Ein halb gerauchter Joint: die Vorgeschichte

Saubere Vorgärten vor schmucken Einfamilienhäusern, breite Straßen, glitzernde Mormonen-Tempel, eine Harry-S.-Truman-Präsidentenbibliothek und ein Museum voller Schmuckstücke aus Haaren: Independence in Missouri ist mit seinen 117.000 Einwohnern ein ziemlich friedlicher Vorort der Großstadt Kansas City, wo auch nicht gerade das Verbrechen wohnt. Schon der Name klingt ja ziemlich beruhigend: Independence – Unabhängigkeit. Besonders die Reichen ziehen aus Kansas City hierhin, um ihre Ruhe zu haben.
Ruhe war auch Matt und Stacy Masters wichtig, als sie hierherzogen. Independence erschien ihnen perfekt, um ihre drei Kinder großzuziehen. Als Polizist wusste Matt Masters ziemlich gut, wo der beste Ort dafür ist.
Und so machten sich die Masters auch kaum Sorgen um ihren Sohn Bryce. Er trieb viel Sport, hatte auf der Highschool gute Noten, baute selten Mist und verbrachte seine Freizeit mit Freunden aus der Schule. Doch seit er 17 war, gab es immer mal wieder Begegnungen mit der lokalen Polizei, nichts Schlimmes, aber dennoch: Beim ersten Mal – vor zwei Jahren – wurden er und ein Freund von zwei Beamten der Independence-Polizei durchsucht, doch außer einem halb gerauchten Joint wurde nichts gefunden. Die Namen der Beamten waren Travis Gillihan und Timothy Runnels.
Dann wieder verließ Bryce an einem Morgen im August 2014 das Haus eines Freundes, wo er die Nacht verbracht hatte. Er ging zu seinem Auto, wo ein Polizist auf ihn wartete, Travis Gillihan. Er drängte Bryce gegen das Auto, durchsuchte seine Taschen und fand ein kleines Tütchen mit Marihuana.
Wenig später bekam Matt Masters einen Anruf. Ein Freund teilte ihm mit, dass sein Sohn verhaftet worden sei. Er fuhr zum Gefängnis, zahlte die Kaution. Später sagte er Bryce, wie enttäuscht er von ihm sei, aber auch, dass der Beamte kein Recht gehabt hätte, ihn zu durchsuchen. Die Polizisten hätten erklären müssen, warum sie ihn anhielten und ob es sich um eine Festnahme handele. Stacy rief sogar wütend bei der Polizei an, um sich zu beschweren. Ein Sergeant gab ihr den lapidaren Rat, ihren Pflichten als Mutter in Zukunft besser nachzukommen.

