Harut Grigoryan ist Botschafter eines Landes, das offiziell nicht existiert. Deshalb darf er sich in Deutschland nicht Botschafter nennen. Hier, in einem schmalen Büro in Berlin-Mitte, betreibt Grigoryan die „Ständige Vertretung der Republik Bergkarabach in Deutschland“. In seiner Heimat im Südkaukasus feuern junge Soldaten aus Schützengräben, um die Grenzen ihrer selbst ernannten Republik zu verteidigen.
„Unser Nachbar will uns auslöschen“, sagt Grigoryan, die Augen schmal wie Schießscharten. Er ist 36 Jahre alt und trägt einen schwarzen Anzug. Mit seinem muskulösen Körper und der rasierten Glatze erinnert er eher an einen Ringer als an einen Diplomaten. Grigoryan lässt sich auf den Schreibtischstuhl fallen und breitet eine Landkarte aus. Mit dem Finger fährt er entlang der bergkarabachischen Staatsgrenze, die auf Karten normalerweise nicht eingezeichnet ist, auf dieser aber schon, weil sie aus Bergkarabach kommt:
Die Region Bergkarabach ist etwa halb so groß wie Hessen. Sie liegt wie eine Insel zwischen dem christlichen Armenien (links) und dem muslimisch geprägten Aserbaidschan (rechts). Seit über 100 Jahren streiten die beiden Völker um das fruchtbare Bergland. Im Jahr 1991 brach ein Krieg aus, in dem Zehntausende starben. Die Aserbaidschaner wurden vertrieben. Heute leben in Bergkarabach 148.000 Armenier.
Aserbaidschan droht, das Land zurückzuerobern. Die internationale Anerkennung der Republik Bergkarabach wäre ein politischer Schutz vor der Invasion. Dafür kämpft Harut Grigoryan in Deutschland. Doch Völkerrechtler sagen, Bergkarabach stünde Aserbaidschan zu. Der UN-Sicherheitsrat hat die armenische Besatzung mehrfach verurteilt. Grigoryan winkt ab: „Das Völkerrecht bietet viel Raum für Manipulation.“ Er schiebt uns einen Reiseführer über den Tisch, darauf ein alte armenische Kapelle vor einer idyllisch grünenden Berglandschaft.
Von Deutschland fliegen wir in die armenische Hauptstadt Yerewan. Nur von dort, über eine schmale, tausendfach geflickte Asphaltspur, können wir nach Bergkarabach gelangen. Der Latschin-Korridor verbindet Armenien und Bergkarabach wie eine Nabelschnur. Er führt durch weiten, kargen Felsgrund. Den Horizont bildet eine Wand aus gleißenden Gletschergipfeln, als würde es aufs Ende der Welt zugehen.
Mit uns reisen die Übersetzerin Lusine und ihr Vater Valeri. Beide wohnen in Yerewan. Valeri erholt sich gerade von einer Operation, besteht aber darauf, uns als Fahrer in seine Heimat Bergkarabach zu begleiten. Seine Tochter wird darauf achten, dass er auf dieser Reise nie mehr als einen Schnaps trinkt.
Wo immer der Korridor vom Feindesland Aserbaidschan aus sichtbar ist, säumen Erdwälle die Straße. „Sie schützen die Autos vor aserbaidschanischen Scharfschützen und Raketen“, sagt Valeri. Trotz eines offiziellen Waffenstillstands im Jahr 1994 sterben in den Grenzgebieten jährlich Dutzende Soldaten auf beiden Seiten. Ein schwelender Krieg vor Europas Haustür.
