.“

Scheiß auf den Krebs, denkt sich Frank an der roten Ampel. „Scheiß auf den Krebs!“, ruft er bei Gelb. „SCHEISS AUF DEN KREBS!!“, brüllt er bei Grün. Und fährt dann nach Hause zu Jutta, isst die Reste auf und geht ins Bett, als wenn das alles immer so weitergehen würde.

Ein halbes Jahr nach dem Gespräch mit seinem Arzt hat Frank fünfzehn Kilo abgenommen. Seine Haut hat ihre Farbe verändert, nur leicht, aber Jutta sieht das. Frank hat ihr noch immer nicht gesagt, dass er sterben wird, hat überhaupt niemandem gesagt, dass er sterben muss. Aber jetzt sieht Jutta, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. 

„Was ist mit dir?“, fragt sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Frank. Fünfzehn Tage später ist er tot.

Jutta hat ihm beim Sterben zugesehen. Und bis zuletzt nichts gewusst. Wie auch immer er das geschafft hat. Jutta steht nicht wirklich unter Schock, aber weil ihr Verstand nicht begreifen kann, was eigentlich passiert ist, gleitet sie wie benebelt durch die ersten Tage. Und von jetzt an wird es sogar noch schlimmer.

Frank und Jutta hatten zwei Konten, beide hatte er geführt. Selbst wenn Jutta mit Frank verheiratet wäre, käme sie nicht einfach so an das Geld. Jutta aber hat keine Chance, ehe sie nicht eine schriftliche Vollmacht von Frank vorlegt. Doch der hat keine Vollmacht ausgestellt. Weil er keine Vollmacht verfasst hat, bekommt Jutta kein Geld, und weil die gelernte Kindergärtnerin gerade nicht arbeitet, hat sie kein eigenes Einkommen. Frank hat auch keine Risikolebensversicherung abgeschlossen, damit Jutta, ihre beiden Töchter und der gemeinsame Sohn versorgt sind. Er hat kein Testament geschrieben. Er hat nicht mal seine Unterlagen rausgelegt, damit es Jutta leichter hat, ihn bestatten zu lassen. Frank hat überhaupt nichts gemacht. Er ist einfach nur gestorben.

Jutta erzählt das dem Bestatter und will es doch nicht glauben. Frank, der Waschmaschinen und Autos reparieren konnte, der Steuererklärungen machte und die Miete pünktlich bezahlte, der immer die Urlaube geplant und das Hundefutter gekauft hatte, dieser Frank ist einfach abgehauen, ohne sich um irgendetwas gekümmert zu haben.
„Die arme Frau“, sagt der Bestatter. „Die wurde fast irre, weil sie nichts gefunden hat.“ 

Die viertausend Euro für die Beerdigung muss Franks Mutter zahlen. Das Geld für den Kredit, die Versicherungen, die Einkäufe, den nächsten Klassenausflug muss sich Jutta von ihren Brüdern leihen. Den Van kann sie nicht verkaufen, der ist nur geleast. Sehr viele Menschen heiraten noch kurz vor ihrem Tod, um den Hinterbliebenen einen Gefallen zu tun. Frank hat das nicht gemacht. Und weil Jutta und er nicht verheiratet waren, steht ihr auch nichts zu. Das Haus und der Kontostand werden laut Gesetz unter den drei leiblichen Kindern des Verstorbenen aufgeteilt, und weil sich die beiden Söhne aus erster Ehe dafür entscheiden, dass das Haus verkauft werden soll, muss Jutta mit den drei Kindern ausziehen. Pro Erbe bleiben am Ende knapp fünfzehntausend Euro übrig und eine kleine Halbwaisenrente für den gemeinsamen Sohn.

Frank ist jetzt ein Jahr tot. Jutta, 42, dunkelblond, weiche Gesichtszüge, dreifache Mutter, Weißweinschorlentrinkerin, alle vierzehn Tage im Fitnessstudio, Hip-Hop-Fan und arbeitslos, ist bei Franks Mutter in der Kleinstadt untergekommen. Fünf Menschen auf siebzig Quadratmetern. Seit Monaten hat sie sich keine Klamotten gekauft. Früher ist sie mit Frank nach Kreta geflogen. Heute sammelt sie Treuepunkte bei Penny. Sie hört seit seinem Tod nur noch selten Musik, war ewig nicht mehr tanzen. Und wenn sie einkaufen geht, dann spürt sie die mitleidigen Blicke in ihrem Rücken, den sie dann jedes Mal durchdrückt, als wäre ihr Körper damit unverwundbar. Die Kinder sind viel häufiger gereizt, und Weihnachten war die Hölle. Tränen unterm Tannenbaum.

Jutta kann ihre Gefühle nicht kontrollieren. Manchmal liegt sie nachts wach und heult in ihr Kissen, weil sie Franks warmen Körper so vermisst. Sie war glücklich und hatte darauf vertraut, dass das Glück nicht einfach so verschwinden würde. Sie versteht es zwar immer noch nicht, aber langsam findet sie sich damit ab. Und genau jetzt, wo sich ihr Alltag wieder halbwegs einpendelt, rollt die Trauer auf sie zu wie ein riesiger Ball. Man kann es auch anders betrachten: Endlich darf Jutta trauern. Um einen tollen Mann, einen süßen Vater, um diesen fußballspielenden, biertrinkenden, Autos verkaufenden, Waschmaschinen reparierenden Typen, der ihr damals am Strand angeschickert „Willst du mit mir gehn?“ vorgesungen hatte. 

Vergangene Woche hat Jutta ihr Testament gemacht.

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