„Ihr verdammten Cowboys“: der Vorfall

Sechs Wochen später, an einem Sonntag, bekamen Matt und Stacy erneut einen Anruf. Es war Bryce’ Freund Curtis, der erzählte, dass Bryce soeben vor dem Haus angehalten worden sei und der Beamte allem Anschein nach versuche, ihn aus dem Auto zu ziehen. Curtis bat Matt vorbeizukommen. Kurz bevor Matt und Stacy das Haus verlassen wollten, rief er erneut an: „Hey, Matt, komm schnell – jetzt hat er Bryce getasert.“
Zu diesem Zeitpunkt machten sich Matt und Stacy noch keinerlei Sorgen. In ihren Augen handelte es sich bei einem Taser um ein ungefährliches Gerät. Aber natürlich fragten sie sich, wie es dazu kommen konnte, dass ein Beamter einen Taser auf Bryce richtete. Noch als sie unterwegs waren, rief Curtis schon wieder auf dem Handy an: „Er atmet nicht mehr.“ Matt legte auf und trat aufs Gas.
Die Stelle, an der Bryce angehalten wurde, befindet sich mitten in einer vorstädtischen Wohngegend, eine asphaltierte Straße, ein gepflegter Vorgarten, dazwischen ein Gehweg. Als die Masters den Ort des Geschehens erreichten, sah es dort bereits aus wie an einem Tatort: Mehrere Polizisten hantierten hinter einem gelben Absperrband, Sanitäter hatten Bryce auf eine Bahre gelegt, bereit zum Abtransport. „Ihr verdammten Cowboys!“, brüllte Matt die Beamten an, von denen einer an das Polizeiauto gelehnt dastand. Timothy Runnels. „Er sah unheimlich zufrieden mit sich aus“, erinnert sich Stacy.
Während der Notarztwagen Bryce ins Centerpoint Medical Center brachte, blieb Matt am Tatort, um sicherzustellen, dass die Beamten keine Beweise unterdrückten. Stacy fuhr sofort in die Unfallklinik, wo Bryce an ein Beatmungsgerät angeschlossen worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass ihr Sohn sterben könnte. Hier auf der Intensivstation wurde ihr das nun ziemlich deutlich: Ärzte und Krankenschwestern schnitten Bryce’ Kleider herunter, sie legten Kühlelemente auf Kopf und Körper, um zu verhindern, dass sein Gehirn anschwoll. Um seine Nase herum hatte sich eine Kruste aus Blut und Schleim gebildet. Das Gesicht war geschwollen, Schmutz- und Asphaltstücke steckten in der Haut. Am schlimmsten aber war der Anblick seiner Arme und Beine. Denn Bryce zeigte akute Anzeichen einer sogenannten Dekortikationsstarre, ein Symptom schwerer Hirnschädigungen. Die Finger und Zehen hatten sich nach innen gekrampft, seine Arme waren in einem Winkel von beinahe 90 Grad gebeugt und deuteten auf seine Brust. „Klassische Anzeichen einer Schädigung des Gehirns“, sagte eine Schwester. Bryce’ Herz habe über Minuten stillgestanden.
Als Matt Masters die Intensivstation erreichte, war sein Sohn beim MRT-Scan. Die Ärzte machten klar, dass ein harter Kampf vor Bryce läge. Die Chance, aus dem Koma zu erwachen, betrage 50 Prozent. Und wenn er aufwache, sei der Verlust jeglicher höherer Hirnfunktionen sehr wahrscheinlich.

