Buenos días, Argentina!
Guten Tag, du fremdes Land!
Buenos días, Argentina!
Komm, wir reichen uns die Hand!
(Udo Jürgens, WM-Song 1978)
Die Stimmung im deutschen Lager war schon vor der WM in Argentinien mächtig im Keller. Eigentlich sollte die Nationalmannschaft antreten, um den Weltmeistertitel von 1974 zu verteidigen, doch schon die Vorbereitungsspiele zeigten, dass es sich bei dem Team nur noch um eine Ansammlung durchschnittlicher Kicker handelte: Ein 0:1 gegen Brasilien war noch zu verschmerzen, aber als das schwedische Team die Nationalelf in Stockholm 3:1 schlug, stöhnte Masseur Erich Deuser, der seit Jahrzehnten die Beine der WM-Kicker knetete: „Noch nie war die Stimmung so mies.“ Bundestrainer Helmut Schön hatte das Turnier gar bereits abgehakt: „Ich wünschte, die WM wäre schon vorbei.“
Andere wünschten sich zu dieser Zeit, dass die WM gar nicht erst stattfinden würde, schließlich befand sich das Ausrichterland Argentinien seit dem 24. März 1976 im Klammergriff einer brutalen Militärjunta, die nur 700 Meter entfernt vom WM-Stadion in einer Militärschule ein Folterzentrum für Regimegegner errichtet hatte. Und das waren in den Augen der Clique um General Jorge Videla selbst Menschenrechtler, die sich für die Armen in den Elendsquartieren von Buenos Aires einsetzten und mit sozialistischen Ideen sympathisierten. Andere, wie die Deutsche Elisabeth Käsemann, halfen neben ihrer humanitären Arbeit Verfolgten bei der Flucht aus dem Land, zum Beispiel durch die Beschaffung gefälschter Dokumente, und gerieten so ins Visier der Militärs. Käsemann, damals 29, wurde im März 1977 von den Militärs entführt, wochenlang schwer gefoltert und schließlich erschossen, ohne dass die sozialliberale Regierung von Helmut Schmidt groß interveniert hätte.
Im Gegenteil: Das Verhältnis zu Argentinien war nie besser als zu Zeiten der Diktatur. Während die US-Regierung von Jimmy Carter ein Waffenembargo verhängte, verdoppelten sich die deutschen Exporte nach Argentinien, deutsche Rüstungsfirmen schlossen Milliardendeals über die Lieferung von U-Booten und Panzern ab, Firmen wie Mercedes-Benz profitierten vor Ort vom harten Durchgreifen gegen Gewerkschaftler. Ein Vertreter der Firma Krupp verstieg sich sogar zu der Aussage, dass eben 10.000 Menschen verschwinden müssten, damit 25 Millionen in Frieden leben können.
Tatsächlich war Argentinien in den Jahren zuvor nicht nur in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Die Regierung von Premierministerin Isabel Perón hatte das Streikrecht eingeschränkt, Todesschwadrone ermordeten auf offener Straße protestierende Arbeiter, die Antwort waren Gewaltakte linker Guerilleros. Nach dem Putsch stellte die Junta ihr Terrorregime lediglich als Antwort gegen die Gewalttaten linker Revolutionäre dar, selbst noch zu einem Zeitpunkt, als man sämtliche Opposition brutal unterdrückt und bereits Tausende Menschen ermordet hatte.
Diese Interpretation wurde von konservativen deutschen Medien gern übernommen. Der Putsch sei unvermeidbar gewesen, um das Land aus dem Chaos zu führen, belehrte die „Welt“ ihre Leser, und die „FAZ“ lobte den Mut der Militärs, endlich den mächtigen Gewerkschaftsverband zerschlagen zu haben, und freute sich auf einen geregelten Ablauf der Fußball-WM. „Solange am Rio de la Plata die schwachen und korrupten Peronisten regierten, mochten viele nicht an die Schau in Argentinien glauben; seit die Militärs das Kommando übernommen haben, ist daran jedoch kaum mehr zu zweifeln.“
Ein Freund klarer Verhältnisse war auch der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger, der den Spielern im Vorfeld sämtliche Kritik an der Militärregierung verboten hatte und zackig zu Protokoll gab: „Ganz gleich, wie man den Umsturz politisch bewertet, für uns hat er große Vorteile gebracht.“ Als ein Pfarrer in der samstäglichen Fernsehsendung „Das Wort zum Sonntag“ vor einem Millionenpublikum an die deutschen Kicker appellierte, in Argentinien Zivilcourage zu zeigen, intervenierte der DFB-Präsident umgehend beim Intendanten des Saarländischen Rundfunks. Sport und Politik, so Neuberger, passten nicht zusammen.