Das deutsche Auswärtige Amt rät von Reisen in die Region Bergkarabach ab. Offizielle Reisewarnung: „Hier muss mit Minen gerechnet werden, und es kommt regelmäßig zu Schusswechseln“. Gerieten wir in Konflikt mit bergkarabachischen Behörden, man könnte diplomatisch nichts für uns tun. Beim bergkarabachischen Außenministerium müssen wir uns Wochen im Voraus als Journalisten ausweisen. Die Regierung verlangt einen Brief vom Auftraggeber, Kopien unserer Ausweise und eine Liste mit Personen und Orten, die wir besuchen wollen. „Sie denken, ihr könntet Spione sein“, sagt Lusine. Immer wieder überholen wir armenische Militärlaster auf dem Weg zum Krisenherd.
Als wir den Grenzposten passieren, scheint schon das warme Licht der Dämmerung auf die raue Berglandschaft. In den Schluchten hängen dicke Drahtseile wie Spaghetti, halb gespannt, zum Schutz gegen Kampfhubschrauber. Serpentinen führen in ein zerklüftetes Tal entlang blühender Sträucher und Kornellkirschbäume. Bergkarabach, gelobtes Land. Valeri schlägt ein Kreuz vor seiner Brust. „Jetzt geht es mir wieder gut“, sagt er und streicht über das Armaturenbrett. „Sogar das Auto fährt besser.“
Die Hauptstadt Stepanakert ist eine zerrüttete Zeitzeugin. Rund 60.000 Menschen leben hier, die meisten von ihnen in Häusern mit bröckelnden Fassaden oder verwitterten Wohnblocks aus der Sowjetzeit. Im Krieg um Bergkarabach beschossen die Aserbaidschaner die Stadt von den Bergen aus mit Raketen. Noch heute liegen die Spuren von Verwüstung und Wiederaufbau dicht beieinander. Hier repräsentative Prunkbauten, dort Schlaglöcher, in denen ein Hund verschwinden könnte. Im Herzen der Stadt steht mit verschränkten Armen die Statue ihres Namensgebers Stepan Schahumjan, eines ermordeten armenischen Kommunisten.
Entlang der herausgeputzten „Straße der Befreier“ liegen Bankfilialen, Kleiderboutiquen und das Außenministerium, in dem wir uns am nächsten Tag sofort melden sollen. Auf dem Bürgersteig verkaufen Frauen aus umliegenden Dörfern Eier, Estragon und purpurnen Basilikum. Soldaten in Tarnanzügen und Militärfahrzeuge prägen das Stadtbild. Die Blicke der Passanten verraten: Selten verirren sich Fremde hierher.
Jeder hier spricht neben der armenischen Muttersprache auch Russisch. Nicht nur wegen der Sowjetvergangenheit: Russland ist Armeniens Schutzmacht, hat Tausende Soldaten auf armenischem Boden stationiert und schützt so auch das kleine Bergkarabach vor einer Invasion der Aserbaidschaner. Dabei verkauft Russland Waffen an beide Seiten. Manche sagen, das Verhältnis der Armenier zu Russland sei das eines Ladenbesitzers zum Schutzgelderpresser.
Bergkarabach ist abhängig von Zahlungen aus Armenien und der weltweit verstreuten armenischen Diaspora. Die meisten Menschen leben als Selbstversorger in einfachen Verhältnissen. Der größte Arbeitgeber ist das Militär.
Um Mitternacht ist Stepanakert wie ausgestorben. Eine gebeugte alte Frau mit Hexenbesen kehrt die leere Hauptstraße.
Ein Mitarbeiter des Außenministeriums ruft auf dem Handy an: „Der Präsident erwartet euch in einer halben Stunde.“ Das Regierungsviertel ist die aufgeräumte Fassade dessen, was die Republik sein möchte. Eine Hand voll feine Hotels und Restaurants säumen den besenreinen Platz der Renaissance. Arbeiter errichten Mehrfamilienhäuser, wie sie auch in deutschen Wohngebieten stehen könnten. Die Regierung verschenkt die Wohnungen an Beamte und Soldaten der sogenannten Verteidigungsarmee Bergkarabachs.