„Fahrer nicht kooperativ“: die Geschichte der Polizei

In den ersten Nachrichten über den Vorfall erzählte ein Pressesprecher der Polizei, dass es einen Haftbefehl gegen Bryce gegeben und er sich geweigert habe, den Beamten Folge zu leisten. Später hieß es, dass die Verwendung des Tasers „den Richtlinien der Polizei“ entsprochen habe. Am selben Abend setzte die Polizei noch einen Tweet ab: „Auto wegen ausstehenden Haftbefehls angehalten. Fahrer nicht kooperativ, wehrt sich, Taser kommt zum Einsatz, fortgesetzter Kampf. Krankenwagen gerufen (gemäß Vorschrift bei Tasereinsatz).“
Dutzende Besucher, auch viele von Matt Masters’ Polizeikollegen aus Kansas City, kamen ins Krankenhaus. Niemand wusste, was genau geschehen war, wie es zu Bryce’ extremen Verletzungen hatte kommen können. Erst am Abend gab der behandelnde Arzt seine Sicht der Dinge wieder: „Die Ursache für den Herzstillstand war der direkt auf das Herz gerichtete Taser.“
Matt Masters konnte es nicht glauben. Als Polizist glaubte er den Trainern des Unternehmens Taser, die auch ihn in der Anwendung der Geräte unterwiesen hatten. Sie hatten erklärt, dass durch Taser hervorgerufene Herzstillstände ein Märchen seien, das von Anwälten, Staatsanwälten und den Medien propagiert werde, um eine nützliche Waffe der Polizei in Misskredit zu bringen. In den nächsten zwei Tagen fiel Bryce’ Kerntemperatur auf 33,7 Grad Celsius.
Dann schaltete sich das FBI ein. Sie nahmen die Aussagen von Stacy und Matt auf, schossen Fotos von Bryce. Weder die Atemschläuche noch die Verbände durften gelöst werden, aber sie machten Bilder von seiner Brust. Als sie das Krankenhemd öffneten, sah man zwei leuchtend rote Male, die aussahen wie Insektenstiche. Eines der Male war auf der rechten, das andere auf der linken Seite. Der Taser schießt zwei Drähte bis zu zehn Meter weit, die sich durch Widerhaken in die Haut bohren und durch die der Strom fließt. Bei Bryce waren sie nur wenige Zentimeter entfernt vom Herz gelandet.
Ein paar Tage später veröffentlichte die Polizei von Independence Timothy Runnels’ Version des Vorfalls, und die Begründung schien sich geändert zu haben. Der Beamte sagte aus, dass der Wagen „dunkel getönte Scheiben“ gehabt habe und dass „ein Geruch von Marihuana aus dem Inneren des Wagens“ gekommen sei. Runnels behauptete, dass es im Zusammenhang mit dem Nummernschild des Wagens einen Haftbefehl gegeben habe. Matt Masters nahm an, dass Runnels, nachdem ihm klar geworden war, dass die Geschichte vom Haftbefehl allein nicht ausreichen würde, nach weiteren Rechtfertigungen suchte. Und weil Marihuanageruch eine schwer nachvollziehbare Angelegenheit ist, nutzen Beamte diese Begründung gern, um einen Anlass zu schaffen, wo keiner ist. „Polizisten machen das ständig“, sagt er.