Für ihn selbst galt das aber nicht. Um die viel gescholtene Truppe moralisch aufzubauen, lud Neuberger ins argentinische Trainingslager sogar einen echten Kämpfer: Hans-Ulrich Rudel, vielfach dekorierter Schlachtflieger der Wehrmacht, der einst mit seinem Sturzkampfbomber in Griechenland und an der Ostfront so viele Feinde abgeschossen hatte wie kein anderer Pilot. Nach Kriegsende war Rudel nach Argentinien geflohen, wo er das sogenannte Kameradenwerk gründete, das NS-Kriegsverbrechern beim Untertauchen half – darunter auch dem Auschwitz-Arzt Josef Mengele. Ritterkreuzträger Rudel, so verfügte Neuberger, hätten die deutschen Nationalspieler die Hand zu reichen, quasi als Ehrbezeugung für alle deutschen Soldaten.
Den renitenten Paul Breitner vom FC Bayern, der sich gern öffentlich mit der Mao-Bibel zeigte, hatte man vorsichtshalber in Deutschland gelassen, der andere Star, Franz Beckenbauer, erfreute sich lieber seiner Millionen bei Cosmos New York, als nach Südamerika zu reisen, und der Rest der deutschen Kicker machte eh kaum noch den Mund auf – außer um Kommentare von erstaunlicher Einfalt von sich zu geben. Auf Anfrage von Amnesty International, das die deutschen Spieler für eine Kampagne für Menschenrechte gewinnen wollte, erklärte Manfred Kaltz vom HSV, er habe andere Probleme, der Gladbacher Rainer Bonhof behauptete kurzerhand, in der Sowjetunion herrschten ähnliche Verhältnisse, und Manfred Burgsmüller aus Dortmund hatte Angst, selbst ins Visier zu geraten: „Wenn ich jetzt sage, das ist eine Schweinerei, besteht doch die Gefahr, dass man uns das aufs Butterbrot schmiert und wir da drüben vier böse Wochen erleben.“ Am kaltschnäuzigsten zeigte sich der Hertha-Spieler Erich Beer: „Es belastet mich auf keinen Fall, dass dort gefoltert wird. Wenn ich in Deutschland spiele, denke ich ja auch nicht daran, dass da im Krieg viele umgekommen sind.“
Mit diesen Aussagen von erschreckender Empathielosigkeit lag die Nationalmannschaft ganz auf der Linie der deutschen Regierung. In Sachen Menschenrechte hatten Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf Durchzug geschaltet. Während andere europäische Länder in der Regel schnell im Sinne ihrer inhaftierten Bürger intervenierten und regelmäßig deren Freilassung erreichten, wurden die Deutschen und Deutschstämmigen, die den Schergen ab 1976 in die Hände fielen, alleingelassen. Außer ein paar harmlosen Depeschen an die argentinische Regierung fiel der Bundesregierung nicht viel zur Rettung ihrer Landsleute ein. Im Gegenteil: Selbst wenn sie von Morden an deutschen Staatsbürgern erfuhr, sorgte sie mit einer eigentümlichen Informationspolitik für die Verschleierung des Unrechts.
Ein besonders eklatantes Beispiel für die damalige Nichteinmischung war der Fall des Studenten Klaus Zieschank. Der 24-Jährige hatte 1976 seine in Argentinien lebende Mutter besucht und ein Praktikum in einer Maschinenfabrik begonnen. Vor deren Werkstor wurde er nur wenige Wochen nach seiner Ankunft und genau zwei Tage nach dem Militärputsch von Sicherheitskräften entführt und in ein Lager des Geheimdienstes gebracht. Schon wenig später wurde die deutsche Regierung darüber informiert, dass sich Zieschank in Folterhaft befand. Eine französische Mitinsassin, die auf Druck der französischen Regierung freigelassen worden war, berichtete sogar, in welchem Gefängnis Zieschank war, ohne dass dies zu besonderen Bemühungen um seine Freilassung geführt hätte. Wenig später initiierten Freunde von Klaus Zieschank in Bonn einen öffentlichen Hungerstreik, an dem auch seine Mutter teilnahm, um auf das Schicksal ihres Sohnes und die Versäumnisse des Außenamts hinzuweisen.
Klaus Zieschank, der sich in Argentinien nie politisch betätigt hatte und womöglich durch seine Teilnahme an der Chile-Solidaritätsbewegung in München ins Visier der Junta geraten war, dürfte zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen sein. Bereits wenige Wochen nach seiner Verhaftung hatte man ihn betäubt, mit Draht an einen anderen Häftling gefesselt und aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen. Damals eine gängige Methode der Militärs.