Der steinerne Präsidentenpalast gleicht einer Festung. Davor flattern zehn bergkarabachische Flaggen, dazu eine auf dem Dach. Als sollte jeder Zweifel an der Legitimität dieses Staates im Winde verwehen. Die Flagge sieht aus wie die armenische: rot, blau, orange – nur dass eine weiße Zickzacklinie einen kleinen Teil vom größeren trennt. Die uniformierten Wachen des Präsidenten tragen große Tellermützen und Pistolengürtel. Sie winken uns freundlich durch Metalldetektoren, die ohnehin außer Betrieb sind.
Präsident Bako Sahakjan raucht am Fenster seines Büros. Sein Blick schweift über die Berge und Wälder, in denen er selbst mit einer Kalaschnikow um dieses Land gekämpft hat. Das Jackett hat er über die Stuhllehne geworfen, hinter einem großen polierten Holzschreibtisch mit sechs Telefonen. Langsam drückt er die Zigarette aus. „Wie gefällt es Ihnen in unserer Republik?“
Sahakjan beantwortet unsere Fragen mit den Schablonen armenischer Geschichtsschreibung: Stalin hatte die Region Bergkarabach der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugesprochen. Doch 90 Prozent der Bewohner waren Armenier. „Der territoriale Anspruch Aserbaidschans steht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker“, sagt Sahakjan. „An der Frontlinie feuern diese Terroristen täglich auf uns.“
Der Konflikt rührt am historischen Trauma aller Armenier: dem Genozid im Osmanischen Reich. In den Jahren 1915 und 1916 wurden anderthalb Millionen Armenier von den Türken ermordet – dem Brudervolk der turkstämmigen Aserbaidschaner. Die Türkei leugnet den Völkermord bis heute. Sie sieht sich von den Armeniern verleumdet und unterstützte Aserbaidschan im Bergkarabach-Krieg. Der Kampf um Bergkarabach steht stellvertretend für die historische Streitfrage zwischen Armeniern und Türken: Wer ist Opfer, wer ist Täter?
Bisher hat kein Staat der Welt Bergkarabach als Nation anerkannt. Armenien muss sich zurückhalten, sonst droht ein Staatenkrieg mit Aserbaidschan. Bako Sahakjan legt sein Kinn an die Brust und schaut uns stirnrunzelnd an: „Auch wenn die ganze Welt gegen uns ist, werden wir unseren Befreiungskampf fortsetzen.“
Die Armenier argumentieren historisch: Ihre Vorfahren seien die ersten Siedler in der Region gewesen. Sie belegen das mit alten christlichen Klöstern und archäologischen Ausgrabungen. Als die Sowjetunion zerfiel, so sagen sie, hätten Aserbaidschaner begonnen, Armenier zu massakrieren. Bis heute kämen die Schüsse an der Grenze immer zuerst von der anderen Seite.
Die Aserbaidschaner behaupten von allem das Gegenteil. Sie fordern das Gebiet ein, das ihnen laut Völkerrecht zusteht. Der Sprecher der aserbaidschanischen Botschaft in Berlin, Vugar Gafarov, schreibt uns: „In der Tat wurden die aserbaidschanische Region Berg-Karabach sowie sieben umliegende Gebiete, insgesamt ein Fünftel des Staatsterritoriums von Aserbaidschan, von dem Nachbarland Armenien militärisch besetzt.“ Für ihn ist die Republik Bergkarabach ein geopolitischer Taschenspielertrick, mit dem Armenien von seiner Rolle als Besatzer ablenkt.