„Mein Zähne waren irgendwie zerkrümelt“: das Erwachen

Vier Tage nach seiner Einlieferung machte Bryce die Augen auf. Noch war er völlig unbeweglich, das Beatmungsgerät blieb angeschlossen, aber er nahm Blickkontakt zu seinen Eltern auf. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber sein Schmerz war ein gutes Zeichen. Er war nicht nur am Leben – offenbar war er sich seiner Situation bewusst. Bryce kämpfte, seine Eltern weinten. Die Pfleger mussten seine Arme festbinden, weil er ständig nach dem Beatmungsschlauch griff, um ihn herauszureißen. Als er endlich davon befreit wurde, feierten alle Anwesenden. Bryce konnte allein atmen.
Wenn sich Bryce heute an diesen Moment erinnert, dann kommen ihm zuerst die starken Zahnschmerzen in den Sinn. „Mein Zähne waren irgendwie zerkrümelt.“ Als seine Eltern näher kamen, spuckte er Stücke davon aus. Mindestens drei Zähne waren in der Mitte gebrochen, andere stark angeschlagen. Sein Gesicht war so geschwollen gewesen, weil sein Kiefer ausgerenkt worden war, als er mit dem Gesicht voran auf den Bordstein schlug.
Ungefähr alle halbe Stunde vergaß Bryce, was mit ihm geschehen war. Er spürte, dass mit seinem Mund etwas nicht stimmte, und wandte sich an seine Eltern: „Was ist mit meinen Zähnen passiert?“, fragte er immer wieder. Jedes Mal versuchte Stacy, ihn sanft daran zu erinnern, dass er von einem Polizisten verletzt worden war. Dann schlief er ein wenig und vergaß es wieder – bis er in den Spiegel sah. „Wer hat mich so zugerichtet? Was habe ich getan?“
Vier Tage später verließ Bryce das Krankenhaus, die Pfleger und Ärzte konnten nicht glauben, dass er innerhalb von weniger als einer Woche wieder laufen konnte. Bryce selbst versuchte, darüber glücklich zu sein. Aber er fragte sich die ganze Zeit, was in der Zeit passiert war, in der sein Gehirn keinen Sauerstoff bekommen hatte. Welche Areale waren zerstört worden, wie würde sein Leben in Zukunft aussehen? Als er das Centerpoint Medical Center verließ, zog er das rechte Bein merklich nach.
In der Reha gab man Bryce einfache Aufgaben: Umrisse von Dingen zeichnen, Gegenstände festhalten, gehen, ohne zu humpeln, eine Geschichte zusammenfassen. All das, was früher ganz von selbst funktioniert hatte, erschöpfte ihn. Hinzu kam seine angeknackste Psyche: Wut, Frustration, Depression, Angst – all das konnte er nicht mehr ausreichend kontrollieren. Einmal schlug er mit der Faust ein Loch in eine Wand im Haus seiner Eltern. Manchmal, wenn seine Mutter ihn zu motivieren versuchte, schrie er sie an: „Warum zum Teufel lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“
Oftmals vergaß er das Erlebte über Nacht. Manchmal auch schneller. Er hatte schreckliche Kopfschmerzen, er hatte Schwierigkeiten zu schlafen – all das macht ihm bis heute zu schaffen. Auch seine Eltern hatten Angst, vor allem davor, dass sein Herz noch immer zu schwach war – oder dass er sich umbringen könnte.