Der damalige deutsche Botschafter in Argentinien, Jörg Kastl, gab später in einer Fernsehdokumentation zu Protokoll, dass die Bundesregierung bereits früh von dem Mord an Zieschank gewusst habe. „Damals habe ich einen Geheimerlass bekommen, von Genscher unterschrieben: Wir wissen, er ist tot, und diese Nachricht haben Sie bei sich zu behalten, auch unter Androhung Ihrer sofortigen Abberufung.“ Derweil hatte Bundeskanzler Schmidt in der Sache Zieschank eher pflichtschuldig einen Brief an General Videla geschrieben, in dem er „dringend um Aufklärung“ bat. Die Antwort war lapidar. Man wisse nix, aber möglicherweise habe der deutsche Student einen Autounfall in den Anden gehabt.
Botschafter Kastl war indes nicht ganz unschuldig daran, dass die Vertreter der argentinischen Diktatur kaum Kritik und noch viel weniger ernsthafte Sanktionen zu befürchten hatten. Unter ihm richtete sich sogar ein Mitarbeiter des argentinischen Geheimdienstes gemütlich in der Botschaft ein und schrieb mit, wenn verzweifelte Angehörige von Verschwundenen um Hilfe baten. Botschafter Kastl hatte schon während des Putsches nach Bonn gekabelt, dass Argentinien gar nichts Besseres passieren könne.
Rund 30.000 Menschen kamen während der argentinischen Diktatur ums Leben oder verschwanden spurlos, darunter rund 100 Deutsche oder Deutschstämmige. Dass ein Diktatoren-Spezi wie der CSU-Politiker Franz Josef Strauß gute Worte für die Mörderregime in Argentinien und Chile fand („Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang“), verwundert im Nachhinein nicht, dass aber eine sozialliberale Regierung die Verbrechen einer rechten Militärregierung nicht nur hinnahm, sondern mit diesem Regime auch noch beste Geschäfte machte, mutet in der Nachbetrachtung absurd an – und hatte wohl nicht nur mit dem wirtschaftsfreundlichen Kurs von Helmut Schmidt zu tun, sondern auch mit der allgemeinen politischen Lage.
So schaffte es die konservative Presse in Deutschland, allen voran „FAZ“ und „Welt“, die Politik der Junta als legitimes Mittel gegen linksextremistische und marxistische Abenteuer darzustellen. In diesem Narrativ kam der Terror weniger von der rechten, sondern vor allem von der linken Seite. Das galt auch für Deutschland, das sich in einem regelrechten Krieg gegen die RAF befand, federführend geleitet vom ehemaligen Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt, der mit Notstandsgesetzen regierte, die demokratische Grundrechte einschränkten.
Dass man im fernen Argentinien mit den Linken mal ordentlich aufräumte, sahen viele von einer regelrechten Terrorhysterie befallene Bundesbürger durchaus mit Sympathie – darunter auch der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, Berti Vogts, der sich 1977 öffentlich für die Todesstrafe für RAF-Mitglieder ausgesprochen hatte – zu einer Zeit, als in Argentinien Todesstrafen an allen Linken schon ganz informell und zügig vollzogen wurden. Bei den dortigen Machthabern war Vogts so beliebt, dass man erwog, ihm einen Orden zu verleihen, da er sich „nicht auf Ränke, Erpressungen und marxistische Unternehmungen von Amnesty International gegen Argentinien eingelassen habe“.
Die Weltmeisterschaft lief dann schließlich genauso erfolglos ab, wie es die Deutschen befürchtet hatten. Während in der Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA), einer Militärschule, die zum berüchtigtsten Folterzentrum wurde, in unmittelbarer Nähe zu den Stadien geschlagen, Elektroschocks verabreicht und vergewaltigt wurde, quälte sich die deutsche Nationalmannschaft durch die Vorrunde. Die „FAZ“ wusste immerhin von bester Stimmung unter deutschen Schlachtenbummlern zu berichten, was weniger an den Leistungen von Vogts und Co. lag, sondern am sonnigen Gemüt der Argentinier. Unter der Überschrift „Im Paradies der Gastfreundschaft“ berichtete der Reporter von Verbrüderungen bei Wein, Bier und Steaks. Spätestens nach der überraschenden Niederlage gegen die Österreicher, die als die „Schmach von Córdoba“ in die Geschichte einging, war die gute Laune der Fans verflogen.
Im Endspiel standen sich schließlich Holländer und Argentinier gegenüber, wobei die Gastgeber nie den Ruf loswurden, sich erst durch ein gekauftes 6:0 gegen Peru für das Finale qualifiziert zu haben. Sie gewannen es schließlich mit 3:1, und die Militärjunta konnte die WM als ein riesiges PR-Spektakel für sich verbuchen – wie weiland Adolf Hitler die Olympiade in Berlin.
Bei der Siegerehrung weigerten sich allerdings die niederländischen Spieler, Diktator Videla die Hand zu geben. Es war ihnen nicht verboten worden.
Buenos días, Argentina!
So heißt meine Melodie!
Und sie soll uns zwei verbinden
mit dem Band der Harmonie.
(Udo Jürgens, WM-Song 1978)