Nach einer Pressekonferenz beim bergkarabachischen Verteidigungsminister kennt uns schon das ganze Land. Etwas verloren hatten wir an der langen Holztafel gesessen, der Minister im Tarnanzug am anderen Ende und Soldaten mit einem Dutzend Filmkameras ringsherum, die uns selbst zum Mittelpunkt des Geschehens machten. Tagelang wurden diese Bilder im Staatsfernsehen wiederholt, als verleihe der Besuch ausländischer Journalisten der Republik mehr Existenzrecht. „Jetzt wissen auch die Aserbaidschaner, dass ihr hier seid“, sagt unsere Übersetzerin Lusine. Das bedeutet: Wir dürfen ab sofort nicht mehr nach Aserbaidschan reisen.
Auch Lusines Verwandte haben uns im Fernsehen gesehen. Wir besuchen sie in ihrem Dorf nahe Stepanakert, wo Lusine und ihr Vater übernachten. Als wir das rostige Tor zwischen den hohen Betonmauern öffnen, kommt Tante Vera mit weit geöffneten Armen und wallendem schwarzen Kleid über den Hof gelaufen. Sie begrüßt uns mit Küssen. Vera trägt ein Kopftuch, ihre kräftigen Hände und tiefen Falten im Gesicht erzählen von Jahrzehnten der Feldarbeit. Sie mustert uns mit dunklen, freundlichen Augen. „Warum hast du die Kindchen nicht gleich zu uns gebracht?“, sagt sie zu Lusine.
Sie lebt hier mit ihrem Mann, dem Sohn Lernik, dessen Frau und den zwei Töchtern der beiden. Einen Sohn hat Vera im Krieg verloren. Sein schwarz-weißes Porträt hängt über dem Fernseher, auf einem roten Wandteppich. Diese Porträts sind allgegenwärtig, kaum eine Familie ohne Kriegsopfer. Vera hat davor immer einen frischen Strauß Blumen stehen.
Beim Essen erzählen wir von unserem geplanten Besuch an der Grenze. Daraufhin entbrennt in der Familie eine Diskussion um die Aserbaidschaner. „Nein, es waren nicht alle schlecht“, sagt Vera. Die Alten auf den Dörfern erinnern sich noch an manch gute Nachbarschaft. Die Jungen wachsen mit einem klaren Feindbild auf.
Veras ältere Enkelin ist 19 Jahre alt und bereits verlobt. Junge Paare sind die Hoffnung der Republik. In einem Land ohne Einwanderer wird Fortpflanzung zur patriotischen Mission. Ein bergkarabachischer Geschäftsmann, der seine Millionen in Russland gemacht hat, organisierte deshalb im Jahr 2008 eine Massenhochzeit für 700 Paare. Jedem Paar übergab er 2.000 Dollar, jenen vom Land noch eine Kuh. Noch mal 2.000 Dollar Prämie versprach er fürs erste Kind, immer mehr für jedes weitere. Für das siebte soll es 100.000 Dollar geben. Die ersten Paare dürften bald so weit sein.
Damit der bergkarabachische Nachwuchs zwischen all den Landminen und Blindgängern aus dem Krieg unversehrt bleibt, rückt Irina Badalova aus. Der Vierradantrieb ihres Geländewagens trägt die blasse junge Frau über steile Pisten, vorbei an abgerutschten Felsbrocken, durch Schlaglöcher und Schlammbäche, bis in die hintersten Ecken von Bergkarabach. Ihr Pferdeschwanz wippt mit den Schlägen der Stoßdämpfer. Mit einer Tasche voller Attrappen von Minen und Bomben besucht sie jede einzelne Schule in jeder Ortschaft, immer wieder.