„Du wirst nicht einfach so getasert“: die Zweifel des Vaters

Matt Masters, ganz pflichtbewusster Staatsbürger, fragte sich nach wie vor, warum er als Polizist und Nutzer des Tasers nie über dessen Risiken aufgeklärt worden war. Selbst Kollegen, die von tödlichen Unfällen gehört hatten, hielten sie für kuriose Einzelfälle, kaum wahrscheinlicher, als von einem Blitz getroffen zu werden. Matt begann, im Internet nach Todesfällen und Herzstillständen im Zusammenhang mit Tasern zu suchen, und fand die Studie eines Dr. Douglas Zipes, der eine ganze Reihe durch den Taser hervorgerufener Herzstillstände dokumentiert hatte. Zipes ist einer der renommiertesten Elektrophysiologen der Welt und wird bei Prozessen gegen Taser International regelmäßig in den Zeugenstand gerufen. In der Welt der Medizin schienen durch den Taser hervorgerufene Herzstillstände ein anerkanntes Phänomen zu sein. Ebenso bei Menschenrechtsorganisationen: Amnesty International schätzt, dass es sich bereits um 500 Fälle handeln dürfte. In der Datenbank von „Truth Not Tasers“ sind fast 1.000 Todesfälle aufgeführt.
Das FBI hatte den Masters versichert, dass Runnels weit über seine Befugnisse hinausgegangen war. In seiner Eigenschaft als Polizist fiel es Matt Masters dennoch schwer zu glauben, dass sein Sohn den Kollegen nicht provoziert hatte. „Du wirst nicht einfach so getasert.“ Das sahen wohl auch andere so. Wenn Bryce Menschen in der Stadt traf, begegneten sie ihm mit Misstrauen. Aus Medienberichten wusste man, dass sich Bryce einer legitimen Verhaftung hatte entziehen wollen und sein Auto nach Marihuana gerochen hatte. Die Frage, ob er nicht doch eine Mitschuld an seinen Verletzungen trug, stand ständig im Raum. Und das Schlimmste war: Er konnte sie nicht einmal selbst beantworten. Seine Erinnerungen an den Vorfall waren gelöscht. Das Einzige, was er hatte, war sein Bauchgefühl, das ihm sagte, dass er sich als Sohn eines Polizisten gegenüber den Vertretern des Gesetzes stets respektvoll verhalten hatte.
Die vagen polizeilichen Richtlinien zur Benutzung von Tasern, die relativ bedingungslose Erlaubnis zur Anwendung von Gewalt im Allgemeinen – beides machte eine Verurteilung von Tim Runnels recht unwahrscheinlich. Auch dass die Verhandlung vor einem großen Geschworenengericht stattfinden würde, sprach eher dagegen. Große Geschworenengerichte tendieren dazu, Beamte in umstrittenen Fällen von Gewaltanwendung freizusprechen. Doch das FBI und die Staatsanwaltschaft versicherten den Masters, dass die Videoaufnahmen von der sogenannten „dashboardcamera“ – einer Kamera auf dem Armaturenbrett des Polizeiwagens – eindeutig waren. „Mehr brauchen wir gar nicht“, sagte ein Beamter.
Als die Geschworenen die Anklage gegen Runnels evaluierten, erhielten auch die Masters endlich etwas mehr Einblick in die Ereignisse des 14. September. Insgesamt handelte es sich um vier Anklagepunkte, zwei betrafen die Strafvereitelung, die anderen beiden die Verletzung von Bürgerrechten. Laut Anklage hatte Runnels den Taser weiter verwendet, obwohl Bryce bereits am Boden lag und keine Bedrohung mehr darstellte. Dann habe er Bryce mit dem Gesicht voran zu Boden geworfen – endlich wussten die Masters, wie es zu den schweren Verletzungen gekommen war. Dennoch waren sie sich noch immer nicht bewusst über das Ausmaß der Gewalt. Die Anklage wegen Strafvereitelung bezog sich auf den irreführenden Polizeibericht. Allerdings teilte die Staatsanwaltschaft den Masters mit, dass die Richtlinien und Fallbeispiele zur Benutzung von Tasern in der Regel eine kaum beschränkte Anwendung legitimierten.
Wenig später meldete sich die Staatsanwaltschaft erneut und erklärte, dass eine Verständigung im Strafverfahren erreicht sei. Ein Urteil sei noch nicht gefallen, aber Runnels habe sich bereit erklärt, sich in einem der Anklagepunkte schuldig zu bekennen – Verletzung der Rechte eines Minderjährigen. Laut einer Pressemitteilung des FBI hatte Runnels „einen Minderjährigen seiner Rechte beraubt, indem er ihn absichtlich, mit dem Gesicht zuerst, zu Boden hatte fallen lassen, während dieser bereits fixiert war und keinerlei Bedrohung für Runnels oder Dritte dargestellt hatte.“ Ein Verhandlungstermin war nun für den 11. September 2015 festgesetzt – fast ein Jahr nach dem Vorfall.
Zwei Jahre? Drei Jahre? Die Masters sprachen darüber, welche Strafe Runnels bekommen würde. Stacy dachte: „Du lieber Gott. Er geht ins Gefängnis. Er geht ins Gefängnis.“

„Verdammte Scheiße, lass endlich den Abzug los“: das Video

An einem Freitag betraten Matt, Stacy und Bryce einen Verhandlungsraum im Gericht in der Innenstadt von Kansas City. Sie saßen auf der rechten Seite des Raumes, Familie und Freunde des Angeklagten auf der linken. Der Richter verlas die Anklage, Runnels machte sein Schuldeingeständnis. Die Anhörung dauerte knapp 30 Minuten und war für beide Seiten sehr aufwühlend. Dass es noch viel emotionaler werden würde, konnten sie nicht wissen.
Nachdem sich das Gericht zurückgezogen hatte, bat der stellvertretende Staatsanwalt alle in einen Konferenzraum. Matt, Stacy und Bryce saßen gemeinsam mit ihrem Anwalt Daniel Haus an einem ovalen Konferenztisch, dazu ein paar FBI-Beamte, ein Anwalt des Justizministeriums und der stellvertretende Staatsanwalt. Sie drückten auf Play.
Das Video begann mit einer Aufnahme der Armaturenbrett-Kamera. Die Straße, einige Bäume und Gehwege auf beiden Seiten. Es war hell draußen, in der Ferne konnten sie Bryce’ grauen Pontiac sehen, den Runnels mit einigem Abstand verfolgte. Zunächst war die Aufnahme ohne Ton. Sie hörten die Sirenen, die Runnels gleich darauf aktivierte, nicht, aber sie konnten sehen, wie der Pontiac langsamer wurde, an den Straßenrand fuhr und stehen blieb.
Dann gab es plötzlich Ton, die Tür des Polizeiwagens öffnete sich. Runnels ging zur Beifahrerseite. Die Masters konnten das Fenster nicht sehen, aber es wurde klar, dass Bryce es nach Runnels’ Ansicht nicht weit genug heruntergelassen hatte. Er bat Bryce, es vollständig herunterzulassen. „Ich kann Sie hören“, sagte Bryce.
Frustriert ging Runnels um die Rückseite des Autos herum zur Fahrerseite. Er öffnete die Tür, befahl Bryce auszusteigen. Bryce weigerte sich. Runnels zog den Taser aus dem Gürtelhalfter und richtete ihn auf Bryce, der immer wieder fragte, warum Runnels ihn angehalten hatte. „Ich habe nichts getan“, rief er. „Bin ich verhaftet? Bin ich verhaftet?“ Der Polizist schien sich die Sache mit dem Taser noch einmal zu überlegen, steckte ihn zurück in den Gürtel, griff in den Innenraum des Wagens und versuchte, Bryce herauszuziehen.
„Gib mir deine Hand, du bist verhaftet“, sagte Runnels.
„Aus welchem Grund?“
Runnels antwortete nicht darauf. „Beweg deinen Hintern da raus.“
Wieder weigerte sich Bryce. Runnels trat einen Schritt zurück, brachte sich in Schießposition und zog den Taser ein zweites Mal aus dem Halfter. Dieses Mal dachte er nicht noch einmal darüber nach. „Na gut, scheiß drauf“, sagte er, während er den Taser auf Bryce richtete und den Abzug betätigte. Das Klicken des Tasers setzte ein, dann pulsierende Tick-Geräusche, während die Elektrizität durch die Kupferdrähte in Bryce hineinfuhr.
Runnels packte Bryce’ Telefon, schmiss es vor das Auto und forderte ihn auf, sich auf den Boden zu legen. Wie ferngesteuert bewegte sich Bryce langsam aus dem Auto und legte sich zu Runnels’ Füßen auf den Boden. Noch immer war das Ticken des Tasers zu hören. Bryce schrie laut auf. „Ich hab’s dir gesagt“, sagte Runnels.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Masters keine Vorstellung davon gehabt, wie lange Bryce tatsächlich getasert worden war. Doch noch als er wehrlos auf der Straße lag, hielt Runnels das Gerät auf ihn gerichtet. Für Matt war das unerträglich. Er sprang im Konferenzraum auf und rief: „Was zur Hölle? Verdammte Scheiße, lass endlich den Abzug los!“
23 Sekunden nachdem er den Abzug des X26-Tasers betätigt hatte, ließ Runnels ihn los und legte Bryce Handschellen an. 23 Sekunden, in denen eine Spannung von 50.000 Volt auf Bryce Masters einwirkte.
Bryce bewegte sich nicht. Runnels forderte ihn auf, aufzustehen. Bryce bewegte sich nicht. Runnels packte ihn bei den Armen und zerrte ihn zum Straßenrand, wobei die Beine des Jungen zwischen seinen Füßen über den Asphalt schleiften. Erst am Straßenrand ließ er seine Arme los und ließ ihn mit dem Gesicht voran auf den Asphalt fallen. Ein lauter, dumpfer Aufschlag erfüllte den Raum, ein Knacken.
Man hörte Bryce stöhnen. „Du spielst nicht gern nach den Regeln, kann das sein?“, fragte Runnels. Auf dem Bildschirm konnten die Masters sehen, wie ihr Sohn krampfte, ein Zeichen für einen Herzstillstand. Runnels schien all das zu ignorieren, und ein Video, das ein Anwohner aufgenommen hatte, zeigte später, dass er seinen Fuß auf Bryce’ Rücken abgestellt hatte. „Du richtest dich jetzt besser auf“, sagte er. „Ich mache keinen Spaß.“

Bryce reagierte nicht.

„Ich bin schon Dutzende Male getasert worden“, sagte Runnels zu Bryce „So sieht das nicht aus.“

Ein weiterer Beamter erreichte den Tatort, und Runnels erklärte, dass es einen Haftbefehl im Zusammenhang mit diesem Nummernschild gab – angeblich der Grund für die Kontrolle. Der andere Beamte wandte sich an Bryce, der reglos dalag. „Wach auf, Junge“, sagte er. Dann zu Runnels: „Er wird blau.“