Irina arbeitet für Halo-Trust, eine britisch-amerikanische Nichtregierungsorganisation, die in ehemaligen Kriegsgebieten Einheimische zu Minenräumern ausbildet und die Bevölkerung über Gefahren aufklärt. Gemessen an der Fläche ist kaum ein Landstrich dieser Erde von so vielen Sprengkörpern durchsetzt wie Bergkarabach. Bisherige Funde: rund 11.000 Minen, 12.000 Streubomben, 50.000 sonstige Blindgänger und 160.000 Stück Munition. Rund ein Drittel der Minenopfer sind Schulkinder. „Wir sind gern gesehene Gäste“, sagt Irina. „Wenn wir kommen, fällt der Unterricht aus.“
Draußen ziehen Felder mit Granatapfelbäumen vorbei, weite Wiesen und rostige Panzerskelette. Immer wieder Ruinen, wo einst Aserbaidschaner lebten. Sie warten im Nachbarland noch heute darauf, zurückkehren zu können. Bei Irina ist es umgekehrt. Sie kam in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zur Welt. Als sie zwei Jahre alt war, brach der Krieg um Bergkarabach aus, und die armenischen Familien mussten fliehen. „Ich will nicht mehr zurück“, sagt sie. „Das hier ist das Land meiner Ahnen.“
Wir fahren in Richtung Osten, zur Frontlinie. Bald durchqueren wir die zerbombte Geisterstadt Ağdam. Hier lebten mehr als 30.000 Aserbaidschaner. Der Fußballverein der Stadt, der FK Qarabağ Ağdam, trat in den vergangenen Jahren auch gegen Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt an. Die Spiele finden seit dem Krieg in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku statt.
Auf der Straße streunen drei Hunde entlang mannshoher Disteln und verrosteter Fässer. Aus den Ruinen ragen mahnend die beiden Türme einer Moschee. Taxifahrer scheuen sich, Fremde herzubringen, weil die Gegend militärisch bewacht wird und sie fürchten, verhaftet zu werden. Unser Fahrer Valeri winkt ab: „No Problem.“ Auf dem Weg in sein Heimatdorf fuhr er etliche Male hier durch.
Schließlich erreichen wir das Grenzstädtchen Martuni. Das letzte Haus auf dem letzten Berg vor Aserbaidschan gehört dem alten General Nelson Soghomonyan. Im Tal funkeln die Dächer des ersten aserbaidschanischen Dorfes in der Sonne. Der General sagt: „Ich habe diesen Platz für mein Haus gewählt, damit sie sehen, dass wir stark und fest sind.“
Sie nennen ihn Nesso. Für die bergkarabachischen Armenier ist der zierliche Mann mit dem grauen Schnauzbart ein Nationalheld. Er hat geholfen, ihr Land zu befreien. Für die Aserbaidschaner ist er ein Terrorist. Er hat geholfen, ihr Land zu besetzen. „Eigentlich bin ich kein Soldat“, sagt Nesso. „Ich bin Ingenieur.“
Er erzählt, wie er als Schüler die sowjetische Mathematikolympiade in Aserbaidschan gewann und dann, anstatt Wehrdienst zu leisten, gleich die Technische Hochschule besuchte. Er brachte es zum Chefingenieur seiner Kolchose. Als die Sowjetunion nur noch ein leeres Versprechen war, brachen die verdrängten Konflikte zwischen Armeniern und Aserbaidschanern auf. Nesso hörte von Massakern an Armeniern in Aserbaidschan. Eines Tages, so dachte er, würden sie auch in sein Dorf kommen. Er verkaufte seinen Lada und besorgte sich dafür eine Kalaschnikow. Fünf Traktorfahrer schlossen sich ihm an. Ein paar Jahre später sollte er über 2.000 Kämpfer kommandieren.
Auf dem Weg an die Front trägt er wieder Camouflage. Nesso möchte die jungen Soldaten in den Schützengräben besuchen. Morgen ist der 9. Mai – für die Bergkarabacher ein dreifacher Feiertag. Dann jährt sich der Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland mit dem Kriegsende 1945, die Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Schuschi im Jahr 1992 und die offizielle Gründung der bergkarabachischen Armee am selben Tag. Nesso hat Geschenke dabei.
Sein Fahrer steuert den weißen Geländewagen über Feldwege. Kein Mensch, kein Vieh. Weil das Grenzgebiet in der Reichweite aserbaidschanischer Raketen liegt, ist es zu einem Biotop für Insekten und Vögel geworden. Unsere Handys vibrieren. Eine SMS: „Willkommen in Aserbaidschan“.
Man sieht Nesso den Krieg an. Sein linkes Auge zeigt blind zur Seite, eine Narbe zieht sich über die Stirn. Die Hüfte steht schief, und beim Gehen zieht er ein Bein nach. Sein Körper fing Granatsplitter und Gewehrkugeln. Einmal ist eine Panzermine unter seinem Geländewagen explodiert. Der Fahrer starb neben ihm.
„Guten Tag, Herr Generalmajor!“, ruft der Kommandant am Grenzposten und salutiert. Nesso hält ihm die Hand hin wie einem alten Freund. Vor ihm liegt der verzweigte Schützengraben, zwischen aufgeschütteten Erdwällen, hohem Gras und Sandsäcken. Auf einen Stacheldrahtzaun sind rostige Blechdosen gespannt, deren Klappern Eindringlinge verraten soll. In einem Verschlag steht eine Soldatenattrappe: Stoffbündel in Uniform, die bei einem Überfall die ersten Schüsse auf sich lenken sollen. Wer hier den Kopf aus der Deckung streckt, riskiert, von einem Scharfschützen der Aserbaidschaner erschossen zu werden.
In einem Verschlag haben die Soldaten einen kleinen Altar mit christlichen Heiligenbildchen aufgebaut. „Ein Armenier hat nur zwei Verbündete“, sagt Nesso, „den lieben Gott und die Armee.“
Ein paar Jungs, 18 Jahre alt, stehen in Kampfanzug und schweren Stiefeln vor der Schlafbaracke. Sie tragen Helme und kugelsichere Westen.
„Wie geht es euch? Habt ihr immer genug Feuerholz?“
„Alles bestens, Herr Generalmajor.“
„Wie steht es mit dem Kampfgeist? Seid ihr stark und fest?“
„Die Aserbaidschaner haben Angst vor uns, Herr Generalmajor.“
„Beschützt ihr mich und eure Eltern, damit wir morgen zusammen feiern können?“
Jeder junge Mann leistet zwei Jahre Wehrdienst im Grenzgebiet. Seine Familie sieht er in dieser Zeit höchstens für ein paar Tage. „Ihr habt es heute besser als wir damals“, sagt Nesso. „Ihr tragt anständige Stiefel und seid ausgebildet. In unseren Reihen waren Traktorfahrer, Hirten und Lungenkranke.“
Beide Fronten haben seit den Neunzigern aufgerüstet. Bergkarabach bekommt zwar militärische Hilfe von Armenien, doch es bleibt ein ungleiches Kräftemessen. Dank der Milliarden aus immensen Öl- und Gasvorkommen im Kaspischen Meer hat sich der Militäretat Aserbaidschans in den letzten zehn Jahren vervielfacht. Er übertrifft mit über fünf Milliarden US-Dollar den gesamten Staatshaushalt Armeniens.
Nesso überreicht den Soldaten Kisten mit Obst, warmen Socken und Schaschlik. „Ihr sollt morgen grillen“, sagt er. „Ich habe Schweinefleisch besorgt, damit die Moslems da drüben es riechen.“ Dann geht er in den Schützengraben, schiebt den Vorhang einer Betonkabine zur Seite und sieht durch einen schmalen Schlitz über die nie gemähte Wiese, unter der unzählige Minen liegen. Dahinter, vielleicht 200 Meter entfernt, stehen die Barrikaden der Aserbaidschaner.
Der aserbaidschanische Präsident Alijew sagte in einer Neujahrsansprache, historisch gehöre selbst die armenische Hauptstadt Yerewan zu Aserbaidschan. Dorthin, so sagte er, würden die Aserbaidschaner bald zurückkehren – nachdem sie sich Bergkarabach geholt hätten. Nesso atmet schwer in die stille Hitze hinein, wie ein lauerndes Tier.