„Polizisten bauen Scheiße“: das Urteil

Stacy war erschüttert, als sie das Video sah: „Ich hatte das Gefühl, dass er sich sogar um ein verletztes Tier besser gekümmert hätte. Niemals werde ich darüber hinwegkommen, dass er seinen Fuß auf den Rücken meines Sohnes gestellt hat, während der im wahrsten Sinne des Wortes im Sterben lag. Ich glaube nicht, dass ich das jemals werde vergessen können.“
Sich selbst beim Sterben zuzusehen war hart für Bryce, gleichzeitig fühlte er sich endlich entlastet. Er hatte genau das getan, was seine Eltern ihm beigebracht hatten. „Nichts, was ich hätte tun können, hätte ihn aufhalten können. Ich habe nichts falsch gemacht.“
Sein Vater fühlte sich verraten. Das Video erschütterte jedes Vertrauen, dass er jemals in die Hüter des Gesetzes gehabt hatte. „Statt meinem Sohn Vertrauen zu schenken, habe ich auf die Tatsache vertraut, dass Runnels wie ich ein Polizist war – dass er professionell agierte und wusste, was er tat. Wenn ich dieses Video sehe, kann ich einfach nicht verstehen, wie man eines anderen Menschen Kind so behandeln kann.“
Zum Ende des Prozesstages, an dem Runnels’ Urteil verkündet werden sollte, trat Bryce vor das Gericht und stellte die Auswirkungen des Verbrechens auf sein Leben dar. Vom Zeugenstand aus wandte er sich an den Saal und beschrieb, welcher Dinge er beraubt worden war. Er erzählte von einer glücklichen Jugend, dem Leben eines jungen Mannes, der sich auf das letzte Jahr in der Basketballmannschaft seiner Schule freute und darauf, sich Colleges anzusehen. Obwohl er die Highschool nach dem Vorfall beenden konnte, konnte er keinen Sport mehr treiben. Auch seine Fähigkeit zu denken war extrem eingeschränkt, der Besuch eines Colleges eher unrealistisch. Viele Freunde habe er auch nicht mehr, die meisten hatten sich wegen seiner unvorhersehbaren emotionalen Reaktionen von ihm zurückgezogen.
Er wollte den Richter noch wissen lassen, dass er ein guter, ja ein starker Mensch war und dass er trotz allem, was er durchgemacht hatte, entschlossen war, das Beste aus seinem Leben zu machen. Dennoch war die Zukunft, die er einmal für sich gesehen hatte, nun unerreichbar geworden. „Die Leute sagen mir, dass ich anders bin“, gab er an das Publikum gewandt zu, „und sie haben recht.“

Nach fast 20 Jahren als Polizist war es Matt leicht gefallen, die Welt in gute und schlechte Menschen zu unterteilen. Heute schaut er öfter durch die Augen der Opfer. Obwohl er seinen Berufsstand immer noch schätzt, ist ihm bewusst geworden, dass einige Beamte greifbare Schäden im Leben von Menschen verursachen. „Polizisten bauen Scheiße. Polizisten treffen schlechte Entscheidungen. Und wenn sie das tun, dann gibt es da jemanden, den das unmittelbar betrifft.“
Wenn er seinen Sohn leiden sieht, dann sieht er heute eine Polizeikultur, die Gewalt allzu bereitwillig legitimiert, und ein Unternehmen, das gewieft genug ist, sich genau das zunutze zu machen. Matt sieht die Vorzüge von Tasern – in den richtigen Momenten. Aber er hat kein Vertrauen mehr zu dem Unternehmen, das sie verkauft. „Was weiß ein Beamter über seinen Taser?“, fragt er. „Nur das, was Taser International ihm darüber gesagt hat. Es macht mich krank, die Stellungnahmen von Taser zu hören“, fährt Matt fort. „Wir sind alle betrogen worden, verarscht von einem Unternehmen, das in der Zusammenarbeit mit Polizeibehörden Millionen und Abermillionen an Profit gemacht hat.“
Runnels mag ein schlechter Polizist gewesen sein, aber wenn man ihm nicht ein Gerät in die Hand gegeben hätte, das laut Taser International kaum tödlich sein konnte, dann wäre er wohl nicht in die Versuchung gekommen, einem Teenager einen elektrischen Schock zu versetzen. Bloß weil der wissen wollte, warum er festgenommen werden sollte.