Am großen Feiertag fahren in der Hauptstadt Stepanakert Panzer auf, gefolgt von Militärlastern und Raketenbatterien. Eine Truppe Soldaten marschiert in Vierecksformation über den Platz der Renaissance. Kinder mit Mickymaus-Luftballons klettern auf Artilleriegeschütze oder schauen durch Zielfernrohre von Präzisionsgewehren. Der Krieg hat Tag der offenen Tür.
Auch der bergkarabachische Botschafter Harut Grigoryan ist aus Berlin angereist. Wir treffen ihn auf dem Marsch zum Friedhof der Gefallenen. Seine eingecremte Glatze glänzt in der Sonne, ans Revers seines schwarzen Anzugs hat er das armenische Gedenksymbol des Genozids geheftet: eine stilisierte lilafarbene Blume, Vergissmeinnicht. Als der Justizminister Grigoryan sieht, kommt er auf ihn zu und drückt ihn fest an seine Brust. Er sagt: „Wenn wir Deutschland überzeugen, dann überzeugen wir auch den Rest der Welt.“
Deutschland vom Existenzrecht der Republik Bergkarabach überzeugen – wie soll das gehen? Im diplomatischen Berlin ist Grigoryan ein Außenseiter. Wenn sich deutsche Abgeordnete mal mit ihm treffen, dann am liebsten geheim. Keine Presse, keine Fotos, kein Ärger. Zu Veranstaltungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), bei denen über mögliche Lösungen des Bergkarabach-Konflikts diskutiert wird, ist er nicht eingeladen. Sonst würden die Aserbaidschaner absagen. Die diskutieren höchstens mit Vertretern Armeniens. Aber eigentlich legen beide Seiten nur jeweils ihre unerschütterliche Position dar.
Bergkarabach hat Deutschland wenig zu bieten. Das ölreiche Aserbaidschan hingegen ist laut dem Auswärtigen Amt der wichtigste Handelspartner Deutschlands im Kaukasus. Ab 2018 soll eine neue Pipeline Erdgas von Aserbaidschan durch die Türkei nach Europa bringen. Ein wesentlicher Schritt zur Energiesicherheit der EU, zu größerer Unabhängigkeit von russischen Lieferungen – und ein weiterer diplomatischer Vorteil für die Feinde Bergkarabachs. „Wenn diese Pipeline gebaut wird, wird es eng für uns“, sagt Harut Grigoryan.
Ihm bleibt nichts anderes übrig, als optimistisch zu sein. Er hofft, dass sich die Deutschen irgendwann trauen, sein Land zu besuchen. Wenn Touristen kämen, dann würden bestimmt auch die Investoren folgen, und irgendwann wäre die Republik nicht mehr zu leugnen.
Über dem Platz der Renaissance hängen dunkle Gewitterwolken, als die große Show vor dem Präsidentenpalast beginnt. Zu wummerndem Techno läuft die Elitetruppe auf: simultane Tritte und Hiebe mit Bajonetten, Schlachtrufe im Chor. Die Männer springen durch brennende Reifen und zertreten dabei Bretter. Sie simulieren einen Messerkampf in wechselnden Formationen und zertrümmern Steinblöcke mit Vorschlaghämmern auf den nackten Oberkörpern. Schließlich der Höhepunkt: In einer Reihe halten sie Mauersteine, darauf je ein Buchstabe: A-Z-E-R-B-A-I-J-A-N. Eine zweite Reihe Soldaten kniet nieder, ein gemeinsamer Schrei, und ihre Fäuste zertrümmern den Namen des Todfeindes.
Sie donnern eine letzte Maschinengewehrsalve in den schwarzen Himmel über Bergkarabach. Die Menge zuckt zusammen. Dann stürmen die Kinder das Feld und lesen die Patronenhülsen auf.